Ein pensionierter Postbote in Irland über den Wandel seines Dorfes zur Vorstadt:
"”Das war ein Nebensträßchen, als ich hier anfing, inzwischen ist es eine Mini-Autobahn. Und das Postamt ist auch weg. Das Dorf hat damit Herz und Seele verloren.""
Und ein junger Computeringenieur über die Verteilung von Arbeit und Ideen:
"”Die kreativen Ideen in der Elektronikbranche kommen immer noch aus Amerika und Europa. Da muss Irland dazugehören. Die Produktion kann dann gut in Billiglohnländer verlagert werden.""
Geld und Guinness: Gesichter Europas an diesem Samstag über Irlands neuen Reichtum. Reporter ist Martin Alioth. Am Mikrofon begrüßt Sie Barbara Schmidt-Mattern!
"Die Straßen waren voller Menschen, die bunte Hemden trugen und Flaggen und Banner schwenkten. Es war der Tag des nationalen Finales im Hurling, diesem uralten, gälischen Spiel, dem schnellsten Feldspiel der Welt, und Cork spielte gegen Galway. Ich zog den Koffer hinter mir her zu Fagans Bar, weil ich hoffte, dort noch eine Karte zu bekommen.
’Aussichtslos’, sagte man mir. ’Alle Welt versucht, noch Karten zu kriegen.’ Ich war wirklich von hoffnungslosen Optimisten umgeben. Wenn eine Karte kurz in irgendeiner Tasche zu sehen war, schossen die Menschen von allen Seiten auf den glücklichen Besitzer zu, um ihn zu fragen, ob er sich nicht vielleicht doch von dem wertvollen Stück Papier trennen mochte.
Weiter oben auf der Straße traf ich zwei Männer, die um das feilschten, was allem Anschein nach die letzte Karte auf Erden war. Einer von beiden sauste los wie von der Tarantel gestochen, und der Schwarzhändler hob beide Hände. Ich war zu spät gekommen.
’Tut mir leid’, sagte er. ’Er ist gerade unterwegs zum Geldautomaten.’ Als ich ihn fragte, wieviel er für die Karte haben wollte, witterte er die Chance, blanken Opportunismus zu zeigen. Die Gier war mir offenbar ins Gesicht geschrieben.
’Kommt darauf an, wer das meiste bietet’, sagte er geschäftsmäßiger. Doch ich schüttelte den Kopf. Wie konnte ich einem Mann, der schon einem Preis zugestimmt hatte und gerade vom Geldautomaten zurückkam, dieses einmalige Glück wegschnappen? Der Schwarzhändler wurde urplötzlich zur ehrlichen Haut und sagte, er könne mir die Karte nicht vor der Nase des anderen Kunden verkaufen, das wäre unfair."
"”Das war ein Nebensträßchen, als ich hier anfing, inzwischen ist es eine Mini-Autobahn. Und das Postamt ist auch weg. Das Dorf hat damit Herz und Seele verloren.""
Und ein junger Computeringenieur über die Verteilung von Arbeit und Ideen:
"”Die kreativen Ideen in der Elektronikbranche kommen immer noch aus Amerika und Europa. Da muss Irland dazugehören. Die Produktion kann dann gut in Billiglohnländer verlagert werden.""
Geld und Guinness: Gesichter Europas an diesem Samstag über Irlands neuen Reichtum. Reporter ist Martin Alioth. Am Mikrofon begrüßt Sie Barbara Schmidt-Mattern!
"Die Straßen waren voller Menschen, die bunte Hemden trugen und Flaggen und Banner schwenkten. Es war der Tag des nationalen Finales im Hurling, diesem uralten, gälischen Spiel, dem schnellsten Feldspiel der Welt, und Cork spielte gegen Galway. Ich zog den Koffer hinter mir her zu Fagans Bar, weil ich hoffte, dort noch eine Karte zu bekommen.
’Aussichtslos’, sagte man mir. ’Alle Welt versucht, noch Karten zu kriegen.’ Ich war wirklich von hoffnungslosen Optimisten umgeben. Wenn eine Karte kurz in irgendeiner Tasche zu sehen war, schossen die Menschen von allen Seiten auf den glücklichen Besitzer zu, um ihn zu fragen, ob er sich nicht vielleicht doch von dem wertvollen Stück Papier trennen mochte.
Weiter oben auf der Straße traf ich zwei Männer, die um das feilschten, was allem Anschein nach die letzte Karte auf Erden war. Einer von beiden sauste los wie von der Tarantel gestochen, und der Schwarzhändler hob beide Hände. Ich war zu spät gekommen.
’Tut mir leid’, sagte er. ’Er ist gerade unterwegs zum Geldautomaten.’ Als ich ihn fragte, wieviel er für die Karte haben wollte, witterte er die Chance, blanken Opportunismus zu zeigen. Die Gier war mir offenbar ins Gesicht geschrieben.
