Außerdem sprechen wir mit Roger Willemsen über seine unlängst veröffentlichten Interviews mit Ex-Häftlingen aus Guantanamo. Wir nehmen Bücher zur Kommerzialisierung des Fußballs unter die Lupe und rezensieren das Buch der amerikanischen Pharma-Expertin Marcia Angell: "Der Pharma-Bluff. Wie innovativ die Pillenindustrie wirklich ist".
Musik…
Wir werden alt - wenn wir Glück haben, aber die Chancen stehen gut. Nicht ganz so gut: Auch unsere Gesellschaft wird alt; erst werden die Über-50-Jährigen und später vielleicht die Über-Sechzigjährigen in der Mehrheit sein. Das ist nicht neu, neu war aber vor zwei Jahren die Vehemenz, mit der der Herausgeber der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, Frank Schirrmacher, einen Krieg der Generationen an die Wand malte. In dieser Gefechtslage wollte Schirrmacher den Alten und Alternden Selbstbewusstsein zurückgeben. Forsch war die These, forsch auch die Argumentation. Das "Methusalem-Komplott" provozierte. Es war monatelang und kontrovers in vieler Munde. Vor wenigen Tagen hat Frank Schirrmacher nachgelegt. Diesmal beschäftigt er sich, auch hier ganz im Trend, mit dem Wert der Familie. Wir gewöhnen uns die Kinder ab – welche Folgen das für uns hat, darüber hat Pascal Fischer mit Frank Schirrmacher gesprochen.
Sprecher:
Beängstigend, dramatisch, ja: apokalyptisch – in diesem Ton schreibt Frank Schirrmacher das Genre "Demographischer Horror-Thriller" fort: Neben der Rentnerflut drohe jetzt die kinderlose Gesellschaft. Schirrmacher bleibt bei diesen längst bekannten Befunden nicht stehen, sondern macht eine noch schlimmere Entwicklung aus, nämlich...
"...dass in vielen Gebieten Europas, vor allem Österreichs und Deutschlands, dort, wo in den letzten 20 Jahren wenige Kinder geboren wurden, die jetzt junge Erwachsenen-Generation wieder wenig Kinder bekommt. Offenbar handelt es sich hier nicht mehr nur um Werteveränderung, sondern um ein richtig neues Programm. Die trauen sich das nicht mehr zu, die haben nicht mehr das Gefühl, dass sie mit Kindern umgehen können."
Daran sei eine fertilitätsfeindliche Lebenswelt schuld, so die These: Jugendliche werden als Einzelkinder ohne Cousins und Cousinen aufwachsen und nicht mehr mitbekommen, wie jemand aus ihrem Umfeld überhaupt Nachwuchs aufzieht.
Nicht nur Rentenzahler gingen uns also mit den kinderreichen Familien verloren, sondern der Altruismus überhaupt stehe auf dem Spiel, warnt Schirrmacher:
"Welcher Ort in der Gesellschaft ist der einzige Ort, der nicht von der Ökonomie regiert wird, jedenfalls im Inneren nicht von der Ökonomie regiert wird? – nach außen schon. Das ist hinter der Haustür der Familie. Die Arbeit, die ich dort für andere tue, wird nicht bezahlt. Die Arbeit, die ich dort für andere tue, ist keine, im striktesten Sinne ökonomische Arbeit. Die Generation, zu der ich ja auch zähle, gerade der Babyboomer, die 40- bis 50-Jährigen, die wird ihren Lebensabend nur ansprechend erleben können, wenn der Altruismus, die Selbstlosigkeit, die sie selbst nicht hatte, in dieser Generation stark ausgeprägt ist."
Gut ausgebildete und gut verdienende junge Menschen könnten sich bald nach Indien oder China absetzen, wo sie nicht von umlagefinanzierten Rentensystemen erdrückt werden. Selbst, wenn die jungen Reichen bleiben: Schirrmacher ahnt nun auch,...
"...dass diese Kinder sich entscheiden werden, wem sie später helfen werden: Allen? Oder einer fiktiven Gemeinschaft? Oder ihren Eltern?"
Jeder Mensch unterstütze - zumindest in Extremsituationen - zuallererst und unbedingt seine Familienmitglieder, das belegt Schirrmacher mit eindrücklich und pointiert erzählten Beispielen aus der Forschung. Da ist zum Beispiel die Brandkatastrophe in einem englischen Hotel:
"In diesem Fall waren es die Familien, die darauf achteten, dass alle zusammenbleiben, als das Feuer ausbrach und auch die schwächsten Mitglieder es schafften, zu fliehen. Bei den Freunden versuchten sich gerade einmal null Prozent zu finden, also überhaupt niemand. Die flohen alle als Einzelkämpfer. Das muss man einfach mal anerkennen. Das weiß der Volksmund auch: Blut ist stärker als Wasser."
