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Geistesblitze wie aus der Schnellfeuerwaffe

Als Medientheoretiker ist Friedrich Kittler eine Legende. Sein Nachlass zeigt warum: Mit peinlicher Genauigkeit beschreibt er, wie die Literatur durch Technik beeinflusst wird. Leicht macht er es seinen Lesern dabei nicht, aber das gehört eben zu seiner Genialität dazu.

Von Frank Hertweck | 20.10.2013
    Bücher haben ihre Schicksale. Aber sie machen auch welche. Ganz besonders die Werke des Medienphilosophen Friedrich Kittler. Sie haben Geschichte gemacht und Geschichten, Biografien.

    Anfang, Mitte der 80er Jahre - damals war der Marxismus zumindest in seinen parteipolitischen Ausprägungen ziemlich abgewirtschaftet. Man konnte das "Kapital" von Karl Marx lesen mit der gefühlt 100. Auflage von Wolfgang Fritz Haugs "Vorlesung zur Einführung ins Kapital" an der Hand, aber man las nicht länger die Theorie zu einer irgendwie revolutionären Praxis, sondern einfach ein Buch.

    1981 erschien Jürgen Habermas' "Theorie des Kommunikativen Handelns". Das war so ungefähr das, was vom Marxismus der Frankfurter Schule noch übrig geblieben war, ein Werk, das eine Gesellschafts- in eine Sprachtheorie verwandelt hat, weil ihr die Geschichtsphilosophie abhandengekommen war. Jetzt musste der Sprechakt leisten, was früher der Weltgeist abgesichert hatte: Irgendetwas in unserer rauen Wirklichkeit hatte über sie hinauszuweisen hin in eine bessere und mögliche Zukunft. Nur mit solch einem Maßstab konnte man zeigen, es läuft etwas schief, ohne als naiver Utopist verschrien zu werden.

    Die Lösung von Jürgen Habermas war eine Art Unterstellung: Jeder der im Gespräch argumentiert, behauptet eine Begründungsnotwendigkeit, die auch für das Gegenüber gelten muss. Wer redet, begründet. Das ist die Idee. Oder in den Worten von Habermas:

    "Wenn die Argumentation nur offen genug geführt und lange genug fortgesetzt werden könnte," dann kann "grundsätzlich ein rational motiviertes Einverständnis erzielt werden".

    Ein offenes und unendliches Gespräch, und dann würde man sich einigen? Das klang seltsam steril, aseptisch und war längst durch manche lange Redenacht widerlegt. Am Ende hatte der recht, der durchhielt. Kurz: Viel Zeit ist kein Faktor der Wahrheitsfindung. Man überzeugt seinen Gegner nicht, man ermüdet ihn. Habermas bekam Gegenwind.

    Anfang der 80er stand der Zeitgeist nicht auf Vernunft, sondern auf Gefühl, auf Innerlichkeit. 1977 und '78 waren im Roten Stern Verlag die beiden wild bebilderten Bände der "Männerfantasien" von Klaus Theweleit erschienen. Sie waren ziemlich aufregend, aber sie hatten eine ganz neue Stoßrichtung: Bekämpfe den faschistischen Mann in Dir, bevor Du das böse Kapital bekämpfst.
    In Theweleits Buch tauchte zum ersten Mal das auf, was dann unter dem Etikett "Poststrukturalismus" lief, nämlich der "Anti-Ödipus" von Gilles Deleuze und Felix Guattari, im Taschenbuch erschienen 1979. Und darin gab es Zitate wie diese:

    "Es gibt nur eine Produktion, die des Realen."

    Uuups. Das war ein Hammersatz. Der "Anti-Ödipus" entwickelte die einleuchtende Fragestellung, wenn das Proletariat erniedrigt und beleidigt wird, warum wehrt es sich dann nicht. Die schlagende Antwort: nicht weil es manipuliert wird oder ähnliches, sondern weil es seine Unterdrückung will. Geradezu verzweifelt bemühte man sich damals um theoretische Synthesen von Gesellschaft und Individuum, von marxistischer Kritik und Psychoanalyse.

