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Gemetzel im Goldenen Tempel

Immer wieder wird Indien von religiös motivierten Anschlägen heimgesucht. Dabei sind Extremisten von unterschiedlichstem Glauben involviert. Von einer Religion hört man in dieser Hinsicht indes nichts mehr - die Sikhs. Vor 25 Jahren hatten sich gewaltbereite Glaubensanhänger im Goldenen Tempel von Amritsar verschanzt. Am 5. Juni 1984 stürmte die indische Armee den heiligen Bezirk.

Von Tobias Mayer | 05.06.2009
    "In der städtischen Leichenhalle der 600.000-Einwohner-Stadt Amritsar stapelten Soldaten die Körper zu großen Haufen. Auch im Krankenhaus luden Müllwagen Leichenberge ab. Regte sich unter den aus vielen Wunden blutenden Körpern noch Leben, versorgte kein Arzt den Verwundeten. Soldaten gaben ihm den Todesschuss. Dann wurden die Toten in Haufen zu je 50 auf Holzstöße geschichtet und verbrannt.",

    ... zitiert der Spiegel Augenzeugen der Erstürmung des Allerheiligsten der Sikh-Religion, des Goldenen Tempels von Amritsar, durch die indische Armee. Die Bilanz des Gemetzels: mehrere Hundert getötete Soldaten und bis zu 5.000 Opfer auf Seiten der Sikhs. Es war die tragische Eskalation eines Kräftemessens zwischen militanten Sikh-Gruppen und der indischen Regierung, deren Wurzeln in der Teilung des indischen Subkontinents 1947 durch die Briten liegen.

    Die Heimat der Sikhs, die reiche und fruchtbare Region Punjab, wurde damals zerrissen, Hunderttausende Sikhs flohen aus dem neuen islamischen Staat Pakistan nach Indien. In diesen unruhigen Zeiten keimte unter den Sikhs die Vision eines eigenen unabhängigen Staates namens Khalistan auf indischem Boden.
    Die Sikhs verlangten mehr religiöse Unabhängigkeit, die Angliederung von Sikh-Gemeinden anderer Provinzen an den Punjab und eine gerechtere Verteilung der Wasserressourcen. In den 70er-Jahren bildeten sich Sikh-Organisationen, die auch vor Gewalt nicht mehr zurückschreckten. Sie forderten bald offen einen unabhängigen Staat im Punjab. Ihr spiritueller Führer wurde der Bauernsohn Jarnail Singh Bhindranwale, der predigend von Dorf zu Dorf zog.

    1982 eskalierte der Streit zwischen den radikalen Sikhs und der Regierung. Bhindranwale verschanzte sich mit seinen bewaffneten Mitstreitern im Tempelbezirk von Amritsar. Anfang Juni 1984 gab Bhindranwale ein letztes Interview.

    "Sind Sie ein Heiliger? / Nein, ich bin ein Sikh, ich habe mit Politik nichts im Sinn. / Warum kämpfen Sie? / Um die Ketten der Sklaverei zu sprengen, die uns erdrosseln. / Wie weit werden Sie gehen? / Soweit ich
    gehen muss."

    Ministerpräsidentin Indira Gandhi konnte dem Treiben der militanten Sikhs nicht tatenlos zusehen. Bei den anstehenden Wahlen drohte sie von der Mehrheit der Hindus abgestraft zu werden. Schon Tage vor dem Sturm in der Nacht vom 5. auf den 6. Juni 1984 wurde die gesamte Provinz Punjab vollständig abgeriegelt. Erst zwei Wochen später konnte sich der Korrespondent der ARD Rainer Wolfgramm ein Bild vor Ort machen.
    Wolfgramm:

    "Als man dann hinterher gesehen hatte, was eigentlich an Munition, an Waffen, an Gerät in diesem Goldenen-Tempel-Komplex verborgen war, da kann man sich eigentlich nur wundern, dass nicht noch mehr in die Luft gegangen ist. Da lagen also Unmengen von Gewehren, da lagen Unmengen von selbst gemachten Bomben, da lagen Handgranaten herum."

    Der eigentliche Goldene Tempel von Amritsar, malerisch inmitten eines künstlichen Bassins gelegen, wurde nur leicht beschädigt. Bhindranwale hatte sich mit seinen Getreuen im gegenüberliegenden Heiligtum "Akal Takht" verschanzt, das vom Maschinengewehrfeuer perforiert wurde. Bhindranwale selbst wurde von 70 Kugeln getötet.

    Für die Gemeinschaft der Sikhs war dies ein traumatisches Ereignis. Ihre Vision vom eigenen Staat versank in einem Blutbad. Doch viel schwerer wog, dass Sikhs auf Sikhs geschossen hatten, dass ein Sikh die Aktion kommandiert hatte. Jeder fünfte Offizier der indischen Armee war und ist bis heute ein Sikh. Im ganzen Land brachen Unruhen aus. Zahlreiche Sikh-Soldaten meuterten, Sikh-Beamte legten ihre Ämter nieder. Am 31. Oktober 1984 wurde Ministerpräsidentin Indira Gandhi von ihren eigenen Sikh-Leibwächtern aus Rache für Amritsar ermordet. In der Folge gingen aufgebrachte Hindus auf die Sikhs los.
    In der Tagesschau vom 4.November 1984 heißt es:

    "Nach den Ausschreitungen der letzten Nach bot Delhi heute ein Bild der Verwüstung. Immer wieder werden verstümmelte Leichen von Sikhs gefunden. Allein in der indischen Hauptstadt wurden schon über 200 Tote gezählt. Augenzeugen berichten von unvorstellbaren Grausamkeiten. Sikhs wurden mit Eisenstangen zu Tode geprügelt oder bei lebendigem Leib verbrannt."

    Etwa 3000 Sikhs wurden in den ersten Novembertagen 1984 landesweit ermordet. Noch einige Jahre schwelte der Konflikt zwischen Hindus und Sikhs. Doch der Aufstand war keine Massenbewegung. Bald besann man sich wieder des traditionell guten Verhältnisses. Von einem eigenen Sikh-Staat ist längst keine Rede mehr.