Andere untersuchte Katastrophen zeigen: Die größten Überlebenschancen hätten Mitglieder von Großfamilien, weil sie sich untereinander fast bedingungslos helfen. Der Held und Einzelkämpfer habe keine Chance. Nein, die Familie sei die "Überlebensfabrik", die Überlebensfabrik der Vergangenheit – und auch der Zukunft, wenn der Staat weder jugendliche Arbeitslose noch Rentner unterstützen könne.
Wohlgemerkt: Schirrmacher schreibt keine konservative Moral für die Kanzel, sondern sagt Entwicklungen voraus, die er für unausweichlich hält.
Dann muss auch der Hass auf die Kleinfamilie verschwinden, meint Schirrmacher, denn er speist sich weitgehend aus Erinnerungen an das vergangene Jahrhundert: Herrschsüchtige Familienväter und unterdrückte Ehefrauen, verklemmte Sexualmoral und animalisch-dümmlicher Kinderwunsch.
"Diese Familie, die man da meint, der 50er und 60er Jahre, die kommt sowieso nicht wieder. Sondern stattdessen geht es darum, ‚Überlebensfabriken’ zu schaffen... Die Familie als Hort von Spießigkeit, Enge, von traditionellen Werten - das muss man mal aus seinem Kopf streichen. Das kann man dann später wieder hereinnehmen. Aber zuerst mal muss man sie sehen als Organisation, um Kinder in die Welt zu setzen und dann ein paar Jahre zusammenzubleiben und zusammenzuhalten."
Angebliche evolutionsbiologische Gesetze aus der Steinzeit bestimmen die Argumentation. Sicherlich wünscht man sich da ausgleichende Verweise auf die Sozialwissenschaften, auf kreative Sozialutopien.
Allerdings muss sich der Kritiker dann fragen, was aus den neuen Gemeinschaftsformen bislang geworden ist: Echte Kommunen aus den Siebzigern gibt es kaum, Studenten-WGs bestehen nur auf Zeit – und dort lebt man zwar miteinander, aber füttert die Anderen im Krisenfall nicht durch.
Noch eher sieht Schirrmacher die Patchwork-Familie kommen - auch, wenn er deren Zusammenhalt im Vergleich zur bürgerlich-biologischen Kleinfamilie als geringer einschätzt. In jedem Fall – so glaubt Schirrmacher, kommt den Frauen hier eine Schlüsselrolle zu. Denn Frauen sind klüger und besser ausgebildet als die Männer, kommunikativer, netzwerkfähiger, können mehrere Aufgaben gleichzeitig bewältigen – das sagen Biologen und Psychologen.
Die Integration der Frauen in den Arbeitsmarkt – einst undenkbar, dann Option – werde beim kommenden Arbeitskräftemangel zur politischen Pflicht. Ein Kinderwunsch brächte also standardmäßig die Doppelbelastung durch Familie und Beruf mit sich, wie sie heute schon vielfach vorhanden ist. Frauen also als Packesel der Gesellschaft?
"Das ist nicht konservativ. Konservativ hieße: Man will sie an den Herd zurückschicken. Worum es jetzt geht, ist, sich klarzumachen, welche Irrsinnsbelastungen auf diese Generation junger Mädchen zukommt. Wieso wünschen sich mehrheitlich die jungen Familien ein Kind, und das soll ein Mädchen sein? - Weil sie bereits daran denken. Heutzutage kann ein Mädchen Geld verdienen, zweitens ist es sozialkompetent - also eine gute Pflegerin."
Gerade den Leserinnen dürfte es aufstoßen, dass immer von kinderlosen Frauen, statt von kinderlosen Paaren die Rede ist. Dieser unglückliche Slang sollte aber nicht über Schirrmachers progressive Seiten hinwegtäuschen: Auch Männer werden, so weiß der Autor, für Einkommen und Erziehung gleichermaßen sorgen müssen. Die Mütter sollten entlastet werden, die Erziehungsleistung müsse endlich bei der Rente angerechnet werden.
