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Gemeinsam lernen und arbeiten

Auf der Nationalen Konferenz zur inklusiven Bildung waren sich Politiker, Pädagogen und die Vertreter der Behindertenverbände einig: Ein völliges Umdenken sei nötig, damit in Zukunft nicht "für", sondern "mit" Behinderten gehandelt werde.

Von Jürgen König | 18.06.2013
    "Inklusion" meint das Zusammenleben von Behinderten und Nichtbehinderten? Eben nicht nur!, sagt Swantje Köbsell, Erziehungswissenschaftlerin der Universität Bremen mit dem Schwerpunkt Behindertenpädagogik.

    "Inklusion ist ja eigentlich die Wertschätzung und Anerkennung für alle, unabhängig von Alter, Hautfarbe, Herkunft, Religion, Geschlecht und Beeinträchtigung. Die Diskussion in Deutschland dreht sich aber in der Regel um die Inklusion von Kindern und Jugendlichen mit Beeinträchtigung in die Schule, was natürlich viel zu eng gefasst ist. Es ist festzustellen, dass es doch immer noch eine starke Dominanz eines sehr defizitorientierten Behinderungsmodells gibt. Behinderung wird doch sehr oft immer noch als tragisches Schicksal gesehen und behinderte Menschen nicht als Träger und Trägerinnen von Rechten, von Menschenrechten."

    Mit der Folge, dass "für" Behinderte gehandelt werde, nicht aber "mit" ihnen. So werde Behinderung immer als soziales Problem angesehen, das durch besondere Maßnahmen gelöst werden müsse. Ein völliges Umdenken sei nötig - darin waren sich die auf der "Nationalen Konferenz zur inklusiven Bildung" versammelten Vertreter der Behindertenverbände, Pädagogen, Wissenschaftler, Politiker ebenso einig wie darin, dass dies ein "langer Prozess" werden wird, bei dem "alle Pädagogen mitgenommen werden müssen". Zum Beispiel die der August-Hermann-Francke-Schule in Halle an der Saale, einer Sekundarschule, die Kinder von der fünften bis zur zehnten Klasse unterrichtet und zu einem Hauptschul- oder Realschlussabschluss führt. Unter "Inklusion" versteht die Schulleiterin Margit Dreißigacker das Miteinander aller Lehrkräfte und aller Schüler - mit und ohne Behinderung, Lernschwäche, Verhaltensauffälligkeit, Migrationshintergrund. Den Weg zu einer "inklusiven Schule" hätten die Gegebenheiten geradezu erzwungen.

    "Weil wir festgestellt haben, dass die Heterogenität immer, immer mehr wird, wir haben also eine ganz bunte Vielfalt bei uns, und weil das so ist, müssen wir uns verändern als Schule, und deshalb sind wir auf den Weg gegangen."

    Einige Vorteile lägen auf der Hand:

    "Wenn ich an die Kinder denke mit einer Lernbehinderung, die fallen in diesen Klassen nicht auf. Das Miteinander ‚Schüler lernen vom Schüler‘ ist eine Bereicherung sowohl für das Kind mit der Lernbehinderung als auch für das Kind, dem das Lernen leichter fällt, und beide hier zusammenzubringen, ist eine Bereicherung, für jeden von ihnen."

    Jörg Jakobi ist ausgebildeter Sonderschullehrer und arbeitet jetzt auch an der August-Hermann-Francke-Schule in Halle; er soll sich um die Förderschüler kümmern, vor allem aber das Lehrerkollegium beraten.

    "Schwerpunkt war es, den Lehrern Wege zu zeigen, wie sie mit Schülern, die Probleme machen, weil sie ja selber Probleme haben, die Schüler, besser zurechtkommen. Da haben wir also konkret daran gearbeitet, dass wir versucht haben, gemeinsam mit den Regelschullehrern die Arbeiten, die Klassenarbeiten so umzuschreiben, dass sie für alle, für fast alle Schülertypen zu schreiben sind. Ob nun nach oben differenziert oder nach unten differenziert …"

    Vor allem dieses "nach unten Differenzieren" führen viele Kritiker als Argument gegen die inklusiven Schulen ins Feld: Diese würden oft genug gar nichts anderes tun können, als die allgemeinen Anforderungen zu senken, wodurch die leistungsstarken Schüler nicht hinreichend gefordert und gefördert werden würden. Doch solche Stimmen hörte man selten auf dem "Nationalen Kongress zur inklusiven Bildung", allenfalls in den Pausen, hier und da hinter vorgehaltener Hand. Die UN-Behindertenrechtskonvention von 2009, so der allgemeine Tenor, schreibe ein integratives Bildungssystem ohnehin vor, die Richtung sei damit klar.
    Hubert Hüppe, der "Beauftragte der Bundesregierung für die Belange behinderter Menschen":

    "Es geht nicht um Sonderpädagogen, um Förderschulen, sondern die Frage: Wo findet die Förderung statt? Gemeinsam oder getrennt? Muss der Mensch getrennt werden, um Sonderpädagogik zu haben? Ich war vorgestern in einem Förderkindergarten, da waren gehörlose Kinder, schwerst mehrfachbehinderte Kinder, alle Sorten von Kindern, nur eine nicht: nämlich die nicht behinderten Kinder. So – und für mich erklärt es sich nicht, warum zwar ein gehörloses Kind mit einem schwerst mehrfachbehinderten Kind zusammen sein kann, aber nicht ein hörendes Kind. Wir haben eben gesagt, Inklusion/gemeinsamer Unterricht ist ein Menschenrecht. Und da kann ich nicht warten, bis der Letzte das auch noch verstanden hat!"
    Neben dem Abbau bürokratischer Hindernisse und der Professionalisierung der Lehrerinnen und Lehrer sei vor allem die Aus- und Weiterbildung der "Expertinnen und Experten in eigener Sache" erforderlich: Sehr viele behinderte Menschen würden über "langjährige professionelle Erfahrungen" in der Interessenvertretung, in der Beratung und Unterstützung behinderter Menschen und ihrer Familien verfügen, sie gelte es besonders zu unterstützen – als Bestandteil "gelebter Inklusion" in einer Gesellschaft, in der jeder ein Teil des Ganzen ist.