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Geldsorgen und Liebesschmerzen

Im kleinen Kölner Lilienfeld Verlag ist ein Band mit unveröffentlichten Erzählungen des fast vergessenen Wiener Autor Hans Adler erschienen. Er zeichnet darin ein Bild der sozialen Realität der untergehenden k.u.k.-Monarchie-Zeit.

Von Cornelia Staudacher | 12.09.2011
    Wie ein "Paradis terrestre" erscheint dem Ich-Erzähler die alte, einst herrschaftliche, außerhalb der Stadt an einem kleinen See gelegene "Villa Paradiso", in der die längste Geschichte des Bandes spielt: Von ihrer Fassade bröckelt gelber Mörtel, die Türpfeiler sind geborsten, die Jalousien verwittert. In den Zimmern bemalte Stuckplafonds, vergoldete Gesimse, abblätternde Stofftapeten. Zwischen trüb gewordenen Spiegeln und verstaubten Glaslüstern spannen sich silbergraue Spinnengewebe. Der Ziehbrunnen im Innenhof, um den ein mit Efeu bewachsener Säulengang läuft, ist versandet.

    Der Ich-Erzähler und Patschichter haben sich während einer Zugfahrt kennen gelernt. In einem Nachtcafé treffen sie auf Benoni, einen Advokaten, der ihnen das Haus vermietet. Patschichter, ein Maschinenbauingenieur und Brückenkonstrukteur, der einige Jahre in Britisch-Indien gelebt und an der Elektrifizierung der Trans-Indien-Bahn mitgearbeitet hat, ein Mann der Tat also, macht sich sofort ans Werk. Er setzt den Brunnen wieder in Gang und arbeitet an einer selbsttätigen Bremse für die Paternosteraufzüge. Die Dritte im Bunde, Bibiche, eine junge Frau und frühere Bekannte von Patschichter, ist für die Bereitung des Frühstücks zuständig und nimmt sich des verwilderten Gartens an.

    Der Ich-Erzähler aber fröhnt dem Müßiggang. Ganze Tage verbringt er bei einer im nahe gelegenen Städtchen niedergelassenen Schauspieltruppe, in deren Mitte er sich seinen eigenen Sehnsuchtsträumen hingeben kann. Er "hat etwas zu vergessen" und beobachtet, sinniert, notiert seine Gedanken über die Sehnsucht nach dem Glück, über Frauen und amouröse Abenteuer.

    Sie sind das Antitoxin gegen die ehernen Gesetze der Schwerkraft, Logik, Trägheit. Der heilige Quell aller Überraschungen und Widersprüche. In ihrer Hut kann man den frommen gefräßigen Möwen über blaues Wasser hin gütig nachschauen, bis man selbst alt und fromm wird. An ihrer Seite kann man in der Sonne liegen und sich mühelos edler, fähiger und gerechter fühlen, als wenn man mit seiner prachtvollen männlichen Selbsterkenntnis allein ist. Unter den gebotenen Vorsichtsmaßregeln darf man sie sogar liebhaben. Sie sind dankbar wie Blumen, wenn man gläubig nimmt, wie sie sind, als Sensation: Bild, Berührung, Akkord. Als Kuss, als Rausch. Als Elementarereignis.

    Es ist das Flair, die Aura des fin de siècle, das durch diese Geschichten weht. Die Frauen stehen häufig sozial und geistig unter den Männern, sind Mamsellen oder Verkäuferinnen und werden von den Männern ausgenutzt und gebraucht. Wenn sie schlau sind, versuchen sie "sich hoch zu heiraten". Die Mädchen aus besserem Haus dagegen sind aktiv an der Wahl ihrer Liebhaber beteiligt. Das Verhältnis zwischen Ökonomie und Erotik schildert Hans Adler mit unverblümter Klarheit.

