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Gelegenheit macht Tote

Die Waffenlobby in der Schweiz ist unter Druck geraten. Spätestens seit dem Serienmord 2001 in Zug, bei dem ein Amokläufer 15 Menschen erschoss, ist die Ruh der Waffenliebhaber dahin. In einem Land, das Hunde und Autos, nicht aber Waffen registriert, wächst auch in der Politik langsam das Bewusstsein, dass der Status Quo das eigene Volk gefährdet.

Von Knut Benzner; Redakteurin am Mikrofon: Barbara Schmidt-Mattern | 12.05.2007
    Mitten in Europa zu liegen, das kann viele Vorteile haben: Die Schweiz ist immer dabei und nahe dran, ohne sich fest binden zu müssen. Sie kann neutral bleiben, ohne Misstrauen zu erregen. Die Schweiz hat sich in Jahrhunderten gut eingerichtet im Herzen des Kontinents, abgeschottet von Bergen, umzingelt von fremden Nationen. Ihr Nischendasein kennzeichnet sie nicht nur nach außen, sondern prägt die Eidgenossen durch und durch: Freiheit, Souveränität, und Nationalstolz - das sind unverrückbare Werte, die es um jeden Preis zu verteidigen gilt, wenn es sein muss, auch mit der Waffe - wie einst Wilhelm Tell.

    Für Ausländer klingt diese Haltung archaisch und abwegig, aber für viele Schweizer ist der Gedanke, sich wehren und verteidigen zu können, bis heute unglaublich wichtig und geradezu Teil ihrer nationalen Identität. Die Verantwortung liegt bei jedem einzelnen Bürger. Deshalb darf jeder Schweizer, der gedient hat und weiterhin zu Wehrübungen geht, sein Sturmgewehr behalten und zu Hause in den Kleiderschrank stellen. Einige Eidgenossen erfüllt das mit Stolz, andere mit Angst:

    Auf 7,5 Millionen Schweizer kommen knapp 3 Millionen Waffen. Nirgendwo in Europa werden so viele Gewaltverbrechen mit Armeewaffen begangen wie in der Schweiz. Familientragödien, Selbstmorde, Amokläufe - jeder neue Fall löst Kontroversen aus. Der Fall von Hanspeter Uster liegt sechs Jahre zurück. Der ehemalige Innenminister des Kantons Zug ist ein Linker, 49 Jahre alt, verheiratet, zwei Kinder. Es gibt einen Tag in seinem Leben, der ihn alles in vorher und nachher einteilen lässt, ein Tag im September 2001.



    Das Opfer: Hanspeter Uster über den 27. September 2001 - und den Amoklauf von Zug

    "27.September 2001."

    Was ist da passiert?

    "Da saßen wir im Parlament, 18 Parlamentarierinnen und Parlamentarier, die ganze Regierung, und da gab es einen Knall und fielen dann sehr schnell Schüsse, und alle sind unter die Tische gegangen, ich auch. Und wir haben alle nichts gesehen, und dann war ein unbeschreiblicher Lärm, wirklich Schnellfeuer mit einem Sturmgewehr, und es wurden dann 14 Menschen erschossen, fast 20 leicht oder auch schwer verletzt, und der Attentäter hat sich dann selber erschossen mit einer Pistole."

    Am Tatort?

    "Im Kantonsratssaal, im Parlamentssaal, ja."

    Uster gehörte zu den 20 Verletzten: ein Lungendurchschuss, stark blutend. Er war bei Bewusstsein und hörte das Geschreie des Attentäters.

    "Genau. Er hat unglaublich laut geschrieen, er hat geschossen, er hat einen Benzinkanister gezündet, oder zünden wollen, mit einer kleinen, mit Sprengstoff. Das ist dann zum Glück nicht gelungen, und es war unbeschreiblich laut, aber ich habe kein Wort verstanden."

    Ob er auch das Geschrei seiner Parlamentskollegen gehört hat, das Geschrei der Sterbenden wie der anderen Verletzten.

    "Das kann ich nicht genau unterscheiden. Ich habe immer gedacht, es sind mehrere Leute, die uns überfallen, aber es war nur einer, und der hat unglaublich geschrieen."

    Hanspeter Uster., beim ersten Treffen in Zürich ist Uster in schwarzer Hose, grau melierten Jackett, hellblauen Hemd und goldgelb-hellblau quer gestreifter Krawatte. Graues Haar, keine Koteletten, schmale Brille mit blauem Rand. Linkshänder.

    Der Attentäter, zum Zeitpunkt der Tat um die 55, stammt aus Zug, hatte im Ausland gelebt, lag mit den Behörden wegen einer Lappalie im Streit. Ein Busfahrer war nach Beobachtungen des Attentäters angeblich betrunken gewesen, ohne dass die zuständigen Behörden, so sein Empfinden, eingeschritten wären. Eine Beschwerde an das Parlament sei, wie Uster sich erinnert, nicht weiter bearbeitet, und so, sagt Uster, nahm der Mann Rache, angekündigt auf einem Flugblatt am Tag beziehungsweise im Augenblick der Tat: Da warf er jene Flugblätter in den Parlamentssaal. Friedrich Laibacher trug vier Waffen bei sich.

    "Ja. Er hatte, ja, er hatte vier Waffen dabei, ja."

    Zwei Pistolen, ein Sturmgewehr, eine Pumpgun, ein, wie die Schweizer sagen, Pumpaction und ein Repetiergewehr, ein Gewehr, dass sich durch eine Bewegung des Bügels nachlädt.

    Beim zweiten Treffen in Interlaken, Kurort im Berner Oberland zwischen Thuner und Brienzer See, Uster besucht den Jahreskongress der Schweizer Kriminologen, ist er leger gekleidet, im Salon eines Hotels. Hätte dieser Vorfall vom 27.September 2001 mit einem anderen Waffengesetz verhindert werden können?

    "Es wäre in, es wäre vermessen zu sagen, dass man das mit Sicherheit verhindern können, aber wenn es ein zentrales Waffenregister gegeben hätte oder gäbe, und wenn auch der Erwerb von Waffen, der zwischen Privatpersonen, also nicht im Handel stattfindet, waffenerwerbsscheinpflichtig wäre, wäre die Chance der Polizei zu sehen, dass er schon mehrere Waffen hat, größer gewesen, und dann hätte man allenfalls auch dem nachgehen können."

