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"Geistiger Reichtum ist Weisheit"

2009 gewann Speech Debelle in England den anerkannten Mercury Musik Preis. Speech Debelle verarbeitete damals die schwere Beziehung zu ihrem Vater in "Speech Therapy". zusammengefasst wurden. Jetzt erscheint der Nachfolger "Freedom Of Speech".

Speech Debelle im Gespräch mit Dennis Kastrup |
    Dennis Kastrup: Auf dem Album werden viele Probleme angesprochen und Fragen aufgeworfen. Wie kam es dazu?

    Speech Debelle: Dieses Album handelt von einer Frau, die beschlossen hat, sich weiter Fragen über die Welt zu stellen und ihr Leben zu leben. Sie wird nicht mehr so freundlich sein, das war sie lange genug. Nachdem man lange Zeit angeklopft hat, muss man nun die Tür öffnen. Man muss die Tür aufreißen, es knallen lassen und mit den Worten eintreten: "Hast du mich nicht hier draußen lange genug klopfen gehört?" Man muss den Leuten gegenüber einfach ein bisschen ernster sein.

    Dennis Kastrup: Gab es für Sie einen besonderen Moment, der Ihr Leben in diese Richtung verändert hat?

    Speech Debelle: Ich glaube, es war 2011. Das war das Ende eines Kapitels in meinem Leben. Ich bin aus dem Jahr mit dem Gedanken herausgekommen: "Jetzt bin ich bereit für diese Welt!" Was auch immer das ausgelöst hat, aber das Kapitel davor hat wahrscheinlich vier oder fünf Jahre gedauert. Und das gilt jetzt nur für mein Leben außerhalb der Musikerin Speech Debelle. Ich rede von einer tatsächlichen, menschlichen Reise. Ich schnüre mir meine Schuhe, um diesen neuen Weg zu gehen oder eben die neue Reise zu machen.

    Dennis Kastrup: Sie haben einen Song mit dem Titel "Collapse". Er ist angelehnt an eine Dokumentation über den Zusammenbruch der modernen, industriellen Zivilisation. Glauben Sie persönlich an diesen Zusammenbruch?

    Speech Debelle: Ich denke, das ist unvermeidbar. Ich persönlich habe aber keine Angst. Was uns vernichtet, ist unser eigenes Unvermögen. Wir schaffen es nicht, uns selbst zu retten, den Ballast abzuwerfen, uns auszustöpseln und da raus zu wachsen. Die Art und Weise, wie wir kontinuierlich davon abgehalten werden, beeinflusst uns am meisten. Darüber rappe ich. Dieses Gefühl will ich der Welt mitteilen. Man geht schlafen und hat diesen Traum vom Fliegen. Wenn man dann aufwacht, steht man auf und sofort werden einem die Flügel abgeschnitten. Man steht doch auf und woran denkt man zuerst? "Oh, ich muss zur Arbeit!" Man hat nicht einen kleinen Moment Zeit, um darüber nachzudenken, wie man sich fühlt. Man muss dies und das tun. Dann macht man den Fernseher an und dort wird einem all dieser Müll erzählt. Man geht zur Arbeit, isst irgendwas, trinkt irgendwas. Unsere Nahrung ist doch reines Gift! Absolutes Gift! So fühlt man sich die ganze Zeit. Irgendwann realisiert man, dass der Traum vom Fliegen eine entfernte Erinnerung ist. Man muss darauf warten, wieder schlafen gehen zu können, um wieder von Freiheit träumen zu können [lacht]. Darum geht es für mich auf diesem Album. Diese Botschaft versuche ich auf dem Album zu verbreiten.

    Dennis Kastrup: Lassen Sie uns ein paar Jahrzehnte zurück gehen: Damals hatten musikalische Strömungen noch politische Inhalte. Fehlt Ihnen das heutzutage?

    Speech Debelle: Auf jeden Fall, aber das ist wohl das Spiegelbild der Gesellschaft, in der wir leben, in einer Zeit, in der es im Fernsehen solche Promi-Doku-Soaps wie "Keeping Up With The Kardashians" gibt. Sie sind das Spiegelbild davon, wo sich unsere Gesellschaft gerade befindet. Die Rezession 2008 hat das aber verändert. Das war wie ein Weckruf für alle. Seit den 80ern haben wir viel Zeit damit verbracht, zu glauben, alles sei in Ordnung. Wir waren die westliche Welt und hatten alles. 2011 passierte es dann, dass die Aufstände und Unruhen in Afrika dieselben waren wie bei den Mittelklasse-Universitätsstudenten in London. Das war im selben Jahr. Im selben Jahr haben Menschen gleichen Alters fast schon versucht, die Regierungen umzustürzen. Die Studenten haben gesagt: "Wir werden diesen Mist hier niederbrennen!" Und in Afrika haben sie dasselbe gesagt. Ganz ehrlich, ist sowas überhaupt schon mal irgendwann zeitgleich passiert?