Unmissverständlicher ist Schirrmachers Bekenntnis zu mehr Zuwanderung – die zumindest teilweise das demographische Problem lösen könnte:
"Wir müssen dringend dazu übergehen, die Zuwanderer, die in diesem Lande leben, in diese Gesellschaft zu integrieren. Noch heute glauben ja Leute, wir hätten ein Problem mit Zuwanderung. Das haben wir überhaupt nicht, sondern wir werden sie dringend brauchen. Wir werden um jeden ausgebildeten Zuwanderer glücklich sein."
Leider bietet der Autor sonst kaum Lösungen und verschweigt zudem weniger drastische Schätzungen zur Bevölkerungsentwicklung – die es auch gibt. Schließlich hat eine Gesellschaft, die keine Kinder aufzieht, zunächst auch mehr Geld für die Alten. Und eine schmale Hoffnung bleibt: Der Produktivitätsfortschritt könnte für anhaltenden Wohlstand sorgen.
Der Rententopf, so ließe sich Schirrmacher entgegnen, leert sich derzeit auch aufgrund der hohen Arbeitslosigkeit und vieler prekärer selbständiger Arbeitsverhältnisse. Denn wichtig ist, wie viele Menschen in das System einzahlen und wie hoch ihre Einkommen sind. Von Minijobbern ohne Sozialversicherung haben Rentner also nichts. Ganz abgesehen davon, dass auch die Minijobber nicht genug Geld für die Aufzucht der benötigten Kinder haben.
Dann wiederum behielte Schirrmacher doch Recht. Mag er zu Recht oder zu Unrecht ein Untergangsprophet sein: Das kurzweilige, ja spannende Büchlein motiviert mehr als jede Statistik dazu, sich mit Zukunftsfragen auseinanderzusetzen. Egal, ob wir diese Zukunft per Kleinfamilie meistern – oder doch ganz anders.
Moderatorin:
Frank Schirrmachers neues Buch heißt "Minimum. Vom Vergehen und Neuentstehen unserer Gemeinschaft." Erschienen ist es im
Karl Blessing Verlag, es umfasst 185 Seiten und kostet 16 Euro.
Musik…
"Generation Reform" hieß das Buch, dass der junge Berliner Historiker Paul Nolte vor zwei Jahren veröffentlichte. Unser Rezensent Günter Müchler war sehr angetan – und teilte seine Begeisterung mit vielen anderen Kritikern in der deutschen Medienlandschaft. Einmal mehr rief da jemand eine neue Generation aus – aber diesmal eine, die nicht zauderte, die sich nicht in ihrer Durchschnittlichkeit einrichtete. Die Zukunft gehört in Noltes Szenario denen, die nicht auf den Staat vertrauen, die Risiken eingehen. Noltes Text haben viele als Vorentwurf gelesen für eine grundlegende Veränderung Deutschlands. Jetzt hat Paul Nolte einen zweiten Band vorgelegt. "Riskante Moderne" heißt er, er ist mit hohen Erwartungen verknüpft. Ob Nolte sie erfüllen kann, sagt Ihnen Günter Müchler.
Sprecher:
"Wir haben uns die Utopien abgeschminkt". So äußerte sich kürzlich der Historiker Paul Nolte im Berliner "Tagesspiegel". Tatsächlich sucht man Utopien in den Veröffentlichungen des mit zweiundvierzig Jahren noch jungen, soeben von Bremen an die Berliner FU gewechselten Wissenschaftlers vergeblich.
Als Beobachter und Anwalt des gesellschaftlichen Wandels bietet sich Nolte auch in seinem neuesten Buch an. Es heißt "Riskante Moderne", und Assoziationen mit Ulrich Becks "Risikogesellschaft" sind durchaus gewollt. Allerdings versteht sich Nolte eher als ein Antipode zu Beck, dessen im Jahr der Tschernobyl-Katastrophe erschienener Bestseller die Ängste einer ganzen Altersgruppe versammelte und zum Brevier der Ökologiebewegung wurde.
Becks Buch buchstabierte die Moderne als eine umfassende Bedrohung. Zwanzig Jahre später bestreitet Nolte die Risiken einer technologisch hochgerüsteten, komplexen Gesellschaft, die sich zudem im Bezugsrahmen der Globalisierung zu behaupten hat, keineswegs. Sie sind für ihn aber nicht Bedrohung, sondern Herausforderung. Dementsprechend ist der Grundton, den das Buch anschlägt, dur. So heißt es in der Einleitung des 300-Seiten-Oeuvres:
"Dieses Buch schlägt sich vorbehaltlos, aber hoffentlich nicht vordergründig, auf die Seite der Optimisten. Das ist mit Blauäugigkeit nicht zu verwechseln. Denn am Anfang steht immer eine nüchterne Bestandsaufnahme. Warum hat sich Deutschland mehr als andere, vergleichbare Nationen aus dem Vertrauen in die Zukunft verabschiedet, warum sind bei uns Deutschen die Ängste vor Herausforderung der Moderne geradezu lähmend übermächtig geworden?"