    Eine Kellnerin fragt nach Kaffee oder Tee.

    Uster war beim zentralen Waffenregister, das in der Schweiz nach wie vor nicht existiert, stehen geblieben. Der Täter hatte in mehreren Kantonen Waffenerwerbsscheine erworben, ohne dass irgendeine Stelle auf Bundesebene davon Kenntnis haben konnte. Künftig muss immerhin der private Handel mit beziehungsweise der private Erwerb von Waffen waffenerwerbsscheinpflichtig sein.

    Hanspeter Uster redet weiter.

    ""Und das hätte dazu geführt, dass dann eben auch bekannt geworden wäre der Polizei, ah, er kauft nochmals eine Waffe. Kombination dieser beiden Instrumente hätte dazu geführt, dass die Polizei eine höhere Chance gehabt hätte, das genau abzuklären. Aber ob es zu verhindern gewesen wäre, das wäre unseriös, wenn ich das jetzt sagen würde, aber die Chance wäre sicher größer, wesentlich größer gewesen."

    Der Täter war polizeibekannt.

    Uster kam ins Hospital, dann hatte er Atemprobleme, kam noch einmal ins Hospital, fing einen Monat später wieder an zu arbeiten, was nicht ging, ging nach Davos und versuchte erneut, seine Arbeit als Innenminister des Kantons Zug aufzunehmen. Dann bekam er posttraumatische Symptome, war im Ausland, in Italien, und kehrte einen Monat später zurück.

    "Es ist so, wenn ich an irgendetwas denke, dann ist mein erster Gedanke immer, war das vorher oder war das nachher? Und das, was vorher war, ist in einem anderen Licht als das, was nachher war oder ist, und das, das gehört zu meinem Leben."

    Wenn Uster durch die Stadt Zug geht, eine kleine Stadt, 25.000 Einwohner, begegnet er zwangsläufig Hinterbliebenen und damals schwer Verletzten.

    Dieser Fall ist in der Schweiz ein Einzelfall. Dass die Verfügbarkeit einer Waffe deren Gebrauch begünstigt, die Tatwaffe des Zuger Attentäters war übrigens keine Armeewaffe, Dass die Verfügbarkeit einer Waffe deren Gebrauch begünstigt und beeinflusst, steht für Uster außer Frage. Er war selbst kurz bei der Armee, aber immer waffenlos. Und er hat keine Waffe zu Hause.

    "Nein, ich habe keine Waffe zu Hause."

    Eine Tür wird zugeknallt. Uster zuckt zusammen. Er macht "mghh", nach dem Motto: Sie wissen, was ich gerade denke, und ich weiß, dass Sie es wissen.

    Uster war und ist für eine Verschärfung der Waffengesetze. Er war 32 in diesem September 2001. Er ist freiwillig ausgeschieden als Innenminister des Kantons Zug, und was die Zukunft bringt? Er publiziert, er berät den Bund in sicherheitspolitischen Dingen, das reicht ihm zurzeit. Der ältere der beiden Söhne, inzwischen schulpflichtig, blende die Tat vollkommen aus, sagt Uster. Mit seiner Frau rede er noch heute darüber.


    Der Schriftsteller Adolf Muschg sei ein unverwüstlicher Pessimist , hat ein Kritiker einmal festgestellt. Der 1934 geborene Autor gilt neben Max Frisch und Friedrich Dürrenmatt als bekanntester Gegenwartsautor seines Landes. 2001 ist sein Roman "Sutters Glück" erschienen, im Mittelpunkt ein ehemaliger Gerichtsreporter, der gezwungen wird, eine längst abgeschlossen geglaubte Geschichte noch einmal aufzurollen. Ein alter Gerichtsprozess, der Freitod seiner Frau, Stück für Stück muss Sutter seinen letzten großen Kriminalfall lösen. Aber erst einmal wird ihm selbst Gewalt angetan.

    "Der erste Anruf kam am 2. November, auf den Tag genau fünf Wochen nach dem Tod seiner Frau. Zwischen beiden Ereignissen hatte Sutter keinen Zusammenhang hergestellt. Doch die Uhrzeit - 23 Uhr 17 - blieb haften, denn der Anruf wiederholte sich in der folgenden Nacht auf die Minute genau, und seither hätte Sutter die Uhr danach richten können.

    Er las Kriminalromane, von denen er einen Stapel im Keller gefunden hatte. Dort gilbten sie seit seiner Studentenzeit vor sich hin. Er hatte sie vor dem juristischen Lizentiats-Examen gekauft, alle zwei Tage einen neuen, obwohl er sich bei jedem Gang in die englische Buchhandlung geschworen hatte, es müsse der letzte sein. Danach würde er arbeiten, nichts mehr als arbeiten. Statt dessen verkroch er sich mit der grün gestreiften Beute auf seine Bude und las die Bändchen weg, wie man eine Zigarette an der nächsten ansteckt. Das Rauchen hatte er vor zehn Jahren aufgegeben.

    Am nächsten Abend - er hatte gerade einen neuen Krimi angefangen - klingelte es wieder: 23 Uhr 17. Also doch, dachte er. Und war diesmal entschlossen, es läuten zu lassen. Er wollte wissen, wie lange es der Anrufer trieb. Um 23 Uhr 19 läutete es immer noch. Sutter stand auf. Nur mit einem Gang zur Küche war dieses Läuten abzustellen. Und verstummte schon, als er die Schwelle erreicht hatte.

    Der Anrufer musste Sutter beobachten, und dies aus eigentlich nicht vorstellbarer Nähe.

    So kam die Fastnacht, es wurde März, Anfang April. Sutter bekam sein Zeichen, Abend für Abend, regelmäßig um 23 Uhr 17.

    So verstand er auch am 12. April das Telefonläuten als Mahnung, das Licht zu löschen. Da läutete es ein drittes Mal.

    Ist jemand da? fragte er halblaut.

    Er bekam keine Antwort. Doch am nächsten Tag wurde auf ihn geschossen."

