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Gemeinsam wachsen

Argentinien zählte einst zu den Ländern Lateinamerikas mit einem vorbildlichen Erziehungswesen. Das hat sich spätestens in den 90er Jahren so eklatant verändert, dass heute die schulische Grundversorgung nicht mehr garantiert ist. Die neueste Idee: die Wirtschaft finanziert die Schulbildung. Ein großer internationaler Getränkekonzern unterhält bereits mehrere Schulen und macht mit diesem einzigartigen Konzept Reklame. Von der firmeneigenen Schulbank auf die Werkbank?

Von Peter B. Schumann |
    "Wir haben uns alle vereinigt, denn hier wird die Erziehung des Volkes verteidigt und ihrem Ausverkauf gewehrt." Männer und Frauen in weißen Kitteln demonstrieren vor dem Parlament in Buenos Aires: Lehrer in ihrer Arbeitskleidung. Ihr Protest richtet sich gegen die Auszehrung des Bildungssystems, die miserablen Verhältnisse an den Schulen und gegen die elende Bezahlung der Lehrkräfte. Schon oft haben sie hier auf der Plaza de la Constitución gestanden und das von der Verfassung garantierte Recht auf Erziehung reklamierten.

    "In diesem landesweiten Kampf geht es nicht nur um die Verteidigung unserer Löhne, sondern auch um die Verteidigung unserer Würde und um die Erziehung unserer Kinder und Enkel, die immer mehr auf dem Spiel steht."

    In den 50er und 60er Jahren galt das argentinische Erziehungswesen als beispielhaft in Lateinamerika. Doch die Militärdiktatur von 1976 bis 1983 und vor allem die neoliberale Ausplünderungspolitik von Präsident Menem in den 90er Jahren haben große Teile der Bevölkerung verarmen lassen und das Bildungssystem ausgezehrt.

    "Heute haben wir ein Erziehungsministerium ohne Schulen", erklärt die Bildungswissenschaftlerin Silvia Satulovsky. "Denn Menem hat den Provinzen die Verantwortung für den Unterhalt der Schulen übertragen. Aber wir haben hier ärmere und reichere Provinzen, deshalb ist in einigen das Schulsystem besser und in anderen sehr kümmerlich. Der Menemismus hat Schulen für Arme und für Reiche geschaffen: er hat das Klassensystem auf das Schulsystem übertragen.
    Silvia Satulovsky ist auch als Schulpsychologin tätig. Sie erfährt jeden Tag von den unerträglichen Arbeitsbedingungen und von den Hungerlöhnen, von denen Erzieher leben sollen. Sie verdienen umgerechnet zwischen 150 und 200 Euro im Monat, auf die sie oft monatelang warten müssen. Silvia Satulovsky sagt:

    " Nach der Entwertung des Peso um zwei Drittel Ende 2001 mussten sie einen enormen Kaufkraftverlust hinnehmen. Wie sollen sich diese Lehrer um Kultur kümmern, Bücher kaufen oder ins Theater gehen, sich weiterbilden. Dadurch haben sich die Voraussetzungen für die Arbeit des Lehrpersonals weiter verschlechtert."
    In der Provinz Salta, einer der ärmsten, streikten die Lehrer einen Monat lang, weil sie ihr erbärmliches Gehalt von umgerechnet nur 70 Euro im Monat nicht länger hinnehmen wollten. Als sie schließlich friedlich in den Straßen demonstrierten, wies der Gouverneur, ein peronistischer Hardliner, die Polizei an, mit Wasserwerfern, Tränengas und Gummigeschossen ihren Protest zu zerschlagen. Zur sozialen Notlage der meisten Lehrer kommt der erschreckende Zustand vieler Gebäude.

    "Wir haben immer wieder Schüler in den Realschulen erlebt, die revoltierten, weil die Schule buchstäblich über ihrem Kopf einstürzte, Mauerwerk herunter fiel und Wände zusammenbrachen."