    Aber dann kam noch ein Buch aus Frankreich, im Taschenbuch 1983. Jacques Derridas, "Grammatologie". Und aus war`s mit der Synthese. Auch daraus ein Satz:

    "Die Rationalität beginnt mit der Destruierung und, wenn nicht der Zerschlagung, so doch der De-Sedimentisierung, der Dekonstruktion aller Bedeutungen, deren Ursprung in der Bedeutung des Logos liegt."

    Auch nicht schlecht. Heißt auf Deutsch so viel wie: mit den Mitteln der Vernunft die Vernunft interpretieren, bis einem Hören und Sehen vergeht, sodass alles, was einem gerade noch sicher erschien, nichtig wird.

    Jetzt war es um die Synthese geschehen, dachte man, aber da leuchtete schon wieder eine neue am Horizont auf, wieder dank eines Denkers aus Frankreich. Er hieß Michel Foucault, seine umwerfenden Geschichtswerke "Überwachen und Strafen" und "Die Ordnung der Dinge". Dieses nannte sich im Untertitel eine "Archäologie der Humanwissenschaften" und lotete aus, was in einer geschichtlichen Epoche gedacht und gewusst werden konnte und damit auch, was nicht, jenes erzählte "Die Geburt des Gefängnisses" und entwarf eine sehr weitreichende Geschichte der Macht.
    Ein berühmter Satz:

    "Der Mensch ist eine Erfindung, deren junges Datum die Archäologie unsers Denkens ganz offen zeigt. Vielleicht auch das baldige Ende."

    Und nun zum letzten Buch, wieder ist es bei Suhrkamp erschienen, wieder in der unglaublich einflussreichen Wissenschaftsreihe, Jacques Lacan, Schriften 1. Dort heißt es zum Beispiel:

    "Das Unbewußte ist der Teil des konkreten Diskurses als eines überindividuellen, der dem Subjekt bei der Wiederherstellung der Kontinuität seines bewußten Diskurses nicht zur Verfügung steht."

    So klang das, Anfang der 80er Jahre, in Freiburg, an der Albert Ludwig-Universität. Und es gab ein Gerücht, da ist einer, der solche Sätze versteht und erklären kann. Nicht im historischen Seminar, nicht bei den Philosophen, sondern bei den Germanisten, die traditionellerweise alles dürfen. Sein Name: Friedrich Kittler. Einführung in den Poststrukturalismus, hieß das Seminar oder so ähnlich. Was man lernen durfte: Das meiste, was aus Frankreich kam, hatte seinen Ursprung in Deutschland oder Österreich: kein Foucault, kein Derrida, kein Lacan ohne Nietzsche, Freud und vor allem Heidegger.

    Von Freiburg über Paris nach Freiburg, das hatte schon wieder etwas Mystisches.
    Und: das Modelabel Poststrukturalismus verwischte die enormen Unterschiede, die es zwischen den einzelnen Denkern gab. Jacques Derrida war der Philosoph, der mit seinem fragenden Gestus aus einem Text viele Texte machte, Michel Foucault der Historiker, der genau den umgekehrten Weg ging, aus vielen Texten wurde einer, nämlich der Diskurs, das Programm, sozusagen die Bedingung der Möglichkeit der vielen individuelle Texte einer Wissensepoche.

    Deleuze/Guattaris "Anti-Ödipus" bedeutete einfach Spaß, Theorie-DADA, Anarchie. "Es atmet, wärmt, ißt. Es scheißt, es fickt" so begannen theoretische Werke in den 70ern. "Fröhliche Wissenschaft" nannte man das mit Nietzsche.

    Jacques Lacan, wiederum theoretischer Gegner von Gilles Deleuze und Felix Guattari, war schier unverständlich. "Das Unbewußte ist wie eine Sprache strukturiert.", so lautete der Schlüssel seines Denkens. Psychoanalyse und Linguistik verschwisterten sich in seinem Werk. Und plötzlich war es erlaubt, die Dramaturgie eines Textes zu verstehen, ohne den Autor in einen Neurotiker zu verwandeln, den der Interpret als Analytiker auf die Couch legt. Man analysierte nicht länger die Familienkomplexe des Autors, sondern diejenigen, die sich im literarischen Werk aus-, um- und abbildeten.