    Grundsätzlich kann sich jeder 18-Jährige in der Schweiz eine Waffe kaufen, kaum ein privater Geschäftsmann wird ihn dabei nach einem Waffenschein fragen. Für Händler und Freaks ist das Land ohnehin ein Dorado: Die zahllosen Gewehre in Privathaushalten sorgen seit jeher für einen florierenden Handel mit Schießeisen aller Art. Seit den 90ern blüht das Geschäft noch besser, denn mit der schrittweisen Verkleinerung der Armee hat der unkontrollierte Verkauf von Pistolen und Revolvern sprunghaft zugenommen. Böse Zungen sprechen deshalb von der Schweiz als einem Waffen-Supermarkt. Die Kundschaft ist breit gefächert. Sie reicht vom durchschnittlichen Waffennarr bis hin zu höchst dubiosen Kreisen: Schweizer Waffen sollen in den 90er Jahren auch auf dem Balkan aufgetaucht sein. Weltweit nehmen die legale und illegale Verbreitung von Kleinwaffen massiv zu. Wie und auf welchen Wegen, das bleibt fast immer im Dunkeln.

    Die passende Munition, für wen auch immer, liefert die Firma RUAG - und damit liegt sie ganz in Schweizer Tradition. Denn in der Fertigung von Munition gehören die Eidgenossen zur Weltspitze. Die RUAG hat ihren Firmensitz am Thuner See, im Kanton Bern. Napoleon III. hat hier zeitweilig gelebt, Johannes Brahms und Heinrich von Kleist ebenfalls. Thun war und ist bis heute Garnisonsstadt und die RUAG nicht nur Munitionsfabrik, sondern ein ganzer Rüstungskonzern. "Sicherheit - unsere Passion. Qualität - unser Standard", so heißt es im Firmenprofil. Im Angebot ist alles, was ordentlich knallt. Ein Rundgang durch die Produktionshallen.



    Der Produzent: Besuch bei der RUAG AG, Weltspitze in der Fertigung von Munition

    "Okay, alle Leute, die mal geschossen haben, versuchen sich zu erinnern was sie machen, wenn sie schießen: Sie haben nie auch nur so viel Zeit, einer Hülse nachzusehen. Wir beginnen jetzt mit der Produktion, ich zeige Ihnen die Produktion, wie lange es dauert, bis wir eine qualitativ gute Hülse haben. Okay, es ist sehr laut, bleiben Sie bei mir, fragen Sie mich, klopfen Sie mir auf die Schultern, kein Problem."

    Es riecht nach Öl.

    "Das ist alles natürlich bestens geschmiert."

    Markus Hurni, Sales Manager, Special Ammunition steht auf seiner Visitenkarte, Verkaufsleiter Spezialmunition.

    Näpfe, Metalle, thermische Behandlung, Rekristallisation - eine perfekte Patrone braucht, bis sie fertig ist.

    "Also die werden thermisch behandelt und dann wieder gereinigt, beseift, entfettet und so weiter, diese Linie da."

    Schnell und stolz schreitet Hurni in seinem dunklen Anzug die Fabrikationslinien ab.

    "Spülvorgänge, Beseifung und natürlich Trocknung dann, aber Seife ist dran am Produkt."

    "Umpressen, Zündloch stanzen und oben einziehen."

    Noch sind nirgendwo Patronen drin.

    "So, jetzt haben wir die Hülse fertig, und jetzt muss ein Geschoss her."

    Das heißt dann später Sniper's Choice, Penetrator, Styx Action, Subsonic, Ball und Whisper - die zuverlässige Deformationsmunition, die bleifreie Ersatzmunition, die klassische Einsatz- und Trainingspatrone, die Patrone für schallgedämpfte Waffen und die für hohe Durchschlagskraft.

    "Dann werden Zylinder geformt, und über diese Presse, sehen Sie dort, über verschiedene Diameter werden Drähte gepresst und aufgewickelt, aus denen wir dann den Geschosskern machen."

    Target, Tracer, Dual Core, Comet, Rubber, Scatter, Mouse und Flash Bang - weitere Patronennamen.

    "Dann muss ein Mantel um diesen Kern."

    Helles Deckenlicht in den hohen Hallen, Arbeiter stehen an den monoton vor sich hin produzierenden Maschinen, Hüllen, Mäntel, Hülsen, blankes Blei.

    "Wenn Sie feuern, dann haben Sie Temperaturen so um 900 Grad rum, das heißt, Sie schmelzen Blei ab. Und irgendwann ist dann das Geschoss fertig, und das sieht dann so aus."

    Goldglänzend, geschmeidig, gegenständlich, drei Zentimeter groß, rund, hinten gedrungen, vorne schmal, kleinerer Durchmesser, fühlt sich ganz gut an.

    "Denke ich doch auch, ist doch schön anzusehen."

    50 ist Hurni neulich geworden. "Keine politischen Statements", sagt er. Einer der Arbeiter erzählt, dass er früher Bäcker gewesen sei, bis er eine Mehlallergie bekommen habe. Außerdem verdiene er hier viel mehr. In einer achtstündigen Schicht produzieren sie 200.000 Patronen.

    "Brauchen wir das denn überhaupt? Leider ist die Welt nicht so gut, wie sie sich gerne gibt, das ist höchstens bei Philosophen so noch, aber leider ist die Realität ein bisschen anders."

    Die RUAG: 1999 wurde das Unternehmen aus verschiedenen Rüstungsbetrieben zu einer Aktiengesellschaft zusammengebacken, so nannte das die "Neue Zürcher Zeitung" vor kurzem. Das Tätigkeitsfeld wurde dadurch auf zivile Bereiche ausgeweitet, dieser Wandel geschah im Auftrag des Bundes, dem die RUAG immer noch zu 100 Prozent gehört.

    Die RUAG hat die Vorgabe der Produktionsausweitung etwa als Autozulieferer erfüllt und weist darauf hin, dass lediglich 39 Prozent ihrer Aufträge aus dem Departement für Verteidigung, Bevölkerungsschutz und Sport kommen. Wo Kriege geführt werden, sind allerdings auch Rüstungsprodukte der RUAG immer mit dabei.

    Markus Hurni, ledig, gebürtiger Westschweizer, gelernter Diplomkaufmann

    "und Jäger, passionierter Jäger und Schütze. Und darum hier."

    Bei der RUAG, das ist der Grund, der einzige.

    "Seit zehn Jahren."

    Schwarzes Haar, vorne links eine große breite graue Schläfe, in der Mitte der kurz geschnittenen Haarfrisur ein kleiner Wirbel, seine Gürtelschnalle ist so gülden wie die Patronen. RUAG heißt Rüstungsunternehmen AG.

    Und wie viel Munition produzieren sie nun für die Schweizer Armee?

