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Geisterjagd in der Taiga

Physik. - Man sieht sie nicht, man hört sie nicht, man fühlt sie nicht. Jeder Mensch wird in einer einzigen Sekunde von mehr als 100 000 Milliarden Neutrinos aus dem Weltall durchquert. Es sind die flüchtigsten Elementarteilchen des Universums. Im Durchschnitt bleibt nur einmal im Leben eines von ihnen im Körper hängen. Dementsprechend schwer ist es, diese Teilchen nachzuweisen. Physiker versuchen es trotzdem: Im sibirischen Baikalsee betreiben sie ein Unterwasserteleskop für die Geisterteilchen.

Von Max Rauner | 15.05.2008
    Baustellenlärm auf dem Baikalsee. Männer in roten Thermoanzügen fräsen Löcher ins Eis. In der Nacht waren es minus 20 Grad, nun wärmt von oben wenigstens die Sonne. Am Morgen sind die Männer mit einem klapprigen Kleinbus vier Kilometer aufs Eis gefahren. Das Eis ist hier einen Meter dick, darunter 1,4 Kilometer Wasser. Rostige Kräne lassen Stahlseile durch die Eislöcher in die Tiefe. Kostya Konischev, ein Physiker vom Kernforschungszentrum Dubna, befestigt an einem der Seile eine Glaskugel mit Elektronik. Diese Glaskugeln sollen die Leuchtspuren der Neutrinos aufzeichnen. Konischev:

    "Wir suchen nach Tscherenkow-Licht, das geladene Elementarteilchen aussenden, wenn sie durch das Wasser fliegen. Wenn ein Teilchen von unten nach oben fliegt, wissen wir, dass es beim Zusammenstoß von einem Neutrino und einem Wassermolekül erzeugt wurde. Denn nur Neutrinos können die Erde durchqueren. Dann zeichnen wir auf der Himmelskarte einen Punkt ein und können sagen, aus welcher Richtung es gekommen ist. Wenn wir mehr Teilchen detektieren, können wir eines Tages sogar nach einzelnen Neutrinoquellen im Universum suchen."

    Die Messgeräte werden einen Kilometer tief ins Wasser gelassen und bleiben dort das ganze Jahr über. In einer Blockhütte am Ufer sitzt Christian Spiering vom deutschen Forschungszentrum Desy. Er ist für eine Woche zu Besuch, um mit seinen Kollegen neue Forschungsergebnisse zu diskutieren. Spiering hat das Neutrinoteleskopschon zu DDR-Zeiten mit aufgebaut:

    "Die Situation wurde ja nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion rapide schlimmer. Von Jahr zu Jahr ein regelrechter Absturz. Das war über einige Jahre so, dass das Experiment ohne unsere Hilfe aus Deutschland einfach nicht mehr weiter gegangen wäre. Das ging soweit, dass wir zu den Winterexpeditionen hier mit so etwa 20 großen Kästen, wie die gelben Kästen, die Sie da draußen sehen, sind wir hier angereist. Da waren bloß keine technischen Sachen drin, da waren Lebensmittel drin. Schlicht und einfach Wurst, Butter, Schokolade, Vitamine."

    Heute mangelt es nur noch am Komfort, zum Beispiel an einer Heizung auf dem Plumpsklo. Die wissenschaftlichen Resultate jedoch werden weltweit anerkannt. 1996 gelang es am Baikalsee zum ersten Mal, mit einem Unterwasserteleskop Neutrinos nachzuweisen. Nach diesem Vorbild wurden noch größere Teleskope im Mittelmeer und im Eis des Südpols versenkt. Alle zusammen haben bisher einige tausend Neutrinos registriert. Allerdings verteilen sich diese gleichmäßig über die Himmelskarte. Die meisten stammen aus der Erdatmosphäre, wo sie durch den Zusammenprall von Protonen aus dem Kosmos mit Luftmolekülen entstanden sind. Interessanter für die Forschung wären Neutrinos aus Sternexplosionen. Doch von solchen Ereignissen fehlt bislang jede Spur. Spiering:

    "Die Tatsache, dass wir nichts gesehen haben, für sich genommen ist auch schon ein Erkenntnisgewinn. Denn es gab einige Leute, die uns gesagt haben: Ihr könnt was sehen mit dem Detektor, sonst hätten wir ihn ja nicht gebaut. Und deren Modelle, die wie wir heute wissen zu optimistisch waren, können wir wenigstens ausschließen."

    Am Nachmittag fährt Christian Spiering ein letztes Mal aufs Eis. Er wird sich in Zukunft ganz auf das große Neutrino-Teleskop am Südpol konzentrieren, und er hofft, damit bald eine Sternexplosion zu entdecken. Wenn seine russischen Kollegen international konkurrenzfähig bleiben wollen, müssen sie die Empfindlichkeit ihres Teleskops erhöhen. Pläne dafür gibt es schon. In zehn Jahren soll das Teleskop 100 Mal größer sein als heute. Woher das Geld dafür kommen soll, ist ungewiss. Trotzdem lässt Kolja Budnev von der Universität Irkutsk schon mal ein neues Test-Gerät ins Wasser. An der Motivation soll es jedenfalls nicht mangeln. Budnev:

    "”Einerseits ist das hier eine verdammt harte Arbeit. Zwei Monate auf dem Eis, das hält nicht jeder aus. Aber unter uns Physikern gibt es ein paar ziemlich ungewöhnliche Leute. Es geht nicht ums Geld – das Gehalt ist sehr niedrig. Uns trägt der Geist des Baikalsees.""