’Kommt darauf an, wer das meiste bietet’, sagte er geschäftsmäßiger. Doch ich schüttelte den Kopf. Wie konnte ich einem Mann, der schon einem Preis zugestimmt hatte und gerade vom Geldautomaten zurückkam, dieses einmalige Glück wegschnappen? Der Schwarzhändler wurde urplötzlich zur ehrlichen Haut und sagte, er könne mir die Karte nicht vor der Nase des anderen Kunden verkaufen, das wäre unfair."
Ordnung in regellosen Zeiten: Ivor Winters spricht mit Tieren
Irland - eine Nation von Schwarzhändlern? Das hält der deutsch-irische Schriftsteller Hugo Hamilton dann doch für übertrieben. Aber ein zwiespältiges Verhältnis zu Geld und Besitztum, das ist sehr wohl kennzeichnend für das Irland dieser Tage, findet Hamilton, und kommt auf diesen Gedanken immer wieder zurück.
50 Jahre nach Heinrich Böll hat der gebürtige Dubliner sein Irisches Tagebuch geschrieben, und es die redselige Insel genannt. Redselig, weil die Iren doch bei aller Armut immer reich an Geschichten waren: Reden ist Gold auf der Insel, und das Pint Guinness dazu: schwarz.
Über Geld spricht man indes nicht, früher wegen der Armut, heute wegen des Reichtums. In nur wenigen Jahrzehnten hat sich die Insel zu einem der wohlhabendsten Länder in Europa entwickelt. Für die Hauptstadt Dublin und den Speckgürtel drumherum bedeutet das Immobilienboom, Verkehrschaos und: immer mehr Ponyhöfe. Spötter sprechen gar vom Suburban Pony, vom Pferd also, das für die urbane Wohlstandsgesellschaft Prestige-Objekt und Naturabenteuer in einem ist. Besuch bei Ivor Winters, dem Schmied:
An einem klirrenden Januarmorgen kriegen Frosty, Imp und Blossom, zwei Pferde und ein Pony, neue Schuhe. Hufschmied Ivor Winters bereitet die richtigen Nägel vor. Dann geht es in den Stall. Er spricht mit seinen Kunden, wie hier mit Frosty, einem Schimmel.
Kinder schauen ihn gelegentlich schief an, wenn er mit ihren Ponys spricht, aber er ist nicht übergeschnappt. Der direkte Kontakt hilft Mensch und Tier.
Immerhin, er beantwortet seine eigenen Fragen nur, wenn er schlechter Laune ist. In seinem Beruf, sagt er nach 35 Jahren Praxis, muss man Tiere lieben, auch wenn das seine Kollegen vielleicht manchmal ungern zugeben.
"Wenn man bedenkt, was das Pferd uns alles erlaubt, muss man schon sagen: Es ist eine höchst umgängliche Kreatur."
Nach diesen Komplimenten geht es los. Frosty wird höflich gebeten, seinen ersten Fuß zu heben.
Ivor Winters ist ein Meister seines Faches. Jede Bewegung fließt elegant aus der letzten, keine ist überflüssig, das Werkzeug liegt immer exakt am richtigen Ort und wird nach jedem Gebrauch automatisch ins richtige Fach des kleinen selbst gebastelten Rollkarrens versorgt, der wie ein Operationswägelchen mit von der Partie ist. Gelegentlich kommt sich der Zuschauer vor wie im Zirkus, wenn beispielsweise die große Raspel in einem Schwung mit dem Griff voran auf den Boden fliegt, sich um ihre eigene Achse dreht, um dann umgekehrt in der Hand des Meisters zu landen.
Ivor war der vierte und jüngste Sohn eines Bauern in Termonfeckin, einem hübschen Dorf in der nordöstlichen Grafschaft Louth. Dort lebt und arbeitet er bis heute, gegenüber vom elterlichen Hof. Er fährt zu seinen Kunden, denn er formt die Hufeisen kalt, braucht also keine Esse zum Anpassen. Seine Herkunft von der Scholle prägt bis heute seine Werte.
Vorsichtig und diplomatisch spricht er davon, dass immer mehr Leute Pferde als Freizeitvergnügen hielten, Amateure nennt er sie. Kinder mit Ponys seien oftmals undiszipliniert, hätten die nötige Geduld und das Pflichtbewusstsein nicht. Im wohlhabenden Irland halten sich gewisse Leute ihre Pferde wie einen Hund. Er selbst würde da engere Grenzen ziehen, denn mit seiner Mischung aus Intelligenz und Dummheit kann das Pferd gefährlich werden.
Frauen und Mädchen seien gelegentlich allzu liebevoll und nachsichtig mit ihren Tieren. Das nützten die dann aus. Und wenn er sie beschlagen solle, dann brauche er ein Tier, das stillhalte. Mit anderen Worten: Im bis vor kurzem ländlichen Irland werden inzwischen Luxusponys so verhätschelt, dass sie einen Ordnungsruf gar nicht mehr verstehen. Denn Ivor verlangt eine gewisse Disziplin von seinen Kunden. Er werde oft gefragt, ob er Schwierigkeiten im Umgang mit den Tieren habe.