    "Ahä, 30 Millionen Stück pro Jahr. Also das ist so ein bisschen eine Zahl, fragen Sie mich nicht mehr darüber, also das ist, wird auch nicht groß breit getreten, zirka 30 Millionen Gewehrpatronen, zirka 6 Millionen Pistolenpatronen."


    Das Ende des Kalten Krieges hat in der Schweiz eine kleine Sinnkrise ausgelöst, die noch immer nicht ganz überwunden ist. So lange die Welt politisch und militärisch eingeteilt war in Ost und West, wussten die Eidgenossen genau, wo sie standen: mittendrin und doch außen vor. Bewaffnete Neutralität, das war das Leitmotiv der Schweizer Außenpolitik bis 1989. Und dann war plötzlich alles anders: Die Welt sprach über Abrüstung, Globalisierung und ein zusammenwachsendes Europa. Die Schweiz stürzte darüber in eine Identitätskrise, ihre unbedingte Neutralität schien plötzlich nicht mehr zeitgemäß, und damit auch nicht mehr gebraucht zu werden. Also wurde diskutiert, gestritten und gehandelt. Die Miliz-Armee wurde verkleinert, die Schweiz trat der NATO-Initiative "Partnerschaft für den Frieden bei". Und zeitweise dachten Teile der politischen Führung sogar laut über einen Beitritt zur Europäischen Union nach.

    Aber das ging den meisten Eidgenossen dann doch zu weit. Außenpolitisch arbeitet das kleine Land nun weiter an einer Neuorientierung. Im Innern besinnt man sich derweil auf Traditionen: Selbstverteidigung und Wehrhaftigkeit bleiben in der Schweiz emotionsgeladene Begriffe. Kaum etwas erregt die Gemüter so sehr wie der Streit um die Verschärfung des Schweizer Waffenrechts.

    Die hartnäckigsten Gegner finden sich bei Pro Tell, nomen est omen. Pro Tell ist ein gemeinnütziger Verein, der ohne Wenn und Aber für die Beibehaltung des Status Quo plädiert. Schließlich geht es um die Wahrung der persönlichen Freiheit und damit um das Recht auf Waffenbesitz: Pistolen und Gewehre gehören immer dahin, wo das Volk ist, heißt es bei proTELL. Und die Macht, die hat bei uns nun mal das Volk, Zitat Ende. 1978 wurde proTELL gegründet. Neben 6000 Einzelmitgliedern gehören auch Clubs und Organisationen zum Verein. Alles in allem repräsentiert proTELL damit über 100.000 Mitglieder.



    Der Bewahrer: Willy Pfund, Waffenfreund und Vorsitzender von proTELL

    Das ist eine Menge.

    "Ja, der Schweizerische Schießsportverband hat 90.000 Lizenzierte, die berechtigt sind, zu schießen, und dann hat es noch viele andere Organisationen, die auch Hunderte und Tausende von Mitgliedern haben."

    proTELL hat Macht.

    "proTELL hat insofern Macht, als wir versuchen, mitzuarbeiten bei den Veränderungen des Waffenrechts. Wir haben bei Schengen, nicht weil wir gegen Schengen sind, weil Schengen hat ja auch Punkte, die wir unterschreiben können, es war aber alles im gleichen Dossier, und darum konnten wir nur für oder gegen Schengen sein, um unsere waffenrechtlichen Ansichten durchzusetzen, weil Schengen beinhaltete die Anerkennung der Waffenrichtlinie 91/4/77 EWG der EU."

    Und diese Richtlinie hätte Einschränkungen und Verschärfungen des Schweizerischen Waffengesetzes nach sich gezogen. proTell lehnte Schengen ab.

    Willy Pfund ist der Präsident des Vereins proTELL, Jahrgang 1939, ehemaliger Parlamentarier auf allen Ebenen inklusive Nationalrat von 1983 bis 1987, der rechtsliberal bürgerlichen Freisinnig Demokratischen Partei zugehörend, verheiratet, zwei erwachsene Kinder, Rentner.

    "Ich war Kaufmann, ich war stellvertretender Direktor des Bürgerspitals in Basel und war in der Milizarmee, aber habe ich meine Dienste bis und mit zum Grad des Major und bis und mit in den Armeestab geleistet."

    Willy Pfund. Silbergraues gescheiteltes Haar, grausilbernes Hemd, silberne Krawatte, dunkelgraue anthrazitfarbene Hose, schmale getönte Brille mit goldenem Halteband, graues Jackett, groß, 1,90. Gebildet, ruhig, besonnen.

    Die Regelung, die Tradition, dass jeder Bürgersoldat nach Ablauf seiner Rekrutenschule die Armeewaffe mit nach Hause nehmen darf, besteht erst seit dem Zweiten Weltkrieg.

    "Ja, ist richtig, ja."

    Als Reaktion auf den deutschen Einmarsch in Polen.

    "Und nach Ende ihrer Dienstpflicht dürfen sie unter gewissen Voraussetzungen, es muss einer gemäß Waffengesetz keine Hinderungsgründe haben, um die Waffe dann definitiv in seinen Besitz zu übernehmen, der Hinderungsgrund wäre zum Beispiel , wenn jemand zu Gewalttaten neigt, wenn jemand bereits ein Delikt begangen hat mit einer Schusswaffe oder wenn er entmündigt ist, das wären die drei Hinderungsgründe des Artikel 8 des Schweizerischen Waffengesetzes. Wenn er keine dieser Gründe liefert, dann darf er am Ende seiner Dienstpflicht seine persönliche Waffe mit nach Hause nehmen. Sie wird allerdings dann für das Seriefeuer untauglich gemacht, sie kann nachher nur noch im Einzelschuss wie jede andere Waffe eingesetzt werden, und sie ist gestempelt mit 'P', das heißt privat."

    proTELL ist gegen die Abgabe von Softairguns für Jugendliche, proTELL ist gegen Imitationswaffen.

    "Zum Aufwachsen benötigen unsere Kinder dies nicht. Dann kommt noch ein weiterer Punkt dazu: proTELL ist gegen jegliche Darstellung von Gewalt in den Medien, in den elektronischen Medien."

    Dass Waffen also gefährlich sind, dem würde er zustimmen?

    "Dass Waffen an sich gefährlich sind, stimme ich zu, aber wir sind der Auffassung, es ist nicht die Waffe, die tötet, sondern es ist der Mensch, der sie entsprechend einsetzt."

