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Gehorsam, Disziplin und Demut

2003 begann die Regisseurin Anca Lazarescu mit den Dreharbeiten für ihren preisgekrönten Dokumentarfilm "Das Geheimnis von Deva", in dem sie zwei junge Turnerinnen über drei Jahre begleitet. Raluca Haidu, eine ihrer Protagonisten, qualifizierte sich nun bei der Turn-WM in Tokio als beste rumänische Mehrkämpferin für das Finale. Lazarescu gelang ein seltener Einblick in eins der erfolgreichsten Turnsysteme der Welt.

Von Sandra Schmidt |
    Deva ist ein kleines Städtchen mit einer mittelalterlichen Burg in Siebenbürgen, aber Deva steht in Rumänien vor allem für eines: für die große Turntradition des Landes. Über Jahrzehnte kamen die Olympiasiegerinnen aus der legendären Übungsstätte unterhalb der Burg, von Nadia Comaneci bis zu Catalina Ponor.

    Auch Anca Lazarescu, in Rumänien geborene und in Deutschland lebende Filmregisseurin kannte Deva schon als Kind und träumte davon, selber dort zu turnen. Doch ihre Eltern hielten nichts vom Leistungssport. Als sich viele Jahre später während ihres Studiums in München die Chance ergab, eine Reportage in Rumänien zu drehen, stand das Thema für sie sofort fest: Deva. Dort öffnete man ihr die Türen, teilweise zumindest, denn Zugang zur Trainingshalle des Olympiakaders erhielt Lazarescu nur selten. So entschied sie sich für die Kleinsten:

    "Ich erinnere mich bis heute, dass ich im Training saß und meine Aufmerksamkeit die ganze Zeit an Pitic ging, also Raluca, weil sie irrsinnig witzig und komisch war und ständig was angestellt hat."

    Raluca, die wegen ihrer Größe von allen nur Pitic, der Zwerg, genannt wird, tanzt im Schlafsaal des Internats wild auf dem Etagenbett. Was sie mal werden möchte, wenn sie nicht Turnerin wird? Filmemacherin! Ich werde Filmemacherin! Sie legt sich eine Wasserflasche auf die Schulter und imitiert lachend die auf sie gerichtete Kamera. Malina, jetzt habe ich dich perfekt im Bild! Doch Fröhlichkeit und Unbeschwertheit weichen mit den Jahren in Deva, bei den älteren Mädchen des Olympiakaders hat Lazarescu nur sorgenvolle und bedrückte Gesichter gesehen:

    "Der Drill und der Druck vor allem, die sind immens. Irgendwann schaffen sie es, sich von dem Druck der Trainer zu befreien, aber es ist ganz häufig auch ein riesiger selbst auferlegter Druck, weil die ganze Umgebung, vor allem die Familie, die erwarten so unglaublich viel von ihnen."

    Auch die Trainer erwarten sehr viel - zum Beispiel Florin Cotitiu, in dieser Woche einer der betreuenden Trainer in Tokio. Hier in einer Trainingsszene im Film, in dem ein Mädchen immer wieder einen Handstand am Barren versucht:

    "Niemand zwingt Dich, Du kannst tun und lassen, was Du willst. Aber verschwinde aus diesem Raum, du dumme Kuh! ... Schaut sie euch an! Verschwinde sofort aus dieser Halle, sonst werfe ich Dich gegen die Wand!"

    Danach muss Pitic ans Gerät:

    "Also ich muss ganz ehrlich sagen, dass, ja, diese Szene ist natürlich so eine Art Höhepunkt im Film, allerdings ist sie gängiger Alltag und eigentlich auch noch der softere Alltag."

    Zum Alltag in Deva gehören nicht nur Drohungen und erniedrigende Beschimpfungen, sondern auch Schläge. Cotitiu, so berichtet die Regisseurin, habe ihr in vielen Gesprächen klar gemacht:

    "Schlagen ist einfach nun mal eine der Methoden, die dafür sorgen, dass sie Gehorsam und Disziplin erlernen und vor allem so eine Art Demut."

    Die jungen Mädchen stellen ihren Alltag nicht in Frage, sie kennen es nicht anders. Die Schläge werden zu einer Art Selbstverständlichkeit und sie finden ihren eigenen Weg, kindlichen Weg damit umzugehen:

    "Manchmal rühmen sie sich auch damit, wer die härteren Erziehungsmaßnahmen abbekommen hat und wem das Ohr mehr abgerissen wurde und mit was, ob's die Turnschuhe oder die Tasche war, mit der sie geschlagen worden sind. Sie müssen sich vorstellen, das waren Kinder und die haben dann auch gleichzeitig auch darüber gelacht."

    Doch derartige Erziehungsmaßnahmen kann man nicht isoliert sehen. Anca Lazarescu, geboren 1979, ist in Rumänien zur Grundschule gegangen. Sie hat selbst erlebt, wie die Lehrerin ab und zu ausgeteilt hat, mit der Hand oder mit dem Stock. Aus ihrer Sicht sind die Methoden mit jenen in Deutschland in den Fünfziger und Sechziger Jahren vergleichbar.

    Für die meisten Eltern der jungen Turnerinnen in Deva steht denn auch etwas anderes im Mittelpunkt:

    "Die Eltern haben mir immer gesagt, ja, aber am Ende zählt die Medaille, also wenn mein Kind die Medaille nach Hause bringt, dann ist es mir so ein bisschen wurscht, was sie machen."# #

    Häufig sind es Eltern mit sozialen Schwierigkeiten. Pitics Vater, ein Bergarbeiter, berichtet im Film, wie schwierig es für ihn ist, die Kosten für das Internat aufzubringen. Die Eltern investieren in ihr Kind. Mit der Aufnahme in den Olympiakader wird ein Stipendium ausgezahlt und von Preisgeldern dürfen die Mädchen einen wenn auch kleinen Anteil behalten. So sichert eine erfolgreiche Turnerin finanziell die Existenz der ganzen Familie, manchmal auch die der Verwandtschaft.

    Aber auch Rumänien verändert sich, die Attraktivität Devas sinkt, es gibt immer weniger Eltern, die hier die Zukunft ihrer Töchter sehen:

    "Zu Ceaucescus Zeiten war es ja geradezu eine Ehre, sein Kind in Deva angenommen zu haben. Da haben sie aus tausend Kindern mal zehn ausgewählt, mittlerweile sind sie froh um die zehn Kinder, die da kommen."

    Pitic wusste schon 2003, damals acht Jahre alt, ganz genau was sie will: Wie kommt man in den Olympiakader? Ich weiß es. Und? Mit Arbeit. Hast Du dann noch Zeit mit Deinen Freundinnen zu spielen. Nein. Und das willst Du? Ja. Sicher? Ja!

    Über die Jahre hat Lazarescu Pitic immer wieder nach ihrem größten Traum gefragt und die Antwort lautete stets: London 2012. Im vergangenen Jahr gewann sie bei der Europameisterschaft zwei Bronzemedaillen und stand zum ersten Mal im WM-Team Rumäniens. Ob sie wohl glücklich ist?

    "Ich glaube, dass sie einfach denken, dass Glück einfach nicht mehr so wirklich dazu gehört, bzw. Glück bedeutet einfach, diese Erfolge zu haben, beziehungsweise Unglück, an diese Erfolge nicht anknüpfen zu können."

    Pitic wurde in Tokio Vierte mit der rumänischen Mannschaft, im Mehrkampf belegte sie am Donnerstag den 18. Platz, ihre Aussichten auf eine Teilnahme bei den Olympischen Spielen im kommenden Jahr sind gut.