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"Geisterfahrer"
Das neue Album von John Matthias

Er ist Geiger, Gitarrist, Pianist, Sänger und Physiker: John Matthias, der beharrlich gegen den Mainstream schwimmt. Sein neues Album, das in einem Schulgebäude im Dartmoor entstand, überrascht durch elektronische Verfremdungseffekte und Texturen.

Von Florian Werner | 14.04.2014
    Blick auf das Gefängnis in Dartmoor in der englischen Grafschaft Devon. (Aufnahme vom 15.6.1993).
    In einem Örtchen im Dartmoor entstehen John Matthias' eigenwillige Pop-Produktionen. (Barry Batchelor / dpa)
    Nebel. Einsamkeit. Schafe. Hin und wieder ein entflohener Sträfling, außerdem ein geisterhafter Hund, der degenerierte Adlige übers Moor hetzt: Das sind vermutlich die Klischees, die einem beim Wort Dartmoor in den Sinn kommen. Was nur die wenigsten wissen: In Ashburton, einem Örtchen am südlichen Rande des Moors, entstehen seit Jahren einige der eigenwilligsten Pop-Produktionen der Britischen Inseln.
    John Matthias ist Geiger, Gitarrist, Pianist, Sänger, Songwriter und promovierter Physiker. Er spielte mit Bands wie Radiohead, wurde von deren Sänger Thom Yorke geremixt, seine beiden ersten Alben wurden von den Elektronik-Legenden Matthew Herbert und Coldcut produziert. Nun ist gerade sein neues Album, Geisterfahrer, erschienen − und klingt überraschend anders.
    "Ich wollte die Platte unbedingt in einem ganz bestimmten Raum aufnehmen, in einem 600 Jahre alten Schulgebäude. Als wir in die Schule kamen, waren wir sofort von der Akustik in der Aula begeistert, und wir wollten diesen Klang auch auf der Aufnahme beibehalten. Ich wollte für die ganze Platte einen sehr schlichten, aber gleichzeitig warmen Sound. In dem Gebäude ist auch eine Tagesstätte für Kinder untergebracht − auf dem Stück 'Burning Mouth' ist im Hintergrund ihr Geschrei zu hören."
    Luftiger Sound
    Das Schulgebäude ist gerade mal 100 Meter entfernt von Matthias' eigenem Häuschen, dessen Erdgeschoss er komplett zum Tonstudio ausgebaut hat. Für den luftigen Sound des neuen Albums war es aber einfach zu klein:
    "Die Produzenten des Albums, Jay Auburn und Simon Honywill, haben die ganze Schule mit Mikrophonen bestückt: Es gab Mikrophone, die ganz nah an mir dran waren, andere waren ein paar Meter entfernt, andere zehn oder zwanzig Meter, sogar im Büro des Schulleiters standen welche. Wir haben die Songs mit all diesen Mikrophonen aufgenommen. Beim Mischen des Albums ging es also nicht so sehr darum, nachträglich Spuren hinzuzufügen, sondern darum, aus diesen ganzen verschiedenen Aufnahmen auszuwählen."
    Obwohl das Album quasi live aufgenommen wurde, überrascht es immer wieder durch elektronische Verfremdungseffekte und Texturen: Als Physiker beschäftigt sich John Matthias seit Jahren mit der Frage, wie sich die neuronalen Abläufe in unserem Gehirn auf musikalische Strukturen übertragen lassen. Der sogenannte ‚neuronale Sampler', den er dafür an der Universität Plymouth entwickelt hat, kommt auch auf Geisterfahrer zum Einsatz:
    "Im Computer ist ein künstliches neuronales Netzwerk: Es besteht aus einzelnen Zellen, keinen echten, sondern mathematischen Zellen. Jede Zelle hat eine bestimmte Oberflächenspannung, und wenn diese einen kritischen Wert übersteigt, feuert die Zelle und sendet ein Signal an alle anderen Zellen, mit denen sie verbunden ist. Dabei spielt sie einen Klangschnipsel von einer Zehntel- bis zu einer halben Sekunde Länge. Das musikalische Muster, das man hört, entsteht also durch das Feuern der Nervenzellen – aber die Klangschnipsel stammen alle aus der Live-Aufnahme, die man in den Computer einspeist."
    Wider den musikalischen Mainstream
    Mit solchen Produktionsmethoden schwimmt oder besser: fährt John Matthias beharrlich gegen den musikalischen Mainstream. Geisterfahrer ist daher ein passender Titel für dieses schöne, sperrige Album. Und: Er zeigt, dass nicht nur die Deutschen Klischees über die Bewohner des Dartmoors pflegen – sondern auch umgekehrt:
    "Meine Schwester lebt in München, und sie hat mir erzählt, dass im Radio andauernd von Geisterfahrern die Rede ist. Ich konnte das erst gar nicht glauben: Unser stereotypes Bild von euch Deutschen ist ja, dass ihr alle unglaublich organisiert und tüchtig seid, ihr habt so eine erstaunliche Wirtschaftskraft und einen hohen Lebensstandard − dass ihr ein eigenes Wort für Menschen habt, die, warum auch immer, auf der Straße in die falsche Richtung fahren, fand ich einfach unvorstellbar."