Das nicht, aber mit den Menschen schon. Alle seien zu sehr beansprucht. Er sehe das in den Gesichtern im morgendlichen Straßenverkehr: Konzentriert und verkrampft seien sie, niemand lasse dem andern mehr die Vorfahrt, alle seien im Terminstress. Der gesellschaftliche Zusammenhalt habe gelitten, denn die katholische Kirche sei ja als tragendes und verbindendes Element entfallen.
So zieht der 53-jährige Hufschmied sein Fazit: Heutzutage könnten Mensch und Tier nicht mehr mit einer abschlägigen Antwort umgehen, ein Nein nicht mehr akzeptieren.
Inzwischen ist wieder ein Eisen passgenau, behutsam setzt Ivor Winters seine Nägel.
"Gut möglich, dass ich zuviel in den Charakter eines Schwarzhändlers hineinlas. Der eigentliche Opportunist war ja ich, denn ich hatte testen wollen, ob dieser Mann vor dem Croke-Park-Stadion noch eine Karte hervorzaubern konnte. Der Verkehr stand so gut wie still. Die Läden machten einen riesigen Umsatz mit Wasser, Sandwichs und Pfefferminzbonbons.
Als der Schwarzhändler schließlich doch noch eine Karte aus der Tasche zog, wollte er mir weismachen, dass er nie mehr jemanden abzocken werde, und ich musste ihm zwei englische Zehn-Pfund-Scheine extra in die Hand drücken, weil es sich wirklich und wahrhaftig um die letzte Eintrittskarte auf Erden handelte.
Sekunden später war ich auf dem Weg zum Stadion. Ich tat so, als wäre ich ein echter Fan, obwohl ich einen Koffer hinter mir herzog, der sich für viele Passanten als Stolperfalle erwies. Schließlich fand ich eine Reinigung, und dort erklärten sich zwei philippinische Mädchen freudig bereit, bis zum Ende des Spiels auf den Koffer aufzupassen. Sie wollten nicht einmal Geld dafür. So schlüpfte ich durch das knirschende Drehkreuz in die Hogan-Kurve des Croke-Park-Stadions, in dem es nur Sitzplätze gab und das Rauchen streng verboten war.
Ringsumher saßen die Glücklichen, über 80.000 Menschen, die alle gleichzeitig redeten, Süßigkeiten verteilten, Witze rissen, sich über drei Sitzreihen hinweg unterhielten und sich über sechs Sitzreihen hinweg Beleidigungen an den Kopf warfen. Dann beugte sich eine Frau vor, die drei Plätze weiter saß, und fragte, ob ich mit Eleanor Murphy verwandt sei. Eleanor Murphy, nein, nicht dass ich wüsste. Ich schüttelte den Kopf und sie sah mich so scharf an, als wäre ich ein Lügner."
Spuren des Wandels: Matt Dempsey schaut sich um
Noch heute sprechen die Iren von der Great Famine, der großen Hungersnot in der Mitte des 19. Jahrhunderts. Ein Kartoffelschädling ist schuld. Also heißt es gehen oder sterben. Die Zahl der Toten und Auswanderer geht in die Millionen. Zu dieser Zeit leben die Iren schon einige Jahrhunderte unter britischer Herrschaft. Die eigentliche Unterwerfung Irlands hatte Mitte des 16. Jahrhunderts begonnen, als Englands Heinrich VIII. sich zum König von Irland ernennen ließ.
Hektar für Hektar irischen Landes wandert in der Folgezeit in die Hände britischer Grundbesitzer und diese Umverteilung lässt die irische Armutsfalle zuschnappen. Das Ringen um Unabhängigkeit ist deswegen immer auch ein Existenzkampf gewesen. Im gesamten 20. Jahrhundert bleibt Irland ein politischer Unruheherd. Doch ökonomisch gesehen brechen neue Zeiten an.
1973 tritt Irland der Europäischen Gemeinschaft bei. Milliarden an Brüsseler Subventionen fließen daraufhin nach Dublin. Dort beschließen Politiker Steuersenkungen und geringe Lohnerhöhungen, und locken damit Investoren an: Der keltische Tiger ist geboren. Gemessen an der Einwohnerzahl leben auf der Sechs-Millionen-Insel heute so viele Millionäre wie in den USA. Die Kluft zwischen arm und reich wird immer größer.
Der irische Kapitalismus gilt den neuen EU-Staaten in Osteuropa als Vorbild, aber Landwirt Matt Dempsey ist sich da nicht so sicher. Kühe werden jetzt nach ihrer Effizienz bemessen, und nur der Blick über die grüne Wiese lässt ahnen, wie es früher einmal war:
Matt Dempsey deutet auf eine Weide auf seinem zweihundert Hektar großen Bauernhof im Westen Dublins. Im Gras sind andeutungsweise Furchen zu erkennen, die vom Weizenanbau vor zweihundert Jahren übrig geblieben sind.