    Die Zahlen, sagt Pfund, die Schweizer Suizidzahlen pro Jahr, die Delikte in den Familien, die 50 bis 60 Schweizer Frauen, die jedes Jahr durch Beziehungstaten ihr Leben lassen, müsse man, zumal es keine verlässlichen Zahlen von Suiziden sowie Tötungen durch Ordonanzwaffen, durch Militärwaffen, gebe, ins Verhältnis setzen.

    "Wir haben in der Schweiz zwei, drei Millionen Autos, wir haben 500 bis 600 Tote pro Jahr. Auch wenn einige Tote durch Aggressivität des Fahrers zu Stande gekommen sind, werden nicht alle Autos verboten. In der Schweiz haben wir pro Jahr 75 Millionen Patronen, die ordnungsgemäß, verantwortungsbewusst im Schießwesen, im sportlichen, breitensportlichen, spitzensportlichen Schießwesen, auf der Jagd, beim Metzger et cetera benützt werden. Und von diesen 75 Millionen sind im Jahre 2005 48 missbraucht worden. Und die restlichen Tötungsdelikte geschahen mit Messern, mit Seilen, mit Präparaten et cetera. Das waren 213 Tötungsdelikte in der Schweiz. Und 48 Patronen wurden für Delikte missbraucht.

    Bei den Suiziden ist es so, dass im Jahr 2004 1284 Suizide, das ist eine statistische Zahl des Bundesamtes für Gesundheit, ergangen sind, und davon waren 272 mit Waffen, also ungefähr 2,23 Prozent, und wenn Sie die jetzt ins Verhältnis setzen zu diesen 75 Millionen Patronen, die ordnungsgemäß pro Jahr verschossen werden, dann muss man sagen, das bewegt sich in einem Bereich, den man auch mit einem gewissen Risiko des Lebens bezeichnen muss, weil: Alle anderen Lebensbereiche haben ebenfalls ihre Gefährlichkeit durch Missbrauch, so wenn da jemanden jemand ersticht, erschlägt et cetera, das kann man auch nicht total eliminieren."

    Pfunds Körpersprache bleibt aufrecht und gerade. Provokation prallt an ihm ab, stetig steht der gelernte Bankkaufmann im Dienst der Sache, und sein ruhiges Mienenspiel verleiht dieser Sache Nachdruck. Er ist seit 2002 bei proTELL. Man suchte einen neuen Präsidenten, der politische Beziehungen hat. Die hat Pfund mit seinem ehemaligen Mandat in Bern.

    "Und darum ist man auf mich gekommen, und ich habe aus dieser Überzeugung, dass wir verantwortungsbewusst genug sind und dass wir unsere Freiheit seit 1292 mit der Waffe erstritten, mit der Waffe beharrt und eben Verantwortung bewusst ausgeübt haben, aus dieser Überzeugung habe ich diese Funktion übernommen.

    Also in diesem Sinne ist eine schnelle Reaktion nötig, und eine schnelle Reaktion kann nicht sein, wenn ich in Chur oben arbeite, meinen Rucksack in Basel habe und mein Zeughaus, wo ich ausgerüstet werde ist vielleicht in Bern, dass ich zuerst noch via Zeughaus meine Waffe holen muss, sondern ich habe alles beieinander, das ist das Milizsystem, das Ausrüstungssystem diese Milizsystems."

    Pfund hat einige Waffen zu Hause, historische und nicht historische.

    "Ja, ich habe Waffen zu Hause, ich habe sie eingeschlossen in einem Panzerschrank, ich habe etwa 12, 13 Waffen. Die sind alle schön säuberlich eingeschlossen."

    Er war zwölf Jahre lang Präsident des kantonalen Schützenverbandes Solothurn, als konservativen Menschen im Sinne der Bewahrung der Traditionen würde er sich nicht bezeichnen.

    "Nein, ich bin ein, ich würde mich als politischen Menschen bezeichnen, der das Bewährte behalten will, aber der auch bereit ist, auch der Zeit entsprechend Schritte nach vorne zu unternehmen. Also mit einem Satz: Das Bewährte behalten und das Nötige für eine gute Zukunft einleiten, das ist für mich kein Widerspruch."


    "Hat es nicht geschossen, Franz? habe sie ihren Mann gefragt. Es schießt ja die ganze Zeit, Irene, habe er geantwortet, da hinten ist der Schießstand, wo wir eben vorbeigegangen sind. Aber es hat anders geschossen, habe sie geantwortet.

    Bei dieser Unterhaltung seien sie durch einen Spaziergänger unterbrochen worden, der auf sie zugekommen sei, dort zwischen den Bäumen hervor. Auf dem Rücken habe er einen dunklen Fleck gehabt, der mit jedem Schritt größer geworden sei. Franz, habe sie gerufen, der blutet ja! Und nun habe sie, Irene Kienast, ganz deutlich das Loch in seinem Rücken gesehen. Dann habe sie zu ihrem Mann gesagt: Franz, es ist ja doch geschossen worden!

    Sie haben den Täter fliehen sehen, stellte der Reporter fest, flüchtig haben Sie ihn gesehen, war er alt oder jung?

    Hören Sie, sagte Herr Kienast, was wir wissen, haben wir der Polizei gesagt, und mehr wissen wir nicht.

    In welcher Welt leben wir? Das war die erste Frage der alten Frau, als die Helfer endlich eintrafen. Es war nicht die Ambulanz. Auch nicht die Polizei. Es waren die Männer einer Pistolenschützen-Vereinigung, die im nahen Schießstand ihr monatliches Training absolvierte. Zur Selbstverteidigung! Denn es waren Journalisten.

    Pikant: Auch das Opfer ist Journalist. Er war bis vor kurzem als Gerichtsberichterstatter beim "Tagblatt" tätig. Dort hat er sich mit seinen kritischen Ansichten über unsere Rechtspflege einen Namen gemacht. Und nicht nur Freunde."

    In der Schweiz gibt es bezogen auf die Bevölkerungsgröße mehr tödliche Ehe- und Familiendramen als in den USA. Fast immer handelt es sich bei der Tatwaffe um zu Hause deponierte Armeewaffen. Hinzu kommen Schützen, Jäger und Sammler, die oftmals gleich mehrere Gewehre im Schrank stehen haben. Wie viele Schusswaffen insgesamt in Schweizer Haushalten gebunkert werden, weiß niemand so ganz genau. Sicher ist aber, dass Schusswaffen in der Schweiz bei Beziehungsdramen überdurchschnittlich oft eine Rolle spielen. Die Gegner machen nun mobil: Vor allem Frauen haben in den letzten Monaten eine Diskussion über die Waffentradition losgetreten, die es in dieser Form in der Schweiz noch nie gab.