    Dennis Kastrup: Kann man als Rapper oder Rapperin mit Sprechgesang mehr Druck erzeugen?

    Speech Debelle: Wahrscheinlich. Man darf ja nicht vergessen, dass Rap als eine Stellungnahme zu den sozialen Umständen begonnen hat. Das ist immer noch die unterschwellige Aussage von Rap-Musik. Mittlerweile ist er kommerzialisiert und mehr zur Unterhaltung geworden, aber Rap ist immer noch eine Art soziale Stellungnahme. Rap hat in der Vergangenheit dabei geholfen, das Bewusstsein einer Gesellschaft zu verändern, so wie bei Public Enemy oder Tupac Shakur. Rap ist ein mächtiges Werkzeug. Das liegt daran, dass er damals von jungen Leute in Situationen gemacht wurde, die junge Leute heute auch noch erleben. Ihnen wurde gesagt, dass sie keine Zukunft haben und aus dieser Unterdrückung heraus, ist Hip Hop entstanden. Weil Rap am Anfang genau dafür gemacht wurde, passt deshalb zur Zeit keine andere Musik so wie diese.

    Dennis Kastrup: Die Älteren behaupten gerne, dass Veränderungen sowieso nichts bringen. Kennen Sie diese Erfahrung?

    Speech Debelle: Es ist interessant, wenn man mit jemanden spricht, der 70 oder 80 Jahre alt ist. Sie reden dann über das, was sie in ihrem Leben nicht gemacht haben. Ein Freund von mir hat auch immer gesagt, dass wir alle ein Licht in uns tragen, das leuchtet. So ist das die ganze Zeit. Du versuchst es immer daran zu hindern, auszugehen. Manchmal sind Menschen um dich herum, die es auspusten, ohne dass du es merkst. Die meiste Zeit ist es ein sehr schwach flackerndes Licht. Es ist an der Zeit, es wieder lodern zu lassen, was ich wohl mit meinem Song "Blaze Up A Fire", "Entfache ein Feuer", meine.

    Dennis Kastrup: Sie verwenden auf dem Album oft den Begriff "spiritual wealth”, also "geistiger Reichtum". Was genau meinen Sie damit?

    Speech Debelle: Ich denke, geistiger Reichtum ist Weisheit. Die Weisheit ist dabei das Zahlungsmittel. Ich bin vor ein paar Monaten zu meiner Großmutter gegangen. Sie baut im Garten Gemüse an, was an sich schon eine Lebensweisheit darstellt. Sie hat mir davon erzählt, wie sie als junge Frau weite Wege gehen musste, um Fisch zu kaufen, weil sie in Jamaika nicht nah an der Küste wohnte. Das war also eine große Reise. Sie mussten zur Küste laufen und haben dort immer Fisch zu Mittag gegessen. Sie haben das Meerwasser benutzt, um den Fisch zu salzen. Nachdem er gekocht war, haben sie ihn kurz ins Wasser getaucht, sodass er gesalzen war. Bei solchen Sachen denke ich, von wem sonst werde ich das hören? Das ist Weisheit. Es geht darum, dass man jemand anderem etwas beibringt, was man nicht aus Büchern lernt. Das lernt man nur vom Menschsein. Weisheit ist das, was man weiterreicht. Und wenn man das erkennt und anderen zuhört, dann wächst auch der geistige Reichtum.

    Dennis Kastrup: Sie haben in einem Interview gesagt, dass Sie beim nächsten Album noch mehr auf elektronische Musik verzichten wollen. Ein großes Orchester soll auch dabei sein. Was genau haben sie sich vorgestellt?

    Speech Debelle: Das will ich auf jeden Fall machen. Mindestens genauso wichtig ist aber die Frage, wo ich das Album aufnehmen werde. Das macht viel aus. Mein Debütalbum "Speech Therapy" habe ich zum Beispiel weit weg von Zuhause aufgenommen. Ich war unerfahren und irgendwie auch alleine. Das hat sehr zu dem Gefühl des Albums beigetragen. Diesmal hatte ich Freunde im Studio. Ihre Stimmen sind auf dem Album, es ist ein Gemeinschaftswerk. Wenn man zuhört, merkt man, dass ich auch nicht mehr nur über mich rede. Für das nächste Album muss ich wohl irgendwo hingehen, wo es viel Sonne und Platz gibt. Ich möchte, dass es genau danach klingt: nach Sonne und nach Freiraum. Und wie gesagt, Orchester und Chöre sind auf jeden Fall mit dabei. Ich versuche also, sehr ausschweifend zu sein.

    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.