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Gemeinsam unterschiedlich

Etwa eine halbe Million Kinder und Jugendliche in Deutschland sonderpädagogischen Förderbedarf. In Sportvereinen sind aber nur ein Zehntel von ihnen aktiv. Der Wettbewerb "Jugend trainiert für Paralympics" soll eine Brücke zwischen Schule und Verein schlagen.

Von Ronny Blaschke |
    Sabine Kuxdorf wirft sich auf den Boden und streckt ihre Arme aus. Aus der gegnerischen Hälfte rollt der Spielball auf sie zu. Sabine Kuxdorf ist blind, sie kann den Ball, in dem kleine Klingeln befestigt sind, nur hören. Sie konzentriert sich, schiebt sich einen Meter nach rechts, pariert den Ball. Dann richtet sie sich auf, aus der Verteidigung in den Angriff, und rollt die Kugel wuchtig aufs gegnerische Tor. So geht es beim Goalball hin und her, dem beliebtesten Ballsport für Menschen mit Sehbehinderung.

    "Ich mache sehr gerne Sport. Und mir macht es halt sehr viel Freude, zu Turnieren zu fahren und auch neue Leute kennenzulernen, gegen andere Mannschaften anzutreten. Ich finde, das Schöne ist, dass Goalball wie eine Familie ist. Es hat mir viel Teamgeist gegeben. Dass ich gelernt habe, dass man gemeinsam verliert und gemeinsam gewinnt. Dass man sich gegenseitig aufbauen kann. Dass man aber auch mal aussprechen kann, wenn etwas nicht funktioniert."

    Sabine Kuxdorf ist 17 Jahre alt, mit ihrem Gymnasium aus Marburg hat sie an einem Wettbewerb teilgenommen, der immer größer wird: "Jugend trainiert für Paralympics". Das Sportfest fand in Berlin erstmals mit dem großen Vorbild statt: "Jugend trainiert für Olympia" gilt als der größte Schulsport-Wettbewerb der Welt, mit 800000 Kindern und Jugendlichen. In zwanzig Berliner Sportstätten kamen nun für das Frühjahrsfinale rund 3000 Schüler zusammen. Jugendliche mit und ohne Behinderung traten in unterschiedlichen Sportarten an, doch erstmals profitierten sie von derselben Infrastruktur und derselben Betreuung.

    "Also wenn Sie jetzt zum Tischtennis gehen, die spielen in einer Halle. Wenn Sie reinkommen, ich hatte große Probleme, vielleicht zehn Minuten zu suchen, wo sind meine Leute? Und das ist auch gut so: man findet sie nicht mehr. Das ist einfach ein ganz normales Turnier. Da sind eben einige Behinderte dazwischen, nein, es sind Tischtennisspieler. Auch der Begriff gefällt mir schon gar nicht mehr, Behinderte, sondern dort spielen junge Menschen auf ihre Art, wie sie halt können, gemeinsam Tischtennis, machen Sport."

    Norbert Fleischmann stand bis vor kurzem der Deutschen Behindertensportjugend vor, seit Mitte der neunziger Jahre hatte er sich für "Jugend trainiert für Paralympics" eingesetzt. Das erste Bundesfinale fand 2010 im Sportzentrum Kamen-Kaiserau statt, in Nordrhein-Westfalen. Seitdem ist das paralympische Sportfest rasant gewachsen. Es soll den Sport in den Förderschulen stärken, aber auch auf Probleme hinweisen: auf Lehrermangel, knappe Hallenkapazitäten, fehlende Unterrichtsmaterialien. Noch sind Jugendliche mit Behinderung in Vereinen stark unterrepräsentiert, das soll die Brücke Schulsport ändern. Vor allem vor dem Hintergrund der Inklusion, der gleichberechtigten Teilhabe. Wie lässt sich die Annäherung der Schulsport-Wettbewerbe auch auf die Vereinslandschaft übertragen?

    "Was wir brauchen, sind viele Gespräche auf der unteren Ebene, Kreissportverbände, dort die Vereine zusammenzuholen. Und zu fragen: Wo gibt es Möglichkeiten? Habt Ihr es schon mal probiert? Auch der Behindertensportverband, der muss auch die Chancen nutzen, um zu sagen: Wir können uns ja auch öffnen, wir können ja auch Angebote machen für andere, wenn wir Hallenkapazitäten haben."

    Sebastian Holzheu gehörte in Berlin zu den talentiertesten Spielern im Rollstuhlbasketball. Der 15-Jährige stammt aus Renningen bei Stuttgart, er leidet am sogenannten Proteus-Syndrom. Holzheu geht auf eine Privatschule, auf der mehrheitlich Schüler mit Behinderung unterrichtet werden. Das war nicht immer so. Als Grundschüler ging er auf eine Regelschule, in seinen Klassen war er meist der einzige Schüler mit Behinderung.

    "Da waren es noch nicht mal die Schüler, die krass waren, sondern es waren die Lehrer. Die Lehrer haben jetzt nichts Spezielles gesagt zu mir, aber die Lehrer haben zum Beispiel bei Ausflügen gemeint, der kann da nicht mit, weil er da nicht hinterher kommen würde. Meine Mutter hat sich da aber immer eingesetzt, auch manchmal bei den Lehrern beschwert und ich bin trotzdem überall mitgekommen."

    Der Erziehungswissenschaftler Ulf Preuss-Lausitz trifft für Nordrhein-Westfalen folgende Prognose: 2021 können 85 Prozent aller behinderten Kinder auf eine Regelschule gehen, zurzeit liegt diese Quote bei knapp 20 Prozent. Diese Zahlen variieren bundesweit, trotzdem stehen alle Länder vor großen Hürden, wie eine Studie der Bertelsmann-Stiftung nahe legt. So werden für einen angemessenen inklusiven Unterricht 9300 zusätzliche Lehrkräfte gebraucht, das würde jährlichen Kosten von 660 Millionen Euro entsprechen. Norbert Fleischmann, einer der Wegbereiter für "Jugend trainiert für Paralympics".

    "Man kann nicht ein Ziel postulieren, was absolut okay ist, dann aber nicht die Lehrer dafür haben und nicht die Ausbildung. Es wäre parallel oder vorher dringend notwendig gewesen, mit Fortbildung zu beginnen. Denn wir werden Jahre brauchen, bis eine Generation von jungen Lehrern ausgebildet ist, auch wirklich im Sport auf dieses Klientel einzugehen."

    Ende September findet in Berlin das Herbstfinale statt von "Jugend trainiert für Paralympics", im Fußball, Schwimmen und in der Leichtathletik. Noch ist der Wettbewerb nicht repräsentativ für den Sport von Jugendlichen mit Behinderung, noch steht er am Anfang. Doch er lässt erahnen, was in einigen Jahren möglich sein wird.