Nach dem Ende des Kalten Krieges sind die Herausforderungen nicht weniger zahlreich geworden. Neue traten hinzu, beispielsweise der internationale Terrorismus. Nicht gewachsen ist in den letzten zwei Jahrzehnten nach Auffassung Noltes die Souveränität im Umgang mit dem Risiko. Eine "Grundmentalität des Aufschubs" habe sich verfestigt, überall auf der Welt.
"Dennoch haben sich die Deutschen – wenigstens darin international noch Spitze – der Strategie der Risikovermeidung auf beispiellose Weise hingegeben. Ein klassisches Sicherheitsdenken hat den Sieg davongetragen, wir sind ein risikofeindliches Land geworden."
Wann haben wir die Moderne verloren? Nolte offeriert einen ganzen Strauß von Antworten. Im Kern richtet er die Lanze auf Achtundsechziger und Grüne, die Protagonisten der Postmoderne. Sie haben sich durch Verinnerlichung und Technikfeindlichkeit letztlich von der Politik als Gestaltung abgewandt und die Bestandsverwaltung befördert. So konnte, folgert Nolte, "die Diagnose von den Grenzen des Wachstums zur self-fulfilling prophecy werden."
Das klingt alles ziemlich plausibel und bekannt. Man nehme nur den jüngsten Tarifkonflikt im öffentlichen Dienst und den Kampf gegen eine geringfügige Erhöhung der Arbeitszeit. Jahrzehntelang wurde von Seiten der Gewerkschaften die Politik der Arbeitszeitverkürzung als Allheilmittel gegen die Massenarbeitslosigkeit verkauft. Jahrzehntelang hat das Mittel nicht gewirkt, doch auch das Erreichen der Fünf-Millionen-Grenze bei den Arbeitslosen führt nicht zu einem Wechsel der Arznei.
"Dornröschen-Krankheit" würde Nolte sagen, der zu Märchenmetaphern neigt. Wer das Buch durchblättert, fühlt sich immer wieder bestätigt. Sonderbar glatt gleitet Noltes Feder dahin. Die Beschreibung der Krise ist allumfassend: Wachsende Unterschiede zwischen Arm und Reich, Rentenloch, demographische Katastrophe, Migration, Bildungsmisere, Generationenkonflikt. Der Systemkritiker spart kein Phänomen aus.
Aber das Relief bleibt flach. Nolte schürft seine Erkenntnisse gewissermaßen im Tagebau. Tiefenbohrungen finden nicht statt. Es fehlen die Stützbalken der Empirie. Ein paar Zahlen vertrüge das Buch. Und wer darauf gehofft hatte, Nolte würde Thesen, die seine "Generation Reform" zur spannenden Lektüre machten, weiterführen und mit Material unterfüttern, sieht sich getäuscht. Das Buch verdankt seinen Umfang in nicht geringem Maße Redundanzen.
In seinem "Plädoyer für eine Wiedergewinnung der Moderne" widmet sich der Autor auch den großen politischen Lagern. Was ist von ihnen zu erwarten? Am größten sind seine Zweifel bei der Sozialdemokratie.
Den bürgerlichen Parteien traut Nolte bei allen Einschränkungen am ehesten zu, das Projekt der Bürgergesellschaft voranzutreiben. Viel verspricht er sich von Angela Merkel, die er mit dem Etikett "anti-konservativ" versieht. Ihre Vision ist für ihn:
"die Vision einer offenen Gesellschaft, jenseits von ungerechtfertigter Hierarchie, jenseits der Fesselung von Individuen, von Verkrustung und Erstarrung. Auf subtile Weise mag man darin sogar eine Fortsetzung des rot-grünen Projekts sehen, das ebenfalls im Zeichen einer – gleichwohl ganz anders akzentuierten – offenen Gesellschaft angetreten ist."