    Vergleicht man die Einflüsse auf Kittler, dann ist der von Gilles Deleuze, Felix Guattari und Jacques Derrida eher gering. Lacan spielt im Frühwerk eine enorme Rolle, später wird er eher ein steiler, immer zur Provokation tauglicher Zitatenlieferant. Dominierend selbst in der zunehmenden Abgrenzung bleibt Michel Foucault, nicht verwunderlich, Kittler denkt ebenfalls radikal geschichtlich in Brüchen. Nichts bleibt in der Geschichte sich selbst gleich. Nicht einmal der Mensch.

    Aber das eigentlich Aufregende an Kittler, das was ihn zur Berühmtheit gemacht hat, war die "Frage nach der Technik." Man kannte Karl Marx, die Produktivkräfte, die die Produktionsverhältnisse umwälzen. Man kannte Walter Benjamins einflussreichen und geradezu kanonischen Text: "Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit", aber was Friedrich Kittler mit dem Verhältnis von Technik und Literatur anstellte, das war Zauberei. Der Medienphilosoph Marshall McLuhan und der große Unbekannte der amerikanischen Literatur Thomas Pynchon, also "Understanding Media" und die "Enden der Parabel" bildeten gleichsam den entscheidenden Schlussstein im Denken von Friedrich Kittler. Technik, das war für ihn keine Metapher. Eine Vorlesung über "Radio" begann mit dem Unterschied von Amplitudenmodulation und Frequenzmodulation und führte so nebenbei zu Jim Morrisons "Doors" und "Riders on the Storm".

    Die Aura der Seminare war enorm. Man fühlte, man hat es mit einem Genie zu tun. Jeder seiner Gedanken war anders, als man ihn je selbst hätte denken können. Klar war, es gibt keine heißere Germanistik in Deutschland. Man sprach und schrieb Kittlerdeutsch: "selbstredend, klar, Klartext, nüchtern, nicht umsonst." Freiburg war Avantgarde. Kittler war im besten Sinne unerhört. Welche hitzigen Auseinandersetzungen es um seine Habilitationsschrift "Aufschreibesysteme 1800/1900" gab, die scharfen internen Debatten, das alles kann man heute wunderbar nachlesen.

    Und vielleicht ist dieses Buch bis heute sein schönstes geblieben, argumentativ stark und vor allem ausführlich, geduldig und nicht, wie viele der Essays und Aufsätze, extrem verknappt. Es erzählt von den familiären Ursprüngen der romantischen und klassischen Dichtung, davon, dass die Mütter in der modernen Kernfamilie die Erziehung übernehmen, dass sie die Söhne sprechen lehren, die dann in ihrer Literatur davon nur versteckt berichten, nämlich als ein dichterisches Erlauschen der Natur. Neu war: Kittler las Erziehungsbücher, Unterrichtstexte, Schönschreibvorschriften gleichsam als Anleitungen für werdende Dichter, die man nur wahrnehmen musste und nicht ignorieren, wie es die Germanistik bisher getan hatte. Alles stand schon irgendwo. Das meinte Kittler mit Klartext.

    Das Aufschreibesystem 1900 hatte eine offensichtlich technische Ausgangslage. Film, Grammofon, Schreibmaschine waren gerade erfunden. Jetzt musste die Literatur das nicht mehr leisten, was sie um 1800 noch wie selbstverständlich getan hatte: eine vollständige Fantasiewelt erfinden. Die Vision übernahm der Film viel genauer, so wie das Grammofon die Töne der Wirklichkeit viel präziser speicherte. Literatur wurde, so Kittler, auf ihre eigene Buchstäblichkeit zurückgeworfen. Sie wurde Avantgarde. In Zukunft existierte ein Unterschied zwischen sogenannter E- und U-Literatur. Sehr ernst, das waren in Frankreich Stéphane Mallarmée, in Deutschland Stefan George, der eigene Buchstaben für seine Lyrik erfand. Und da der Krieg für Kittler gegen manche historische Einsicht der Motor dieser technischen Entwicklung war, unterstrichen die Kittlerschüler in allen literarischen Werken fortan alles, was mit Krieg und Medien zu tun hatte.