So wird die Landschaft zum kollektiven Gedächtnis. Für die irischen Bauern brachte der Beitritt zur Europäischen Gemeinschaft anno 1973 sofortige Zugewinne. Damals hing Irlands Wohlbefinden noch von den Geldbeuteln seiner Bauern ab, aber inzwischen hat sich das geändert. Die Zahl der Bauernhöfe ist um fast die Hälfte gesunken, der Anteil der Beschäftigten im primären Sektor ist von damals 24 Prozent auf gerade noch sechs Prozent gesunken. Matt Dempsey hat seine Weide überquert und deutet an den Horizont.
Man kann die Fabrikationsgebäude des europäischen Hauptquartiers der Firma Intel gerade noch erkennen. Hier werden Europas Computer-Chips gefertigt. Mit Intels Ankunft vor bald 20 Jahren kam der Keltische Tiger auf die Welt. Das war der Anfang des irischen Wirtschaftswunders. Inzwischen platzt Dublin aus den Nähten, und Matt Dempsey verdient etwas Geld, indem er den Aushub des Baubooms dazu benutzt, eine sumpfige Senke seines Anwesens aufzufüllen. Wer einen derart kundigen Führer hat - Dempsey ist hauptberuflich Chefredakteur der größten Bauernzeitung Irlands - kann hier mit einem Blick viel sehen. Hat denn die Einbindung Irlands in die EU diese Landschaft verändert?
Vor 30 Jahren hätten hier auf diesen Wiesen im Winter noch Rinder gegrast, Irlands Klima erlaubt die extensive, kostengünstige Haltung. Aber das ist inzwischen verboten. Schon Ende der siebziger Jahre wurden mit europäischem Geld die Ställe neben dem alten Herrenhaus gebaut.
Die Landwirtschaft wurde dadurch effizienter und nahm Abschied von ihrer herkömmlichen saisonalen Fleischproduktion. Dempseys Großvater hatte seine Kühe noch zu Fuß auf die Fähre nach England begleitet, sein Großsohn erfüllt die Wünsche italienischer Konsumenten.
Angesichts des üppigen Graslandes der Grafschaft Kildare mag es absurd scheinen, aber Dempsey füttert diesen Kälbern kein Gras, sondern Weizen, Gerste und Mais-Silage, die er allesamt selbst anbaut. Dadurch bleibt das Rindfleisch bleich, und das mögen die Italiener. So wird alles vernetzt, die Italiener kriegen nicht nur ihre Chips sondern auch ihr Steak aus Irland, das im Verlaufe des europäischen Abenteuers umgekrempelt wurde: nicht nur physisch, weiß Dempsey mit einer Anekdote zu illustrieren.
Vor Jahren kam sein Vorarbeiter von seinem ersten Ausflug nach London zurück. Die Engländer, schloss der beeindruckte Landarbeiter, sind doch wirklich eine überlegene Rasse. Dempsey fand das nicht lustig, aber er selbst habe - vielleicht wegen seiner Ausbildung durch die Jesuiten - diesen nationalen Minderwertigkeitskomplex der Iren nie empfunden.
"’Darf ich Sie etwas fragen?’ sagte sie. ’Natürlich.’ Ich nickte. ’Wo haben Sie die Eintrittskarte her?’ Da kam ich mir plötzlich vor wie ein Hochstapler. Im Angesicht von zweiundachtzigtausend Fans musste ich gestehen, einem Schwarzhändler die letzte Karte auf Erden abgekauft zu haben. ’Genau das habe ich mir gedacht’, sagte sie lächelnd. Sie erklärte mir, dass sie die Karten für diese ganze Sitzreihe verwaltet habe. Sie seien Mitglieder eines kanadischen Hurling-Clubs, und meine Karte sei an eine Frau namens Eleanor Murphy verkauft worden, die ’bei Gott’ geschworen habe, es sei ein Geschenk für ihren Neffen, einen völlig hurlingverrückten Jungen, aber wie sich nun zeige, habe sie die Karte ’schändlicherweise’ verkauft, um einen Gewinn zu machen, und damit das Spiel verraten. Sie dankte mir für meine Mithilfe bei der Aufdeckung eines schlimmen Betrugs."
Der Rückzug der Kirche in die Belanglosigkeit: Mary Hynes empfiehlt sich
Der irische Schriftsteller James Joyce hat bereits die Priesterlaufbahn eingeschlagen und die niederen Weihen empfangen, als er sich 1902 mit 20 Jahren von der Kirche abwendet und kurze Zeit später auch von seinem Land. Joyce verlässt Irland und kehrt nur noch als Besucher zurück.
In seinen Werken bleibt er der Heimat jedoch verbunden, auch wenn er alles in Frage stellt, was Irland bis dahin prägte: Seine Figuren verlieren den Glauben an die Nation, die Familie und - am schlimmsten - die Kirche. Joyce fällt damit in Ungnade, doch er behält recht: Im Laufe des Jahrhunderts verliert der Katholizismus in Irland immer mehr an Bedeutung.