Die Perspektive, die Nolte sieht, liegt jenseits des Konsums. Von einer "investiven Gesellschaft" ist im Schlusskapitel die Rede. Sie rückt ab vom Konsum und vom Ressourcenverbrauch und setzt auf Bürger, die Kompetenzen und Fähigkeiten für ihr privates Leben, aber auch für die Gemeinschaft zur Verfügung stellen. Bei Nolte ist die neue, tragende Schicht fest verortet:
"Bürgerliche Gesellschaft ist im Kern ein Projekt von Mittelklassen, von mittleren Schichten der sozialen Hierarchie gewesen, nicht in einem strengen, exklusiven, abgeschotteten Sinne, sondern im Sinne einer offenen Mitte, als Kristallisierungskern, an den anderes sich anlagern kann. Es sind nicht die Armen und auch nicht die Superreichen, die sich zuerst und beständig engagieren."
Nach rasch bewältigten 300 Seiten wird man Paul Nolte bescheinigen, abermals ein gut lesbares Buch geschrieben zu haben. Der nüchterne, ideologiefreie Blick und die Weigerung, in den Chor depressiver Weltschau einzutreten, machen es sympathisch. Indessen werden Noltes Erkenntnisse das Publikum schwerlich wie eine Erleuchtung treffen. Sie vermitteln ihm jedoch das positive Gefühl, mit seiner Meinung nicht allein zu stehen.
Moderatorin:
Günter Müchler rezensierte das neue Buch von Paul Nolte:
Riskante Moderne, heißt es, im Untertitel: Die Deutschen und der neue Kapitalismus, erschienen bei C.H. Beck 2006, 256 Seiten, 19,90 Euro.
Musik…
Wenn man sich die Bücher anschaut, die der Journalist Roger Willemsen in den vergangenen Jahren geschrieben hat, dann fällt auf, wie sich sein Interesse offensichtlich verlagert hat: Weg von Deutschland, nach Paris, London, Hollywood. Von da aus ist es immer noch ein gutes Stück bis Guantanamo – allerdings gedanklich vielleicht nicht so sehr, denn die Kritik an dem US-Lager ist mittlerweile fast common sense, sie kostet nicht mehr viel. Dennoch macht sein neues Buch neugierig, denn es verspricht Zeugenaussagen aus erster Hand. Roger Willemsen ist ehemaligen Häftlingen hinterhergereist und hat sie befragt. "Hier spricht Guantanamo", heißt der Interviewband, und mein Kollege Henning von Löwis hat den Mann befragt, der die Ex-Häftlinge sprechen lässt.
von Löwis:
Roger Willemsen, über Guantanamo ist alles gesagt, sagen Sie, und - präsentieren das 240-Seiten-Opus "Hier spricht Guantanamo". Warum dieses Werk, und warum erst jetzt?
Willemsen:
Es war nötig, weil es in der Publizistik weitgehend fehlt, dass die gehört werden, die so lange auf einen Prozess warten, die auf das demokratische Prinzip des "et altera pars auditur", auch der andere muss gehört werden, vertrauen, und es war auch nötig, weil, ehrlich gesagt, in der deutschen Publizistik kein einziges großes Interview, ausführliches Interview mit Vorgeschichte, mit biographischem Hintergrund der Häftlinge geführt worden ist.
von Löwis:
Die FAZ schreibt: Das richtige Buch zur falschen Zeit.
Willemsen:
Ja, ich lache oft über diesen Satz, denn ich muss sagen, die FAZ ist ausgerechnet die Zeitung, die vor einiger Zeit noch geschrieben hat, nun sei ja wohl erwiesen, dass die gefährlichsten aller Verbrecher in Guantanamo säßen. Und dann sind wir in einer Zeit, wo die Berlinale mit Michael Winterbottom "The Road to Guantanamo" eröffnet wird, und das Thema ist ganz oben. Also, man muss sagen, die FAZ hat offenbar andere Gründe, dieses Buch nicht zu mögen.
von Löwis:
Es kommt noch dicker, Zitat Spiegel Online: "Es genügt dem Großaufklärer Willemsen nicht, selbst ein gutes Werk zu tun. Er muss wohl stets der Klassenbeste sein."