    Immer wieder fordern Friedensverbände, aber auch Linke und Liberale, die Einführung eines allgemeinen Waffenregisters und ein Verbot der Aufbewahrung von Gewehren im eigenen Hause. Im letzten Jahr kochte diese Diskussion in der Schweiz hoch wie noch nie. Auslöser ist der Mord an dem Skirennstar Corinne Rey-Bellet. An einem Sonntagabend im April 2006 erschießt ihr Ehemann die schwangere 34-Jährige mit seiner Armeewaffe. Wenige Tage später begeht er, ein Banker und früherer Armee-Hauptmann, Selbstmord. Ein tragisches Einzelschicksal sei das, finden die Waffenbefürworter, ein Einzelschicksal, das aber nicht zur Entwaffnung eines ganzen Volkes führen dürfe.

    Dennoch erreichte die Debatte den Nationalrat, das schweizerische Parlament. Die Frauenzeitschrift "Annabelle" hatte zunächst 17.000 Unterschriften gesammelt und anschließend eine Petition im Nationalrat eingebracht. Der sagte allerdings nein, und so bleibt der Status Quo vorerst erhalten. Anita Fetz hofft nun auf den kommenden Sommer. Da wird sich der Ständerat, die kleine Kammer des Parlaments, noch einmal mit dem Waffengesetz beschäftigen. Anita Fetz ist Sozialdemokratin, Mitglied im Ständerat, und eine entschiedene Gegnerin der geltenden Rechtssprechung.



    Die Gegnerin: Anita Fetz, Parlamentarierin und Vorkämpferin für schärfere Waffengesetze

    Basel: Anita Fetz ist Ständerätin aus Basel, am Rhein, Oberer Rheinweg.

    "Ja, guten Morgen ist zu spät. Guten Nachmittag hier in Basel, halbschönes Wetter."

    Immerhin scheint die Sonne. Anita Fetz.

    "In zwei Wochen 50."

    Hier hat sie als Inhaberin einer Firma für Organisations- und Karriereberatung ihr Büro. Sie ist Historikerin und Ökonomin. Sie kommt aus Basel und lebt in Basel. Verheiratet. Der Ständerat:

    "Der Ständerat ist vergleichbar mit dem Senat in Amerika, das ist bekannter, nicht vergleichbar mit dem Pendant in Deutschland."

    In den Ständerat wird man vom Volk gewählt, jeder Kanton hat zwei Sitze, ein Halbkanton einen.

    "Ein Halbkanton wie meiner zum Beispiel, also das heißt, ich bin die einzige Ständerätin des Kantons Basel-Stadt."

    Seit drei Jahren. Als erste Frau des Halbkantons.

    Blauer Hosenanzug beziehungsweise blaue Popelin-Hose und blaues Baumwolljackett mit blauer Rose, blaue Schuhe, halblang strubbeliges Haar, goldene Halskette, Brille. Oben mit, unten ohne Rand. Blaue Netzstrümpfe. Links und rechts ein Ring am jeweiligen Ringfinger.

    Sie gehört zu denen, die für die Einführung des Frauenwahlrechts gekämpft haben. 1971 war es damit dann so weit. Der letzte Kanton, der das Frauenwahlrecht einführen musste, war Appenzell.

    "Appenzell, ja, '91. Ja, das sind so die kleinen Kuriositäten eines reichen, vielfältigen, kleinen Landes."

    In den Schweizer Haushalten lagern momentan 1,6 Millionen Ordonanzwaffen verschiedener Generationen inklusive Munition.

    "Und das ist natürlich ein häusliches Sicherheitsproblem geworden."

    In doppeltem Sinne. Erstens: die Suizidrate. Laut Bundesamt für Statistik töten sich in der Schweiz pro Jahr 27 Männer und 9 Frauen von 100.000 Einwohnern. In der Europäischen Union sind es durchschnittlich 21 Männer und 5 Frauen. In der Schweiz erschießt sich jeden Tag ein Mensch.

    Zweitens: die so genannten Beziehungstaten. In der Schweiz werden pro Jahr 85 Menschen ermordet. Weit mehr als die Hälfte dieser Delikte geschehen innerhalb der Familie. Die Mörder sind meist Männer, pro Jahr verlieren 50 bis 60 Frauen in diesen Beziehungstaten ihr Leben, durch Privat- und durch Armeewaffen.

    "Auch, beides. Die Leute sagen natürlich immer, ja, wenn die Armeewaffe nicht mehr da ist oder mit Munition nicht mehr bestückt worden ist, dann ist es einfach, auf dem Schwarzmarkt andere Munition zu kaufen oder andere Waffen. Das stimmt, aber es ist ein totaler Unterschied, und das bestätigen sämtliche Fachleute, die damit zu tun haben, ob in einem Beziehungsdelikt, besser gesagt, ja, in einer Auseinadersetzung jemand, und das ist meistens der Mann, so austickt, dass er so zusagen out of order ist und in diesem psychisch völlig überdrehten Zustand auch noch innerhalb von Sekunden Zugriff zu einer Waffe hat."

    Im Affekt, möglicherweise.

    "Es ist keine Garantie dafür, dass keine Gewalt mehr gegen Frauen stattfindet, aber mir geht es darum, dass diese Affekthandlungen, die eben viel vorkommen, auch zumindestens kappen, und dann ist natürlich die Problematik, und das ist ein Riesentabu in der Schweiz, dass die Tatsache , dass eine Waffe im Haus ist, auch dazu führt, dass in den Auseinandersetzungen in Familien auch ein Drohungspotenzial da ist, das öffentlich gar nicht bekannt ist, einfach bei Auseinandersetzungen, die es in Beziehungen gibt."

    Anita Fetz holt Post und E-Mails, die sie von Männern und Frauen zu diesen Themen bekommen hat. Die viele anonyme Post und die vielen anonymen Mails sprechen eine eindeutige Sprache.