    Ende der 90er Jahre stellte die Lehrergewerkschaft vor dem Parlament ein großes weißes Zelt auf und verlangte ein neues Schulgesetz. 600 Tage harrten die Lehrer in wechselnden Schichten bei Wind und Wetter darin aus und mussten sich dann mit minimalen Zugeständnissen zufrieden geben. Wieso will unter solchen Bedingungen überhaupt noch jemand Lehrer werden? Silvia Satulovsky erklärt:
    " Angesichts der hohen Arbeitslosigkeit suchen viele in der Lehrtätigkeit einen Ausweg, der ihnen ein Mindesteinkommen garantiert. Sie haben die Lehrtätigkeit nicht als Beruf, sondern nur als Vorsorge gegen die Krise gewählt. Eigentlich wollen sie gar keine Lehrer sein. Das ist ein großes Problem. "

    Lange Zeit haben die Regierenden es nicht wahrhaben wollen, dass sie mit der Zukunft Argentiniens spielen, wenn sie das Bildungssystem derart auszehren. Präsident Kirchner hat Abhilfe versprochen: den Bau von 700 neuen Schulen angekündigt und die Gehälter der Lehrer etwas aufgebessert. Doch viele Erzieher und Eltern wollten auf die staatliche Nothilfe nicht warten und haben sich privat organisiert.

    Mittagspause in einer Schule in Moreno, einem der ärmlichen Außenbezirke von Buenos Aires, wo nur die Hauptstraßen asphaltiert sind. Die 7-, 8- und 9-Kläßler, die den ganzen Tag hier verbringen, stürmen in die kleine Kantine, wo sie ihre Mahlzeit einnehmen, von Eltern bereitet, die sich hier nützlich machen, weil sie das Schulgeld nicht bezahlen können, denn sie sind arbeitslos.

    Ein lang gestreckter Flachbau und zwei einfache Quergebäude um einen mit Maschendraht eingezäunten Platz beherbergen diese Privatschule. Sie ist Ende der 90er Jahre, als die Wirtschaftskrise sich zuspitzte, aus einem Kindergarten hervorgegangen, der noch immer existiert. Aber inzwischen werden hier rund 280 Schüler vom 1. bis 9. Schuljahr unterrichtet. Eine etwa 40-jährige Mutter, deren Tochter hier bereits in den Kindergarten ging, erzählt:

    " Ich schicke mein Kind hierher, weil es ganz anders behandelt wird. Das Verhältnis Lehrer und Schüler ist anders: da gibt es nicht einen, der erzieht, und einen, der gehorcht, sondern eher ein familiäres Miteinander. Hier herrscht ein anderes Denken. Die Schüler lernen, Stellung zu nehmen, und zwar vom Kindergarten an. Man lehrt sie, unabhängig zu werden."

    Aus dem Gemeinsinn, der hier vermittelt wird, ist das Projekt entstanden. Deshalb herrscht hier auch kein Profitdenken, wie an den meisten anderen Privatschulen, sondern eine kooperative Zusammenarbeit von Lehrern und Eltern. Die monatlichen Gebühren, die Letztere zahlen, dienen vorwiegend dem Unterhalt und dem Ausbau der Schule. Die Schulleiterin erläutert:

    " Das Projekt haben wir den Behörden der Provinz Buenos Aires vorgelegt. Sie haben es gebilligt, und seither zahlen sie die Gehälter der meisten Lehrer genau wie an den staatlichen Schulen, einschließlich der Pension. Und sie überprüfen regelmäßig den pädagogischen Teil und sehen nach, ob wir die Gehälter korrekt bezahlen."

    "Gemeinsam wachsen" - heißt das Motto dieser privaten Schule, die zwar ständig mit finanziellen Problemen zu ringen hat, aber durch vielerlei außer-schulische Aktivitäten zusätzliche Mittel zu beschaffen versteht. Dabei kann sie sich auf hoch motivierte Lehrer verlassen - und auf eine Gemeinschaft von Eltern, die zwar selbst große materielle Schwierigkeiten haben, aber ihren Kindern jene lebensnotwendige Schulbildung sichern möchten, die der Staat schon lange nicht mehr garantiert.