Willemsen:
(lacht).. Tja, Spiegel Online schickt irgendwie seinen Prominentesten, Reinhard Mohr, der seit 10 Jahren, glaube ich, an der Willemsen-Berichterstattung ist, weil er mal in einem Interview mit mir schlecht ausgesehen hat. Also, leider können solche Zeitungen selbst im Falle Guantanamos nicht ihre Ressentiments zurückstellen. Denn es ist einfach so, der Spiegel hat die letzte große Geschichte über Guantanamo mit O-Tönen gemacht im Jahr 2004. Ich finde, das ist einem Lager gegenüber, in dem täglich gefoltert wird, ein Skandal, wenn man bedenkt, dass das ein nachrichtliches Medium ist.
von Löwis:
Sie sind ein Fernsehmann. Warum gehen Sie mit der Guantanamo-Story nicht ins Fernsehen?
Willemsen:
Das Fernsehen will diese Geschichte in Deutschland weniger als im Ausland. Im Ausland werden damit zum Teil die Hauptnachrichten aufgemacht. Wir verhandeln mit Ländern wie Philippinen und Zypern über den Rechteverkauf. Das hat es noch nie in der Form gegeben für den Verlag. Aber ich bin in den großen Sendeanstalten damit noch nicht gewesen. Das konstatiere ich nur. Aber wenn Jette Joop ihre neuen Schuhe vorstellt, sind acht Kamerateams da. Wenn ich Guantanamo-Stimmen vorstelle, keins. So ist das eben.
von Löwis:
Sie betreiben ja ziemlich heftige Medienschelte. Wird Guantanamo Ihrer Ansicht nach bewusst verdrängt, bewusst ausgeblendet aus den Medien?
Willemsen:
Ich betreibe die Medienschelte auch deshalb, weil ich weiß, so komme ich ganz sicher in die Medien, denn die Medien sind insgesamt so eitel, dass sie immer darauf reagieren. Wenn sie sich für Guantanamo und das Buch nicht interessieren, dann interessieren sie sich dafür, dass jemand Medien kritisiert. Es wird ja gar nicht mehr gefragt, was der kritisiert. Denn in der Sache habe ich ja recht. Es hat mir ja keiner widersprochen, dass diese großen Geschichten fehlen. Aber ich muss trotzdem sagen, es gibt natürlich eine riesige Publizistik zu Guantanamo. Es gibt Gesinnungsaufsätze dazu – die sind auch wichtig. Und es ist gut, dass wir das Bewusstsein haben von dem, was da passiert. Meine einzige wirkliche Kritik war, es fehlt der authentische Augenzeugenbericht dessen, was wir "oral history" nennen würden, also mündlich überlieferte Geschichte von dem, was Opfer dort erleben.
von Löwis:
Liegt das vielleicht auch daran, dass die Deutschen zu sehr zurückblicken, zu sehr Vergangenheitsbewältigung betreiben und die Gegenwart etwas ausblenden?
Willemsen:
Exakt. Ich würde immer sagen, eine authentische Vergangenheitsbewältigung besteht nicht aus jeder Woche einem Fernsehfilm über Hitlers schönste Poesiealbumsseiten, sondern sie besteht daraus, dass man sagt: Wo sind Lager heute? Wo sind Verhältnisse, in denen demokratische Staaten ihre Grenzen übertreten? Und um die geht es auch, wenn wir Deutschen Vergangenheitsbewältigung betreiben wollen.
von Löwis:
Lager heute – würden Sie da Parallelen ziehen?
Willemsen:
Ich hüte mich vor Parallelen zum Nationalsozialismus irgend einer Art. Trotzdem muss man aufpassen. In dem Augenblick, wo demokratische Systeme einen Raum definieren, von dem sie sagen, er liegt außerhalb und dort führe ich den Begriff des Vogelfreien wieder ein, dort darf ich foltern, wird das zum Muster für China, für Russland, für afrikanische Staaten, und es überschreitet einfach den Gedanken der Rechtsstaatlichkeit.
von Löwis:
Reden wir über das Buch. Roger Willemsen hat sich auf die Suche nach ehemaligen Häftlingen gemacht, heißt es in der Ankündigung des Verlags 2001. Wie muss man sich das ganz konkret vorstellen? Wo kann man solche Leute finden?
Willemsen:
Mit Hilfe von amnesty, von anderen Hilfsorganisationen, mit Hilfe von privaten Kontakten innerhalb Afghanistans ist es mir gelungen, die aufzuspüren.
von Löwis:
Für Mr. Bush sind das Killer, mit denen Sie gesprochen haben. Haben Sie den Eindruck, dass das Killer sind?