Die Verfassung von 1937 verweist zwar noch auf die besondere Position der Kirche, doch nach und nach fällt ein Tabu nach dem nächsten: Erst die Freigabe von Verhütungsmitteln, dann - mitten im Wirtschaftsboom der neunziger Jahre - die Liberalisierung der Scheidungsgesetze. Ob der wachsende Materialismus oder die Skandale der Katholischen Kirche dabei eine Rolle spielten, bleibt offen. Erzbischof Sean Brady entschuldigte sich letzten Herbst für "die entsetzliche Sünde" an Jungen und Mädchen in der Obhut irischer Priester. Die Fälle reichen bis in die dreißiger Jahre zurück.
Mary Hynes hat der Kirche den Rücken gekehrt: An einem der seltenen Tage, wenn Irland verschneit ist, unternimmt Mary Hynes einen Spaziergang in die Vergangenheit. Die 48-Jährige war bis vor knapp drei Jahren Sakristanin in der katholischen Marienkirche der Provinzstadt Drogheda an der irischen Ostküste; ein ungewöhnlicher Beruf für eine Frau, die keine Nonne ist. Jetzt geht sie noch einmal die Stufen hinunter, die von ihrem Haus zur Kirche führen.
Im Dorf ihrer Kindheit kontrollierte und organisierte die Kirche alles, nicht nur das spirituelle, sondern auch das gesellige Leben. Kirche und Gesellschaft waren in den siebziger Jahren identisch. In diesem Geiste übernahm sie das Amt und wurde indirekt zur Seelsorgerin.
Ihr habe man alle Sorgen anvertraut, selbst jene, die niemals das Ohr des Priesters erreichten. Doch Mary Hynes hat diese Vertrauensarbeit niedergelegt, denn die einst allmächtige irische katholische Kirche wurde ihr immer fremder. Der Umgang der Kirche mit klerikalem Kindsmissbrauch gab ihr den Rest.
Einer Organisation, die Pädophile versteckte, konnte sie nicht mehr angehören. Mary öffnet wie in alten Zeiten die Sakristei der neogotischen Kirche und geht zum alten Schrank mit den Messgewändern.
Grün ist normal, violett für die Fastenzeit, weiß für Festtage - immer habe sie dem Priester die passenden Gewänder bereit gelegt. Marys Tonfall allein verrät schon, dass ihr Herz nicht mehr bei der Sache ist. Inzwischen hat sie Theologie und Englisch studiert, jetzt bringt sie in Drogheda den Kindern von Einwanderern und Gastarbeitern aus Osteuropa Englisch bei. So macht sich ’frau’ im modernen, wohlhabenden Irland nützlich. Am liebsten allerdings wäre sie Seelsorgerin in einer Schule. Gewissenskonflikte hätte sie keine dabei.
Im Kern ist ihr Glaube intakt geblieben. Da sei noch immer etwas Wichtiges, aber niemand mache sich die Mühe, den Kindern Religion schmackhaft zu machen. Sie vergleicht den Religionsunterricht mit dem Versuch, Kindern die Spiele ihrer Eltern und Großeltern beizubringen. Dabei lebten diese Kinder in einem anderen Umfeld, das von elektronischen Welten geprägt sei. Die Kirche, sagt Mary Hynes spitz, müsse aufhören, heutigen Kindern das Seilhüpfen lehren zu wollen.
Die Marienkirche in Drogheda ist - wie die katholische Kirche Irlands - ihren stilistischen Ursprüngen aus dem 19. Jahrhundert treu geblieben. In sich stimmt alles, aber die Institution ist in der irischen Gesellschaft belanglos geworden. Der Niedergang, zum Teil aus eigenem Verschulden beschleunigt, erfolgte mit atemberaubender Geschwindigkeit, denn noch vor zwanzig Jahren diktierte die irische Kirche im Bedarfsfall den Politikern das Vorgehen. Das ist vorbei.
Es sei wie bei einer Belagerung, meint Mary Hynes, der Klerus rücke trotzig zusammen und beharre auf dem alten Herkommen. Das aber hält sie für gänzlich zwecklos; sie selbst würde niemals diesen Weg wählen. Auf die offensichtliche Frage, was denn in der irischen Gesellschaft an die Stelle der kirchlichen Autorität getreten sei, antwortet die Theologin mit einer Gegenfrage.
Vielleicht, argwöhnt sie, war der Rückgriff auf Furcht und Autorität von Anfang an nicht die Bestimmung der Kirche. Mit einem letzten Kraftakt schiebt sie das alte Kirchenportal zu und widmet sich wieder ihrer neuen Aufgabe, Religion und Spiritualität außerhalb der klerikalen Hierarchien zu finden.
Ingenieure einer neuen Welt: Oisin und Fergus Boydell sind zuversichtlich
Jahrhunderte lang haben die Iren unter britischer Herrschaft Zuversicht und Selbstbewusstsein trainiert - schließlich haben sie sich trotz der ungeliebten Besatzer behauptet. Ihr Optimismus ist noch immer ein guter Schutzschild: Globalisierungsängste sind den meisten Iren ziemlich fremd.
