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Gemeinsamkeiten und Divergenzen innerhalb Europas

Der Berliner Historiker Hartmut Kaelble hat eine "Sozialgeschichte Europas" geschrieben, ein Überblickswerk für Einsteiger. Dem oft aus dem Bauch heraus geführten Diskurs über Europa stellt er nun seine faktengesättigte und inhaltlich breit angelegte Sozialgeschichte entgegen. Ob es mithalten kann mit der anschaulich und mitreißend geschriebenen "Geschichte Europas" von Tony Judt, die vor einem Jahr erschienen ist, sagt Thomas Gerhards.

06.08.2007
    Denken wir heute an Europa oder den europäischen Einigungsprozess, dann denken wir zwangsläufig an Konflikte: Das Projekt einer gemeinsamen Verfassung ist einstweilen gescheitert; die deutsch-polnischen Beziehungen stellten sich in den letzten Jahren auch schon einfacher dar, und an eine gemeinsame Außenpolitik dürfte für lange Zeit nicht zu denken sein. Noch immer scheinen die Partikularinteressen der europäischen Nationen derart zu überwiegen, dass mancher sich die Frage stellen mag, ob wir tatsächlich in einer Union gleichgesinnter Staaten leben.

    Zweifel an der Gegenwart finden allerdings oftmals ihr heilsames Korrektiv in einer historischen Betrachtung, die die Probleme der Gegenwart zu relativieren vermag. In diesem Sinne kommt uns der Berliner Historiker Hartmut Kaelble zu Hilfe. Dem oft aus dem Bauch heraus geführten Diskurs über Europa stellt er nun seine faktengesättigte und inhaltlich breit angelegte Sozialgeschichte entgegen. In 13 großen Kapiteln gelingt es ihm, uns den sozialen Wandel Europas nach dem Zweiten Weltkrieg näher zu bringen. Und dabei zeigt er, was eine moderne Sozialgeschichte auch heute noch zu bieten hat: Klassische Themen wie Familie, Arbeit, Soziale Ungleichheit und Migration werden hier ebenso abgehandelt wie etwa die Entstehung einer europäischen Öffentlichkeit, die Zivilgesellschaft oder der wieder viel diskutierte Wohlfahrtsstaat.

    In jedem Kapitel fragt Kaelble immer wieder nach den Gemeinsamkeiten und Divergenzen innerhalb Europas. Vor allem die Frage nach den Werten ist dabei von besonderem Interesse:

    "Es gibt große Unterschiede in allen möglichen Werten; daneben gibt es doch bestimmte Gemeinsamkeiten, die etwa darin bestehen, dass die Gewaltanwendung durch den Staat in ähnlicher Weise gesehen wird, in anderer Weise als außerhalb Europas. Oder dass die Rolle des Staates in der sozialen Sicherung - auch in Polen - in ähnlicher Weise gesehen wird wie etwa in Deutschland oder in Frankreich und in Großbritannien. Auch in anderer Hinsicht, im Umweltschutz Ähnlichkeiten in der Bevölkerung bestehen, auch in der Vorstellung, wie Krieg eingeschätzt wird. Das hat ja gerade der Irak-Krieg gezeigt, wo in den Demonstrationen der Bevölkerung doch große Ähnlichkeiten bestehen."

    Kaelble macht durchaus zu Recht einen Unterschied zwischen der Einschätzung der Werte innerhalb der Bevölkerung und der großen Politik in den Hauptstädten Europas und in den Zentralen in Brüssel und Straßburg. Aber auch hier gibt es einen signifikanten Wandel: War die europäische Politik der Regierungen früher noch von den nationalen Interessen geprägt, so steht Kaelble zufolge mittlerweile tatsächlich die Union als Ganzes im Vordergrund.

    Nun stellt sich aber folgende Frage: Wenn die Europäer doch einige grundsätzliche Gemeinsamkeiten teilen, warum fällt uns das dann so selten auf? Sind wir uns etwa in den letzten Jahrzehnten schon allzu ähnlich geworden?

    "Also, ich würde keinesfalls meinen, dass die Europäer alle gleich sind; das wäre wahrscheinlich auch langweilig, weil wir ja voneinander lernen, weil die Unterschiede interessant sind. Aber daneben gibt es doch Gemeinsamkeiten, über die allerdings wenig diskutiert wird. Das ist kein Thema in Brüssel, das ist auch selten ein Thema bei Tagungen oder im Fernsehen oder im Rundfunk. Trotzdem, denke ich, kann man zeigen, dass solche Ähnlichkeiten bestehen."

    So kann man mit Kaelble also feststellen: Wir Europäer sind uns durchaus ähnlich, in unseren Werten, im Konsum, im Umgang mit Religiosität, mit Umwelt, Demokratie und Krieg. Aber: Wir reden nicht genug darüber. Hier wird ein zentrales Problem beschrieben: Jenseits von Champions League, arte oder Harry Potter kann noch kaum von einer europäischen Öffentlichkeit gesprochen werden, die von großen Intellektuellen geprägt wird. Bourdieu, Habermas oder Eco sind und waren Intellektuelle von europäischer Statur, aber damit eine seltene Spezies.