Willemsen:
Mr. Bush wusste, glaube ich, von Anfang an, dass das keine Killer sind. Er hat für viele der Häftlinge Geld bezahlt, weil er das Lager irgendwie füllen musste. Er hat schlechte Dolmetscher eingesetzt, die nicht in der Lage waren, Zwischentöne überhaupt zu erkennen. Er hat zum Teil Leute zehn Monate lang überhaupt nicht mal verhört. Und außerdem sind nun alle, die ich befragt habe, auch von Bush als unschuldig erklärt worden und frei gelassen worden – wie übrigens inzwischen 300 dort Einsitzende.
von Löwis:
Haben sich die Amerikaner entschuldigt?
Willemsen:
Einer hat, glaube ich, mir gesagt, man habe Sorry gesagt. Danach hat man ihn gefesselt und hat ihn 40 Stunden um die Welt geflogen - er hat unter anderem die Türkei erkennen können - und dann in Russland ausgesetzt. Dort wurde er dann von den Russen gleich wieder festgenommen und wieder ins Gefängnis geworfen, weil man ihn auch dort als Terroristen sehen wollte, nachdem er ja schon mal in Guantanamo gewesen war.
von Löwis:
Und einer war ja, glaube ich, der Botschafter Afghanistans in Pakistan.
Willemsen:
Das ist ganz richtig. Das war ein hochrangiger Taliban. Da verbündet man sich auch mit dem Teufel, wenn man eben Taliban zu Hilfe nimmt. Aber in diesem Falle war es wichtig. Er war
nämlich auch der Sprecher der Gefangenen im Lager und konnte deshalb besonders viel beibringen.
von Löwis:
Roger Willemsen, was sind für Sie die wichtigsten Erkenntnisse, die Sie gewonnen haben durch die Gespräche mit den Gefangenen?
Willemsen:
Dass es doch systematische Folter in allen verschiedenen Formen gibt bis zu eklatanten Koran-Schändungen, dass es dort einen Hungerstreik gibt, der seit über fünf Monaten läuft, und der zur Zwangsernährung führt, dass die politischen Verhältnisse, aufgrund derer die Häftlinge dort einsitzen, derartig fadenscheinig sind, dass ich davon ausgehe, dass es sich eigentlich um ein Zeigelager handelt, also, um ein Lager, das da sein muss, damit man sagt, wir arbeiten daran. Aber ich glaube nicht, dass die Amerikaner wirklich daran glauben, dass sie dort Schuldige haben.
von Löwis:
Hat sich Ihr Amerika-Bild durch Guantanamo verändert?
Willemsen:
Im Grunde genommen trete ich auf im Sinne eines linksliberalen Amerika, das es ja durchaus auch gibt, das auch seine Repräsentanten hat, das auf der Rechtsstaatlichkeit und das auf Menschenrechten insgesamt noch beharrt. Aber dass Amerika in so kurzer Zeit nach dem 11.9. in der Lage sein würde, seine Grundprinzipien so zu verleugnen, hätte ich nie gedacht – und, ehrlich gesagt, die Gefangenen auch nicht, denn die dachten immer: Wir sind ja in einem Rechtsstaat; wir bekommen ja unseren Prozess.
von Löwis:
Hat das überhaupt etwas mit dem 11.9. zu tun, was sich da abspielt?
Willemsen:
Nein. Das ist Kosmetik. Der Irak-Krieg hatte ja letztlich mit dem 11.9. auch nichts zu tun.
von Löwis:
Sie haben auf einer Pressekonferenz geäußert: Die Supermacht läuft Amok, die Supermacht USA. Was kann man gegen einen wild gewordenen Amokläufer in der internationalen Arena
unternehmen? Fällt Ihnen da was ein – außer Bücher schreiben?
Willemsen:
Öffentlichkeit ist das erste. Ich kann nur sagen. Andere Staaten wären längst mit einem Embargo konfrontiert worden. Und es ist diesem Lager gegenüber die höchstmögliche Radikalität das einzige humane Verhalten. Man muss es schließen.
von Löwis:
Roger Willemsen ist nicht Mr. Nobody. Haben Sie mal versucht, in die Höhle des Löwen zu gehen, nach Guantanamo?
Willemsen:
Nein, das habe ich nicht versucht, denn Journalisten dürfen dort im Abstand von 500 Metern aus der Ferne das Lager ansehen - soviel zur Erklärung von George Bush: Jeder sei eingeladen, sich dort ein Bild zu machen, wie human man dort mit ihnen umginge.
von Löwis:
Alle Welt regt sich auf über Guantanamo. Alle Welt fordert die Schließung. Washington bleibt stur. Was kann da ein Buch von Roger Willemsen bewirken?