    "Jeden Monat geschieht in der Schweiz, das wird dann medienmäßig so genannt, ein Familiendrama, also übersetzt auf eine einfache Sprache heißt das: Ein Vater tickt aus und bringt seine Frau und seine Kinder um. Das gibt es in anderen Ländern auch, aber hier gibt es noch Armeewaffen mit Munition, so das dass ganz nahe ist."

    Ihr weht, politisch, aus dem Inneren des Parlamentes, aus dem, wie sie sagt, Altherrengremium dieses mehrheitlich männlichen, vom Kalten Krieg geprägten Jahrgangs, von den Konservativen, den Liberalen sowie den Christlich-Demokratischen ein heftiger Wind entgegen.

    "Die haben diese Bilder im Kopf, immer noch, der Russe kommt, also muss ich sofort mich und meine Familie verteidigen können, schlimmsten Falls mich und meine Familie erschießen können, bevor der Russe da ist. Und darüber kann man nicht offen reden, das sind Bilder, die sind beim Bauch und weiter unten abgelagert, und da braucht es noch ein bisschen Zeit. Den Tellen-Mythos, Wilhelm Tell, der sich und seine Familie freischießt, ist einfach schon ein paar Jahrhunderte her, aber das ist tief verankert mindestens in bestimmten Generationen."

    Die Armeewaffe im Kleiderschrank war während der Generalmobilmachung im Zweiten Weltkrieg dazu gedacht, sich mittels ihrer zur Truppe durchzuschlagen. Frau Fetz kommt in Fahrt.

    "Also stellen Sie sich mal vor, ich habe das in der Militärkommission auch versucht, ganz praktisch darzustellen, ich habe gesagt, wenn die Generalmobilmachung käme, ja sollen dann die Banker in Zürich in die Tram steigen und nach Hause fahren und wie soll das denn überhaupt praktisch gehen? Da bricht ja zuerst mal der Verkehr zusammen, als zweites bricht die Telefonleitung zusammen, also wenn ihr das wollt, dann muss man das auf Mann tragen, und sonst ist das ein Witz."

    Zumal, wenn der Russe heutzutage kommt, dann kommt er mit Geld.

    "Das ist dann noch ne andere Geschichte. Aber ich sage, ich mache meinen Fokus: Munition weg. Man muss auch wissen, warum ich diesen Vorstoß gemacht habe, wir haben ja eine berühmte Skifahrerin gehabt, die letztes Jahr von ihrem Mann, absolut integrierte Persönlichkeit, erschossen worden ist, Banker, Offizier","

    durch die Wehrpflicht und einer ein Jahr dauernden Grundausbildung gedeckt.

    ""Beziehungskonflikt, wirklich wie es in 1000 von Familien vorkommt. Und er hat sie erschossen mit seiner Offizierspistole."

    Corinne Rey-Bellet hieß die Skifahrerin - im dritten Monat schwanger. Ihr Mann war Georg Stadler, Angestellter bei Credit Suisse. Der beging nach der Tat Selbstmord.

    "Das war der erste prominente Fall, darum hat man das überhaupt zur Kenntnis genommen. Und dann hat man recherchiert und gesehen, das kommt alle Monat ein- bis zweimal vor, dass in der Schweiz Ehemänner ihre Frau und Kinder erschießen, weil sie Probleme an der Arbeit haben oder Probleme in der Familie. Und erst dann ist das Thema Armeewaffe gekommen. Und das muss weg."


    "Zeugenaufruf
    Donnerstag, den 20. April, wurde nach 14 Uhr auf dem Fußweg, der von der Tramendstation Laubholz Richtung Widenbach führt, in der Nähe des Schützenhauses auf einen 64-jährigen Mann ein Schuss, vermutlich aus einem alten Ordonanz-Karabiner, abgegeben, der den Mann in die Brust traf. Inzwischen befindet er sich außer Lebensgefahr. Die Stadtpolizei bittet allfällige Zeugen des Vorfalls um Hinweise, die zur Ermittlung der Täterschaft führen können.

    So lag Sutter, isoliert und nur pflegedienstlich besucht, auf ungewohnter Höhe, die ihm vom Bett aus das Theater eines bewegten Wolkenhimmels zu bieten hatte. Sonst machte er von keinem Angebot Gebrauch: Kein Fernsehen, kein Radio, nicht einmal ein Buch von der rollenden Bibliothek. Auch das Telefon klingelte nie, natürlich auch nicht um 23 Uhr 17, und er dachte nicht daran, es zu benützen. Allmählich glaubte er in der Distanz, mit der man ihm begegnete, eine Spur Mitleid zu finden.

    Nach seinem Zimmerbezug meldete sich eine Dame der Administration. Die junge Frau schien nicht mehr zu wissen, welche seiner Angaben sie ernst nehmen konnte. Ob er einer Sekte angehöre? Eine positive Antwort, dachte er, würde sie ebenso erleichtern wie seine Mutter.

    Nun brauchte sie einen Eintrag für seinen Beruf.

    Schreiben Sie 'alt Journalist'.

    Sie hielt, ohne aufzublicken, inne, um ihm Gelegenheit zu geben, den Unfug zu lassen.

    Kokettieren Sie nicht mit ihrem Alter, Sie sind 66, entschied die junge Dame. Also: Journalist, pensioniert.

    Würden Sie mir eine Schwester rufen, sagte er. Mir ist kalt.

    Die Klingel hängt über Ihrem Kopf.

    Danke, sagte er.

    Sie brauchen mir nicht zu danken, sagte sie und stakte auf Plattformsohlen hinaus.

    Kein Wunder, dass man auf den geschossen hat."


    Bis an die Zähne bewaffnet seien sie und freiheitsliebend wie kein anderes Volk, so stellte Niccolä Machiavelli schon 1513 über die Schweizer fest. Bis in die Gegenwart wird dieses Bild mit Hingabe gepflegt. Noch 1983 argumentierte der Bundesrat, also die Regierung, in ihrem Rüstungsprogramm:

    "Der Einzelkämpfer muss im modernen Gefecht seine persönliche Waffe in allen Gefechtslagen rasch, mit großer Feuerkraft und geringer Einschränkung seiner Beweglichkeit einsetzen können. Für den Kampf im Wald und im überbauten Gebiet drängt sich deshalb der Einsatz einer kürzeren und handlicheren persönlichen Waffe auf."

    Wenn er denn Waffen mag, ist der Schweizer bis heute stolz darauf, eine tragen zu dürfen. Dass er sie sogar mit nach Hause nehmen darf, gilt gemeinhin als demokratische Errungenschaft: Seht her, wie uns unser Staat braucht und vertraut.