    "Aus dieser Kulturszene entstand allerdings keine gemeinsame europäische Kulturöffentlichkeit, in der Intellektuelle, Künstler und Mäzene mit europäischer Ausstrahlung agierten und ein europäisches Publikum entstand, das die gleichen Bestseller las, die gleichen Intellektuellen reden hörte, der gleichen Musik lauschte und die gleichen Filme aus Europa sah. Eine europäische Kulturöffentlichkeit wurde in der Kulturszene meist weder gewollt noch gelebt."

    Zu einer lebendigen europäischen Verfassungswelt gehört aber eben nicht nur ein guter Text, sondern auch eine kritische Öffentlichkeit. Aber kann es diese jemals geben?

    Unstrittig ist für Kaelble, dass nationale Dispositionen noch auf lange Zeit eine gemeineuropäische Kultur überlagern werden. Zwar hat sich das soziale Leben in den Großstädten der Welt weitestgehend angeglichen. Paris, London oder Moskau sind nach und nach multinationale Zentren geworden, die sich kulturell nur noch wenig voneinander unterscheiden. Von einer kulturgeographischen Trennlinie zwischen der Latinitas des Westens und dem orthodoxen Osten kann daher nur noch bedingt gesprochen werden. Die Osterweiterung im Jahre 2005 war demnach keine Erweiterung in eine Welt fremder Werte, sondern die Öffnung gegenüber einer Welt vergleichbarer Werte. Wie sieht es jedoch in den ländlich geprägten Regionen Europas aus?

    "Die Gegensätze zwischen Estremadura und Katalonien, zwischen Kalabrien und Venetien, zwischen Schottland und Südostengland, zwischen Rheinland-Pfalz und Nordrhein-Westfalen, zwischen Wallonien und der Brüsseler Region waren größer als zwischen den Nationen. Die nationalen Grenzen hatten für die jeweiligen Wertauffassungen nur sekundäre Bedeutung. Die enormen regionalen Unterschiede zeigen sich in der Religiosität und der kirchlichen Bindung ebenso wie in den Familienwerten und in den Arbeitswerten."

    Eine weitere Gemeinsamkeit der Nationen zeigt sich nicht zuletzt, wenn Kaelble die sozialen Schichtungen beschreibt. Von Klassenantagonismen wie noch bis ins frühe 20. Jahrhundert hinein mag heute niemand mehr sprechen. Das drückende Problem der sozialen Ungleichheit ist jedoch in den prosperierenden Gesellschaften Europas nach dem Zweiten Weltkrieg nicht verschwunden.

    "Ungleichheiten, soziale Distinktionen und Mobilitätsbarrieren zwischen oberen und unteren Schichten blieben so einschneidend wie zuvor. Gegensätze zwischen Oberschichtluxus und Armut verschwanden keineswegs. Beides nahm am Ende des 20. Jahrhunderts eher zu. Grenzen der Bildungs- und Aufstiegschancen für Unter- und Mittelschichten erhielten sich ebenso wie die privilegierten Chancen der Oberschichten, deren Nachfahren wiederum in der Oberschicht zu halten. Der Niedergang der Lebensweisen der einstigen Milieus und der sozialen Trennlinien zwischen ihnen hat keine egalitäre Gesellschaft geschaffen."

    Diese Sozialgeschichte soll und wird folglich niemanden zum Europa-Euphoriker machen. Europa ist nicht nur unsere direkte Umwelt, Europa ist auch ein langer, zäher Prozess. Trotz aller Probleme sollten wir aber nicht vergessen, dass wir auf dem Gebiet der Europäischen Union seit über 60 Jahren in einer historisch beispiellosen Epoche des Friedens und der Demokratie leben.#

    Hartmut Kaelble ist ohne Zweifel ein großer Wurf gelungen. Er hat in der Tat eine Sozialgeschichte Europas geschrieben, die weit davon entfernt ist, auch nur im Ansatz das Thema durch eine deutsche Brille zu sehen. Am Ende legt man das Buch dankbar, aber auch erstaunt aus der Hand: Eine derart große Stoffmenge auf vergleichsweise knappem Raum darzubieten, ist große Kunst. Dem Autor ist nicht zuletzt dafür zu danken, dass er der naheliegenden Versuchung eben nicht erlegen ist, seine Darstellung als verbalisierte Statistik zu präsentieren. Vielmehr kommt er in den klar strukturierten Kapiteln immer zielgerichtet zum Punkt und präsentiert Daten nur dort, wo es unverzichtbar ist. Für die nächsten Jahre wird dieses Buch ein präzises Nachschlagewerk zur schnellen und gründlichen Information bleiben.

    Thomas Gerhards besprach: Hartmut Kaelble: "Sozialgeschichte
    Europas - 1945 bis zur Gegenwart". C. H. Beck Verlag, München 2007, 437 Seiten, 35 Euro.