    Am 18. Oktober 2012 ist Friedrich Kittler gestorben. Selten waren Nachrufe auf einen Wissenschaftler pathetischer, persönlicher, emotionaler, sentimentaler. Jetzt hat der Suhrkamp Verlag in eben seiner legendären Wissenschaftsreihe einen Band mit Aufsätzen von Friedrich Kittler veröffentlicht. Titel: Die Wahrheit der technischen Welt. Herausgeber ist Hans Ulrich Gumbrecht, der ihn lange kannte, ohne je seinem Denken zu verfallen. Sein Nachwort ist behutsam, von freundschaftlicher Zuneigung,
    Allenfalls spürt man eine Distanzierung vom obsessiven-apokalyptischen Gestus, den Kittler manchmal pflegte und der dem erprobenden und zugewandten Denkstil Gumbrechts eher fremd ist.

    "Die Auswahl von Hans Ulrich Gumbrecht ist repräsentativ. Sie gliedert das Werk, wie heute meist üblich, in drei Phasen, eine frühe, in der Familie und Diskurse die große Rolle spielen, dann die Zeit der Technik, die auch eine des Krieges ist, und schließlich die Hinwendung zu den alten Griechen."

    Liest man die Aufsätze hintereinander weg, der älteste ist von 1978, der jüngste von 2010, dann fällt einem die unglaubliche Stringenz in seinem Schaffen auf. Ob Familie, Medien, oder wie im Spätwerk die Griechen, alles bleibt doch irgendwie kittlerhaft. Auch die griechische Antike wird technisch beschrieben, damals war der Speicher eben das Alphabet. Zwei der schönsten Texte finden sich im ersten Teil "Emergenz einer historischen Sensibilität": sie heißen "Lullaby of Birdland", eine kanonische Lektüre von Goethes "Wanderers Nachtlied", nach der "Über allen Gipfeln" ein Wiegenlied ist, der Mutter abgelauscht, bevor Sprache wieder im Schlafe versinkt, und, fast ebenso kanonisch für das, was Kittler auszeichnet, "Der Gott der Ohren", eine medientechnische Lesart von Pink Floyds "Brain damage" von der millionenfach verkauften LP "Dark side oft the moon". Nach ihr wandert der Wahnsinn durch mono, Stereo und Quadrophonie von außen in unsere Köpfe. "The lunatic is in my head."

    Was auffällt, heute mehr als früher, ist die große Hermetik, die fehlende Bereitschaft, auch nur irgendwelche Einstiege zu erleichtern. Methodik ist Kittlers Sache nicht. Wie genau Technik auf Literatur wirkt, wird nie abstrakt geklärt, sondern immer konkret erzählt. Die Essays scheinen wie aus einem großen Gedankenstrom herausgeschnitten, sie sind anspielungsreich. Alles ist so weitläufig assoziativ, alles hängt so sehr mit allem zusammen, dass man das Gefühl bekommt, es bräuchte einen größeren Rahmen als nur einen Aufsatz, um solch ein Beschreibungsnetz zusammenzuhalten.
    Darum gibt es den sehr klugen Hinweis von Hans Ulrich Gumbrecht, am Ende jeder "Denketappe" Friedrich Kittler stehe ein Buch.

    Im zweiten Teil "Kulturgeschichte als Mediengeschichte" gibt es die beeindruckende Interpretation von Novalis "Heinrich von Ofterdingen", ein Schlüsseltext im Werk Friedrich Kittlers, weil er davon ausgeht, dass Wahnsinn die Wahrheit einer Epoche ausspricht, und wo steckt mehr Verrücktheit als in den literarischen Texten der Romantik?

    Dann Richard Wagner, Thomas Pynchon, die Rolling Stones, die Beatles, Jimi Hendrix im Kittler-Klassiker: "Rock Musik – ein Missbrauch von Heeresgerät." usw. Das sind zeitlose Texte. Manche sind einem fremd geworden, vor allem die im strengen Sinne technischen Texte, man mag die anarchistische Kritik Kittlers an IBM oder Microsoft, die den Programmiererzugriff auf die Basiscodes ihrer Computer und Programme blockieren, Apple tut bis heute nichts anderes. Man liest vom "Signal-Rausch-Abstand", den Friedrich Kittler mathematisch ambitioniert einer illustren Runde von Geisteswissenschaftlern vorgetragen hat, und wäre gerne dabei gewesen, um deren Reaktionen zu sehen. Nachdem die Germanisten gerade Mediengeschichte gelernt und zu schreiben begonnen hatten, provozierte Kittler mit Fourieranalyse und Claude Shannons Informationsbestimmung.