"Heute sind die Iren die großen, unverbesserlichen Optimisten Europas, sie sind glückliche Kapitalisten, die mit ihren Kreditkarten Amok laufen und alles kaufen und verkaufen, was ihnen unter die Augen kommt. Die geniale ’Geiz-ist-geil’-Methode der Fahrpreisrabatte und Billigreisen ist hier erfunden worden. Angeblich hat man niemals das Gefühl, dass es ernsthaft zur Sache geht, wenn man mit Iren verhandelt, weil diese das Geschäftliche stets durch den Kakao ziehen und ihm einen scherzhaften Anstrich geben.
Andererseits entschädigen sich die Iren immer noch für Jahrhunderte lange Armut und Unterdrückung. Heutzutage braucht jeder irische Haushalt einen Sandwichtoaster und ein Bräunungsstudio, einen Whirlpool und ein Himmelbett. Die Iren wurden von abstrakten Kräften beherrscht, von Fremden und von Hungersnöten, von Auswanderung, Isolation und fehlenden Bodenschätzen. Sie sind ein Volk, das eine Verschnaufpause redlich verdient hat. Die Iren genießen ihre neue materielle Freiheit, aber ich frage mich manchmal, ob sie wissen, was sie sich damit antun."
Hugo Hamilton, Jahrgang 1953, wuchs als Sohn einer deutschen Mutter und eines irischen Vaters in Dublin auf. Als halbes Immigrantenkind war er damals im Auswanderungsland Irland ein Exot. Heute ist es genau umgekehrt. Seit der EU-Erweiterung strömen immer mehr Osteuropäer auf den dankbaren irischen Arbeitsmarkt - polnische Metzger, lettische Erdbeerpflückerinnen, tschechische Studentinnen.
Bekommen sie aber in Irland Nachwuchs, erhält der nicht mehr automatisch die irische Staatsbürgerschaft. Das alte Geburtsrecht mit sofortiger Einbürgerung haben die Iren vor kurzem abgeschafft, doch die Zuwanderer hält das nicht ab. Sie arbeiten in Callcentern, auf dem Bau, gründen selbst Firmen und geben Geld aus; ganz, wie die Iren selbst.
Bloß nie wieder Armut, sagen die Dubliner von heute. Um dem Rückfall in alte Zeiten vorzubeugen, hat der Staat eine landesweite Bildungsoffensive gestartet: Fast 90 Prozent der Schüler machen Abitur, knapp dreimal so viele wie in Deutschland. An gut ausgebildeten Fachkräften mangelt es also nicht, und so ist der rasante Wandel vom einstigen Bauern- und Billiglohnland zum erfolgreichen IT-Standort relativ schmerzlos gelungen. Manch neoliberales Gedankengut fällt da, im neuen Irland, auf fruchtbaren Boden.
Es gibt inzwischen eine Generation junger Iren und Irinnen, die sich nicht mehr an Armut, Auswanderung und Arbeitslosigkeit, Defizit und Defätismus erinnern können. Die Brüder Oisin und Fergus Boydell sind 28 und 25 Jahre alt: Kinder des irischen Wirtschaftswunders. Wir stehen im Dubliner Finanzzentrum am Fluss Liffey, umgeben von Glaspalästen und post-modernen Bürotürmen.
Oisin, der ältere, kann sich noch erinnern, als hier bloß die zerfallenden Schuppen eines kaum genutzten Hafenviertels lagen. Und jetzt, sagt er, immer noch verblüfft, ist alles so modern. In der Tat. Ein altes Hafenbecken wird jetzt für schwimmende Freilichtkonzerte genutzt, entlang den Ufern des Liffey erstrecken sich die neusten Gedankenblitze internationaler Architekten, so weit das Auge reicht. Hier im Finanzzentrum sind sogar die öffentlichen Sitzbänke aus Marmor.
Rückblickend darf man die Behauptung wagen, dass Irlands wirtschaftliche Aufholjagd etwas mit Computern zu tun hatte. Genauer gesagt, mit der Ansiedlung von Intel, des weltweit größten Herstellers von Computerchips, im Jahre 1989. Passenderweise sind beide Brüder Boydell Computerexperten. Was brachte sie auf diese Idee?
Es begann damit, dass die Großmutter ein Nintendo-Spiel mitbrachte. Das sei damals noch völlig neu gewesen. Schon damals habe er wissen wollen, wie diese Spiele funktionierten. Und der jüngere Bruder Fergus?
Das Vorbild des Bruders habe gewiss eine Rolle gespielt, aber Fergus unterstreicht die Kreativität seines Berufs und die Genugtuung, rasch Ergebnisse zu sehen.
Beide versichern, sie hätten wohl auch in einem anderen Land diese Berufswahl getroffen, aber sie geben zu, in Irland lag es gewissermaßen auf der Hand.