    Bruno Frey ist ein ehemaliger Wehrmann. Und damit eine Art Bürgersoldat. Das so genannte Obligatorische, bei der Schweizer Armeeangehörige einmal pro Jahr unter Beweis stellen müssen, dass sie noch schießen können, dieses Obligatorische muss Bruno Frey nicht mehr erfüllen, dafür ist er inzwischen zu alt. Aber auf einen der vielen Schießübungsplätze, die es in der Schweiz gibt wie Sand am Meer, geht Bruno Frey immer noch gerne. Ein Besuch in seinem Zuhause. Bei ihm und seinen Waffen.



    Der Wehrmann: Zuhause bei Bruno Frey und seinen Waffen

    Möhricken-Wildeck: ein Dorf, ein modern umgebauter Hof, das ehemalige Bauernhaus seines Schwiegervaters.

    In der Mitte des Kantons Aargau, Nordschweiz. Bruno Frey, eine Tochter, einen Sohn, der macht gerade den Führerschein, arbeitet in Zürich. Zürich ist 38 Kilometer entfernt. Frey ist eidgenössisch diplomierter Betriebsfachmann Druckformenherstellung. Er hat andere Tätigkeiten ausgeübt. Und im Moment?

    "Im Moment bin ich Integrationsberater einer privaten Integrationsfirma. Wir versuchen im Auftrage der Unfallversicherungen hier in der Schweiz wieder ins Berufsleben zurückzuintegrieren."

    Frey arbeitet häufig von hier. Im Wohnzimmer. Unterhalb der Küche. Viel Holz, durch ein großes Fenster blickt man in den kleinen Garten vor dem Haus.

    "Ich bin parteilos, aber ich stimme SVP-nahe."

    Die SVP ist die Schweizerische Volkspartei. Konservativ, populistisch - manche nennen sie reaktionär - vertritt sie das Prinzip der bewaffneten Neutralität. Unter dem Einfluss von Christoph Blocher wurde sie 1999 zur stärksten politischen Kraft.

    Seine Ordonanzwaffe.

    "Die habe ich zu Hause, ja."

    Würde er sie zeigen?

    "Ja natürlich, ich habe sie bereits aus dem Tresor genommen, damit wir keine Zeit verlieren, ich kann Ihnen auch zeigen, also hier wäre sie ursprünglich, das ist der Tresor, abgeschlossen, und ich habe aber mich vorbereitet, ich habe die Waffe, ich bringe sie gleich runter. Wenn Sie möchten, können sie."

    In den ersten Stock, in sein Büro.

    "Das ist unser Büro, ja."

    Und in der rechten Hand hat der Mann plötzlich

    "meine Ordonanzwaffe, ja. Eine Pistole. Eine Pistole Kaliber neun Millimeter. Das Gewehr habe ich in einem anderen Schrank, aber das ist nicht die Ordonanzwaffe, das ist nur eine Leihwaffe, die habe ich zum Gebrauch, so lange ich einfach die Schießanlässe besuche, aber meine persönliche Waffe, die ich seit meinem 21. Jahr mein Eigen nenne, sage ich jetzt mal, die habe ich jetzt zum Eigentum erhalten."

    Die Pistole trägt ein "P" für privat.

    "Und ein Attest dazu, dass ich befugt bin, diese Waffe zu besitzen und auch zu benutzen."

    Zu was?

    "Benutzen?"

    Würde er sie auspacken?

    "'49, Jahrgang '49, 1949."

    Die Pistole.

    Frey, dieser drahtige Mann mit kurzem Haar, der stets auf dem Sprung zu sein scheint ist 53. Die Pistole ist älter als er. Und sie funktioniert.

    "Ja, ja. Also ich schieße jetzt hier nicht, ich habe erst vor, ja, zwei Wochen das letzte Mal geschossen."

    Sie ist nicht entsichert.

    "So ist sie entsichert, aber es passiert nichts, weil: Sie ist nicht gespannt."

    Noch Mal? Wo ist das Gewehr?

    "Das ist in einem Abstellraum, eingeschlossen, aber dort hat es noch andere Sachen, mein Sohn hat dort auch seine Sachen, das möchte ich Ihnen lieber nicht zeigen."

    Für Frey sind diese Waffen völlig normal.

    ""Ich kenne nichts anderes, mein Vater hat das so gehabt, ich habe das so, mein Sohn wird das eben so haben und so weiter."

    Und für seine Frau ist es auch normal.

    ""Meine Frau hat auch schon das Feldschießen geschossen, sie hat auch schon Pistole geschossen, das ist völlig normal."

    Wieder unten in der Küche: Vor der kleinen Kochzeile steht ein Tresen, vor dem Tresen der Esstisch.

    Freys Frau Regula, 49, blond, zierlich und zurückhaltend, kommt hinter dem Tresen hervor.

    "Ich bin so aufgewachsen, wir hatten immer, mein Vater hatte immer eine Waffe zu Hause, für mich war das ein Sport, ja. Kein Problem."

    Die Tochter, 20 inzwischen.

    "Sie schießt auch."

    Sie schießt auch?

    "Ja."

    Die Schweiz ist wehrhaft, was!

    "Das ist nötig, weil 'Zu hause muss beginnen, was leuchten soll im Vaterland', ist ein alter Spruch und hat immer noch Gültigkeit."

    Wer sollte die Schweiz überfallen?

    "Ich würde es keinem anraten, wobei, wissen Sie, ich bin auch nicht immer bereit, ich hoffe nicht, dass heute Abend ein Einbrecher mich bedroht, das ist niemandem zu wünschen. Und wenn die Überraschung auf der Seite eines allfälligen Einbrechers ist und der mir etwas will oder meiner Familie, dann ist das möglich, ich bin ja nicht, wir sind ja nicht im Krieg."

    Mit der Frage, wer die Schweiz überfallen soll, waren die so genannten äußeren Feinde gemeint.

    "Also im Moment, im Moment sind wir von Freunden umzingelt, wie man immer wieder lesen kann, aber wenn Sie die Geschichte zurückverfolgen, ist das nicht ein Zustand, der fest versiegelt und geschrieben ist, dass das auch in alle Ewigkeit so bleibt."


    Literatur:

    Adolf Muschg, Sutters Glück
    Suhrkamp: Frankfurt a.M., 2001