    Als Peter, ein gedankenlos in den Tag lebender, verarmter Taugenichts in der Erzählung "Das Froscherl" auf Geheiß seines Onkels mit Flora, einem wohlhabenden jungen Mädchen verheiratet werden soll, um seinem Leben einen Halt zu geben, unterdrückt er die in ihm aufsteigenden Bedenken zunächst aus wirtschaftlichem Kalkül:

    Er fragte sich, wieso es verächtlicher sei, der Liebe einer Frau seine sorgenlose Existenz zu verdanken, als seinen Unterhalt unter hässlichen Krämpfen durch gewerbsmäßige Erzeugung von Dachpappe oder Theaterstücken, durch Wilddiebstahl oder Börsenspekulation zu gewinnen. Die oft gehörten Phrasenfolgen verblassten wirkungslos vor dem lächelnden Bilde eines weiß gedeckten Tisches mit Kristallgläsern, dampfenden Bratenschüsseln und silbernem Esszeug. Schließlich schien es ihm sogar als eine durchaus natürliche, gerechte und harmonische Lösung, dass er, der den Frauen immer wieder alles geopfert hatte, nun plötzlich durch die Laune eines ihm unbekannten Mädchens aus den Tiefen seiner täglich unbehaglicher empfundenen Dürftigkeit wieder an die Sonne gezogen werden sollte.

    Aber die Rechnung geht nicht auf. Schließlich bedurfte es nur eines Laubfrosches, der ihnen bei einem gemeinsamen Spaziergang über den Weg hüpft und von Flora in kruder Gedankenlosigkeit auf ihrem spitzen Schirm aufgespießt wird, um Peter seine Situation klar vor Augen führen und sich fluchtartig aus dem Staube machen zu lassen.

    Rechnungsrat Michalek dagegen, der zeit seines Lebens ein eingefleischter Junggeselle gewesen war, kann nicht sterben, ohne eine Witwe zu hinterlassen, weil er dem Staat nichts schenken will. Und so schickt er, als er sein Ende nahen spürt, seinen Freund los, ihm eine Frau zu suchen, die er in wahrlich allerletzter Minute auf dem Sterbebette ehelicht und die fürderhin ein sorgenfreies Leben führen wird.

    Geldsorgen und Liebesschmerzen sind die Parameter dieser Erzählungen, die ihre Protagonisten quälen, ob sie als von materiellen Sorgen geplagte Bohèmiens und Glück suchende Künstler ein armseliges Dasein fristen oder als "gut genährte Gewohnheitsmenschen" unter der Monotonie eines geregelten Beamtenlebens leiden. Und obwohl Hans Adler beide Seiten kennen gelernt hat, verwahrte er sich zeitlebens dagegen, seine Geschichten autobiografisch zu verstehen. Vielmehr ging es ihm um den generellen Antagonismus dieser beiden unvereinbaren Lebensentwürfe:

    Ich weiß, dass alle Menschen, die gewerbsmäßig etwas tun, weil sie davon sorgenlos und bequem leben wollen, von ihrem Fleiß und Pflichtgefühl und von den mit ihrer Tüchtigkeit offenbar verbundenen Nachteilen für ihr Allgemeinbefinden gewöhnlich nur in vorwurfsvollem und beleidigtem Tone sprechen, gerade so, als ob sie jemand aus ihrer Umgebung zu einer ungerechten Strafe verdammt hätte. Damit müssen wir anderen uns abfinden.

    Mit hellwachem, spöttischem Blick beobachtet Hans Adler das rastlose Streben und Gieren nach Geld und Macht seiner Zeitgenossen und erstellt in einer bilderreichen, sinnlichen, aber auch dezenten Sprache aus seinen Beobachtungen ein Bild der sozialen Realität der untergehenden k.u.k.-Zeit. Changierend zwischen Melancholie und Ironie, Wehmut und bissigem Humor strömen diese unsentimentalen, desillusionierenden literarischen Skizzen des Menschlich-Allzumenschlichen Charme, Grazie und eine zeitlose Allgemeingültigkeit aus.

    Hans Adler: "Das Ideal". Erzählungen.
    Ausgewählt und mit einem Nachwort von Werner Wintersteiner, Lilienfeld Verlag, Düsseldorf 2011, 186 Seiten, 18,90 Euro.