Das irische Wirtschaftswunder, der sogenannte Keltische Tiger, brachte alle diese Technologiefirmen ins Land, erinnert sich Fergus, da war das Computerfach beinahe der Weg des geringsten Widerstandes. Inzwischen ist Oisin kurz davor, seine Doktorarbeit am University College Dublin abzuschließen. Es geht um neue Technologien für Suchmaschinen und um die neuartigen Begegnungsstätten im Internet wie YouTube. Oisin gehört einer Forschungsgruppe an, die vom staatlichen irischen Wissenschaftsfonds finanziell unterstützt wird. Fergus dagegen ist schon seit über zweieinhalb Jahren in der Praxis: Er entwickelt neue Software für die großen Mobiltelefon-Firmen. Das ist der entscheidende Punkt, erklärt Oisin nicht ohne Stolz:
Ursprünglich hätten sich die Multis in Irland neben der Produktion auf die Produkt-Entwicklung beschränkt, aber jetzt werde auch die Forschung nach Irland verlagert. Und die Forschung sei eben die Krönung der Schöpfung, jetzt werden neue Ideen in Irland entwickelt.
Die bange Frage irischer Ökonomen ist damit beantwortet: Lange Jahre durfte man nämlich pessimistisch behaupten, dass der multinationale Sektor in Irland ein Fremdkörper sei, eine Parallelwirtschaft, die nur wenig mit der weniger produktiven und weniger innovativen einheimischen Wirtschaft zu tun hatte. Inzwischen ist aus dem Werkplatz Irland eine Ideenfabrik geworden. Oisin verweist auf die Arbeitgeber seines Bruders, eine rein irische Firma. Fergus nimmt den Faden auf:
Die Firma wurde vor zehn Jahren von Universitätsabsolventen gegründet. Inzwischen verfügt sie über Büros in Kuala Lumpur und New York. Man muss dem Markt immer eine Nasenlänge vorauseilen, immer neue Produkte und Verfahren erfinden.
Während die Angestellten des Finanzzentrums in ihrer Mittagspause rasch belegte Brote kaufen, beobachten die Brüder Boydell gelassen die sinkende Wettbewerbsfähigkeit Irlands, den Einbruch im Baugewerbe und die Konkurrenz im Softwaresektor von Ländern wie Indien:
Die kreativen Ideen in der Elektronikbranche kämen immer noch aus Amerika und Europa. Da müsse Irland dazugehören, meint Oisin. Die Fabrikation der Software, fügt er entspannt hinzu, könne dann gut in Billiglohnländer verlagert werden.
Hier spricht das neue Irland: Gereift, selbstbewusst, realistisch. Das alte Irland, das seine Talente exportierte anstatt seine Ideen, muss ihnen doch sehr fremd sein?
Oisin kennt das nur aus Büchern und Zeitungen, und aus dem spöttischen Verweis auf seine Generation als Welpen des Keltischen Tigers. Die ältere Generation, das sieht er klar, denkt völlig anders.
Auf die abschließende Frage an die beiden athletischen jungen Männer, die in ihrer Freizeit gerne weg vom Büro an der frischen Luft Sport betreiben, wo sie denn in zehn Jahren sein möchten, bekräftigen beide ihre Freude am Computerhandwerk, aber Oisin bleibt vorsichtig:
Alles habe sich so rasch verändert. Er habe schließlich erst vor zehn Jahren die Mittelschule abgeschlossen, aber an seiner Anpassungsfähigkeit an erneut gewandelte Umstände zweifelt er nicht. Es spricht nichts gegen eine weitere Verbesserung der Lage in Irland. Also ist er Optimist?
Das irische Wirtschaftswunder ist kein Strohfeuer, sagt er mit Nachdruck. Und das war vielleicht die einzige Spur des alten Irland: Der schlummernde Verdacht, die guten Zeiten könnten sich im Nachhinein als Täuschung entpuppen.
Zeuge einer untergehenden Welt: Gerry Murphy beklagt die neue Sprachlosigkeit
Die Iren, sagt der Schriftsteller Hugo Hamilton, glauben neuerdings an Autos und Waschmaschinen. Irlands neuer Reichtum lässt sich am besten in Dublin begutachten. Große Limousinen, Designerläden und ein neues Hafenviertel aus Stahl und Chrom.
Doch seit einiger Zeit geht dem Keltischen Tiger die Luft aus, auf einmal gibt es mehr zu verlieren als zu gewinnen. Der Immobilienmarkt ist eingebrochen, der private Konsum wird schwächer, Betriebsschließungen und Personalabbau nehmen zu: Die Karawane zieht weiter. Vergangenen November erreichte die Arbeitslosenquote mit 4,6 Prozent den höchsten Stand seit sechs Jahren.
Plötzlich wird die Effizienz der fetten Jahre in Frage gestellt: Die unerträglichen Staus in und um Dublin, das weiterhin marode Gesundheitssystem, und die schleichende Auflösung alter Verbindlichkeiten. Das Dorf Julianstown, eine Stunde nördlich von Dublin, atmet gerade noch den Geist des alten Irlands. Niemand beschreibt das schöner als Gerry Murphy. Seine Rundfahrt durch das Dorf ist eine Gewinn- und Verlustrechnung ganz eigener Art:
Einundzwanzig Jahre lang betreute Gerry Murphy rund 400 Haushalte im Dorf Julianstown, etwa vierzig Kilometer nördlich von Dublin an der Ostküste, als Postbote. Im letzten Frühling ging er in Pension, jetzt macht er seine Runde noch einmal, in Erinnerung an alte Zeiten.