    Man wundert sich heute mehr als damals, dass er der technokratischen Weißwäscherei des nationalsozialistischen Rüstungsministers Albert Speer nach dem Krieg auf den Leim geht, der das 3. Reich als Technodiktatur beschreibt, in der nur einer das Sagen habe, nämlich der da ganz oben und alle darunter, und damit auch Speer, gar nichts.

    Der dritte Teil heißt: Griechenland als seinsgeschichtlicher Ursprung. Kittler reiht sich ein in eine deutsche Sehnsuchtstradition, in der die Deutschen als die besseren Griechen gelten. Das Buch endet mit den elegischen, fast sentimentalen Texten zu den alten Griechen, mit dem Gedanken, dass das erste Vokalalphabet, das griechische, gleichursprünglich ist, mit Homers "Odyssee" und dem Hexameter, in dem sie geschrieben wurde, ja mehr noch, der sie zusammenhält. Poesie ist aller Technik Anfang. Ob dieser Gedanke richtig ist, ist sehr kompliziert zu beweisen, er unterstellt eine extreme Frühdatierung des Epos, aber er ist schön. Vielleicht war Friedrich Kittler darum von ihm so begeistert.

    Es sind wehmütige Texte, voller persönlicher Hinweise, eine noch entschiedenere Hinwendung zu Martin Heidegger findet in ihnen statt, aber auch hier gilt, fast muss man sein spätes "opus magnum" lesen, die Teilbände von "Musik und Mathematik", die 2006 und 2009 erschienen sind und beeindruckende, pulsierende, manchmal aufgeregte, aber auch überwältigende Interpretationen von Homer über die Vorsokratiker hin zu Aristoteles bieten. Ganz wahrer deutscher Professor ist es eine Verfallsgeschichte, die Kittler erzählt. Der Historiker führt aus, was bei Martin Heidegger philosophische Setzung war. Die Seinsvergessenheit, die Heidegger am Werke sieht, verwandelt sich bei Kittler in die Diagnose der Liebesvergessenheit.

    "Seit Sokrates wissen wir nicht mehr die Liebe, sondern lieben das Wissen."

    So sein Fazit. Und er schrieb sich zurück in die Zeiten der Liebe. Darin war er dann doch ein Hippie. Vielleicht lag`s an John Coltrane, an Jimi Hendrix, an Pink Floyd, die kleine Form, die Single sozusagen, ist nicht wirklich Kittlers Ding, er denkt mindestens in LP Länge. Solch eine Einschränkung muss man bei diesem Band mit Aufsätzen, also Singles, in Kauf nehmen.
    Kittler ist längst zu einem Klassiker geworden, unvollendet. Sein geplantes Spätwerk "Musik und Mathematik" war auf mindestens vier Bände konzipiert. Aber sein Werk ist auch gleichzeitig vollendet. Es ist von großer Einheitlichkeit. Es gibt keine Brüche, allenfalls Tieferlegungen. Schon "Der Gott der Ohren" aus dem Jahr 1982 hebt an:

    "Die Griechen hatten einen Gott, der im Akustischen hauste. Wenn die Hirten träumten und die Stille des Mittags sich überschlug, dröhnte plötzlich Pan in den Ohren."

    Und mit dem Auftakt in der griechischen, vorklassischen Antike sind die geschichtlichen Ursprünge freigelegt. Kittler ist ein Diskursbegründer, oder - schöner - ein Ursprungsdenker, weil er dem Denken ein neues Maß gesetzt hat. Nach Kittler ist anders als vor Kittler. Was ihn mit Michel Foucault verbindet: Die Exorzisten des Humanismus, diejenigen, die den Menschen im Singular von der Tagesordnung des Denkens streichen wollten, haben ihm im Spätwerk im Plural eine Renaissance beschert, der eine aus "Sorge um sich", der andere aus Sorge um die Liebe. Die letzten Worte gelten dem Ich, dem Du, und dem Wir, das sie gemeinsam sind. Das ist bei Kittler kein Verrat an seinem Werk, sondern – ganz musikalisch – einfach eine andere Klangfarbe.

    Friedrich A. Kittler, Die Wahrheit der technischen Welt
    Herausgegeben von Hans Ulrich Gumbrecht, Suhrkamp Verlag, 18 Euro