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Gemetzel im norwegischen Fjord

Archäologie. - Ausgrabungen in norwegischen Fjords im Süden des Landes sorgten für eine Sensation: Hunderttausende Knochen von Rentieren kamen zu Tage. Wann und warum wurden so viele Tiere direkt vor Ort geschlachtet und wohin wurden sie transportiert? Archäologen aus Bergen konnten in den vergangenen zwei Jahren die alten Jagdrouten, Schlachtplätze und die weiten Transportwege der ersten professionellen Jäger rekonstruieren. Einzelheiten von Michael Stang.


Von Michael Stang |
    In Südnorwegen liegt Hardangervidda, die größte Hochebene Europas. Sie ist der Rest einer Gebirgslandschaft, die in der letzten Eiszeit durch Gletscher abgeschliffen wurde und ihr die heutige Form mit weiten Ebenen, flachen Seen und wenigen ansteigenden Gipfeln gab. Auf einer Fläche von mehr als 8.000 Quadratkilometern lebt heute die größte Rentierpopulation Europas. Die Jagd auf die großen Säugetiere hat eine lange Tradition. Ihre Geschichte untersucht der norwegische Archäologe Svein Indrelid. Bei Ausgrabungen in einer mittelalterlichen Siedlung stieß er zu seiner Überraschung aber nicht auf die Überreste einer traditionellen Jagd, sondern auf Spuren professioneller Großschlachtungen.

    "Wir haben stichprobenartige Ausgrabungen in der Nähe von Siedlungen gemacht. Auf einer Fläche von gerade einmal 3,5 Quadratmetern haben wir 33.000 Rentierknochen gefunden. Das müssen professionelle Jagden und Schlachtungen gewesen sein, die unmöglich nur von der lokalen Population durchgeführt wurden. Wir glauben, dass die dort ansässigen Menschen zwar die Jäger waren, die Organisation kam möglicherweise aus den Städten."

    Der Forscher vom Historischen Museum der Universität Bergen datierte die Knochen auf die zweite Hälfte des 13.Jahrhunderts. In weiteren Untersuchungen rekonstruierte Svein Indrelid Stück für Stück die historische Rentierjagd.

    "In Norwegen gibt es Überlieferungen von frühen Jagdtechniken. Damals haben die Jäger die Rentiere kilometerlang durch Schluchten gehetzt, bis die Tiere ans Wasser kamen und schwimmen mussten. Dort wurden sie dann von Booten aus erlegt und gleich an Ort und Stelle geschlachtet. Da der Weg zum Fjord sehr weit war, sind die Knochen sofort entfernt worden, damit Gewicht gespart und mehr Fleisch transportiert werden konnte."

    Eine perfekte Organisation aus Jägern und Schlachtern war vonnöten, um die Tiere zu erlegen, an Ort und Stelle zu verarbeiten und für den sechsstündigen Fußmarsch zum Fjord ins Tal zu präparieren. Da die Archäologen mehrere Jagdmesser mit religiösen Inschriften und Insignien gefunden haben, gehen sie davon aus, dass diese von Männern aus der Stadt stammen müssen, da die ansässigen Jäger weder lesen noch schreiben konnten. Ein weiteres Indiz für die städtische Logistik der Rentierjagd entdeckte Svein Indrelid bei Untersuchungen an den Rentierskeletten.

    "Alle Knochen sind vorhanden, bis auf die des rechten Vorderbeins samt Schulter. Sie fehlen bei allen Tieren. Nachforschungen im Stadtarchiv in Bergen konnten das Rätsel aber lösen: dort fanden wir einen Gesetzestext. Demnach stand demjenigen das rechte Vorderbein zu, der das Rentier im Wasser getötet hatte. Das war vermutlich also die Entlohnung für die lokalen Jäger, die das Rentierbein in einem Stück mit nach Hause nahmen, ohne die Knochen vorher herauszulösen."

    Nachdem die Jäger das Rentierfleisch zum Fjord gebracht hatten, pökelten sie es und brachten es auf Boote. Von dort aus wurde die konservierte Delikatesse ins 180 Kilometer entfernte Bergen geschifft und später bis nach England exportiert. Hochrechnungen zufolge wurden in drei Jahrzehnten rund 25.000 Tiere erlegt. Bei einem durchschnittlichen Fleischanteil von 33 Kilogramm pro Tier kamen aus Hardangervidda rund 825 Tonnen Rentierfleisch in dieser Zeit nach Bergen. Heute gibt es auf der Hochebene nur noch rund 8000 Rentiere. Vergangenes Jahr durften 650 Exemplare offiziell erlegt werden. Pollenanalysen ergaben, dass die klimatischen Verhältnisse damals genauso waren wie heute. Da den Rentiere in Südnorwegen nur eine bestimmte Menge an Futter zur Verfügung steht, war auch im Mittelalter die Anzahl der Tiere automatisch beschränkt. Indrelid:

    "In rund 25 Jahren wurden 25.000 Rentiere erlegt, mehr wissen wir über die damalige Größe der Populationen nicht. Falls es aber nicht wesentlich mehr Tiere waren als heute – was unwahrscheinlich ist - müssen diese professionellen Jagden die Rentierbestände drastisch reduziert haben. Das war vermutlich auch der Grund, warum diese groß angelegten Jagden plötzlich eingestellt wurden. Es hat sich einfach nicht mehr rentiert."