Jeden einzelnen Arbeitstag habe er genossen, jeder hatte eine Geschichte zu erzählen. Er brachte Nachrichten von Todesfällen, Heiraten und Skandalen. Die verbreiteten sich im Dorf rascher als eine Brieftaube.
Er biegt in eine neue Wohnsiedlung ein: Wo heute 52 identische Einfamilienhäuschen stehen, war vor drei Jahren noch eine riesige Weide, aber die Häuser sind jetzt leer, denn alle arbeiten, großteils in Dublin, denn das Dorf Julianstown ist eine Vorstadt für Pendler geworden. Kannte er denn diese Leute überhaupt?
Alle kannte er, und zwar mit Vornamen, denn er galt ja als Familienmitglied, weil er doch für sie sorgte. Natürlich hätte er seine Arbeit auch blind und taub verrichten können, aber er schaute eben gern nach seinen Schützlingen. Gerry, der Postbote, und Mary Behan, die Postmeisterin im Dorf, waren deshalb weit mehr als ein Zustelldienst, weit mehr.
Er hatte etwa ein halbes Dutzend Haushalte, denen brachte er regelmäßig die Zeitung, Brot, Milch oder was auch immer. Bettlägerige bekamen von Gerry die Rente, andere ein paar Briefmarken, aber auch das war noch nicht alles. Wenn er ein unbekanntes Fahrzeug mehr als einmal pro Tag erblickte, notierte er sich die Nummer, meist mit Kugelschreiber auf dem Handrücken, denn:
Solche Leute suchten keine bestimmte Adresse, sonst hätten sie ihn ja angehalten und nach dem Weg gefragt. Er würde Mary anrufen, diese verständigte dann die Polizei; die kannte diese Kunden meist und kam raus, um sie zu befragen.
Postbote, Lokalradio, Gemeindeschwester und Polizeipatrouille in einer Person vereinigt: Das war Gerry Murphy in Aktion. Eine seiner liebsten Kundinnen war Tiny Whirty, eine uralte, alleinstehende Frau, die erst vor zwei Jahren Strom und fließendes Wasser erhalten hatte. Aber sie wusste alles, manchmal sogar mehr als der Postbote, der doch alles wissen sollte. Dann war sie glücklich und hänselte ihn, er laufe mit dem Kopf in den Wolken herum.
Wir sind bei Tiny Whirtys Häuschen angekommen, einer irischen Kate wie auf alten Postkarten. Wie ein alter Freund wird der frühere Postbote in die gute Stube gebracht, wo ein großes Kohlenfeuer glüht. Gerry stellt die Dame, die nicht zufällig Tiny genannt wird, winzig, als eine der beliebtesten Damen in Julianstown vor.
Sie vermisst ihn. Kennt sie denn den neuen Postboten? Überhaupt nicht, der geht doch gleich weg, während Gerry mit ihr geplaudert hatte. Und der charmante Gerry, der vor seiner Karriere als Postbote professionell in den Tanzsälen von Irland mit sogenannten Showbands - also Musikkapellen - sang, wird sehr herzlich verabschiedet.
Das war ein Blick in eine untergegangene Welt. Gerry Murphys Lebensregeln sind überholt, zum Beispiel, dass er niemals zu einem Begräbnis gehen durfte, weil er sonst zu allen hätte gehen müssen. Bei der Weiterfahrt wird der pensionierte Postbote, der unverändert fit und gesellig geblieben ist, immer düsterer. Das war ein Nebensträßchen, als Gerry seine Arbeit begann, inzwischen ist es eine Mini-Autobahn geworden.
Die Anwohner haben ihre Briefkästen jetzt am Straßenrand, das sei ein umwälzender Wandel, meint Gerry, denn man sieht sich nie mehr in die Augen, man trifft sich nicht mehr. Das Dorf Julianstown hat bereits seinen Polizeiposten und seinen Tante-Emma-Laden verloren. Vor zwei Wochen schloss das lokale Postamt, auch Mary Behan ging in Rente.
Das Dorf habe damit Herz und Seele verloren. Der letzte Treffpunkt ist weg, das alte Irland für immer verschwunden. Es lässt sich absehen, dass der irische Staat dereinst teure administrative Gebilde aufbauen muss, um das Netzwerk, das Gerry und Mary so selbstverständlich geknüpft hatten, behelfsmäßig zu ersetzen. Vorläufig bleibt das Dorf, das zur Vorstadt geworden ist, ohne Zusammenhalt. Gerry ist zum Ausgangspunkt seiner Reise zurückgekehrt. Man müsse diesen Wandel erlebt haben, sagt er zum Abschluss, um ihn zu verstehen. Sein Fazit ist, dass sich die Leute nicht mehr sehen.
Geld und Guinness: Das waren Gesichter Europas über Irlands neuen Reichtum. Reporter war unser Schweizer Kollege Martin Alioth. Die Literatur las Axel Gottschick. Musik und Regie: Babette Michel. Ton und Technik: Ernst Hartmann und Dagmar Schonday. Redakteurin am Mikrofon war Barbara Schmidt-Mattern.