Willemsen:
Ehrlich gesagt: nichts. Aber es kann das Bewusstsein wach halten, dass dort Menschen gefoltert werden und dass das ein Staat tut, mit dem wir verbündet sind und dem wir viel Dank schulden für die Form der Demokratisierung, die in diesem Lande stattgefunden hat. Aber wir sind es ihm genau im Sinne dieser Demokratisierung schuldig, es heftigst zu kritisieren.
Moderatorin:
Der Interviewband von Roger Willemsen heißt: Hier spricht Guantanamo. Roger Willemsen interviewt Ex-Häftlinge. Erschienen bei Zweitausendeins in Frankfurt a. M.. 237 Seiten kosten 12,90 Euro. Das Gespräch führte Henning von Löwis.
Musik…
Im Grunde genommen hat wahrscheinlich schon lange keiner mehr daran geglaubt, dass beim Fußball elf Freunde auf dem Platz stehen und einfach ein gutes Spiel machen wollen. Auch die WM ist eine knallharte Kommerzveranstaltung, und vor diesem Hintergrund picken wir uns aus der Flut der Fußball-Publikationen im WM-Jahr die heraus, die sich mit der Kommerzialisierung des Sports befassen. Denn das ist ausnahmsweise mal ein Fußball-Thema, bei dem (noch) nicht alle mitreden können. André Hatting hat zwei einschlägige Bücher genauer unter die Lupe genommen: "Das schmutzige Spiel" heißt das eine, Fred Sellin hat es geschrieben, und "Geld schießt Tore", das andere, Autoren sind in diesem Fall zwei Handelsblatt-Redakteure.
Sprecher:
Die Bundesliga boomt. Trotz Wettskandal und internationaler Mittelmäßigkeit: In der vergangenen Saison besuchten über 11 Millionen Zuschauer die Stadien. Rekord! Die meisten davon, nämlich durchschnittlich über 77-tausend, kamen, um Borussia Dortmund zu unterstützen. Falsch, sagt Dieter Hintermeier, Autor des Buches "Geld schießt Tore":
"Wenn ein Stadion wie beispielsweise in Dortmund 80.000 Zuschauer fasst, dann sind in der Südkurve vielleicht 25.000 Fans, die wirklich für den Verein durch Dick und Dünn gehen. Und den Rest würde ich so einschätzen, der geht dahin, weil das Westfalenstadion ein tolles Stadion ist, weil ich eine tolle Atmosphäre erlebe und unabhängig davon, wer dort spielt, ich erlebe ein tolles Fußballspiel."
Genauso gut könnte er auch in die Oper oder ins Kino gehen, um sich zu amüsieren. Fußball bilde eben nur eine Option, behauptet Dieter Hintermeier. Für jeden Fußball-Fan ist diese These eine Provokation. Und nicht die einzige in dem Buch. Gemeinsam mit seinem Autorenkollegen Udo Rettberg mutet Dieter Hintermeier dem fußballbegeisterten Leser Ungeheuerliches zu. Zum Beispiel einen Umzug. Wirtschaftlich betrachtet, gehöre der Erstligist FSV Mainz nach Essen. Denn dort leben viel mehr Menschen. Also auch mehr potenzielle Stadionbesucher:
"Fußball als globales Business – und wie wir im Spiel bleiben" – diesen Untertitel geben Hintermeier/ Rettberg ihrem Buch, und sie meinen es Ernst. So wie Unternehmensberater Firmen auf Stärken und Schwächen durchscannen, prüfen die Autoren die Fußball-Bundesliga. Die Kapitel heißen zum Beispiel:
"Vom Verein zur Kapitalgesellschaft. Kasse machen bei internationalen Events. Oder Was die FIFA-Rangliste und das Bruttosozialprodukt miteinander zu tun haben"."
Das erklären Hintermeier/ Rettberg auf gut 300 Seiten. Sie zeigen, warum Borussia Dortmund mit seinem Börsengang gescheitert ist, welche Manager in der Liga ihr Geschäft verstehen - und welche nicht, und warum in ihren Augen reiche Investoren aus dem Ausland wie Malcom Glazer oder Roman Abramowitsch den Fußball nicht zerstören, sondern bereichern:
""Seit 1997 haben nicht weniger als 28 Vereine aus den Profiligen Gläubigerschutz anmelden müssen. Und ohne Chelsea wären die von britischen Erstligisten gezahlten Gehaltssummen erstmals wieder auf den Stand von 1992 gefallen."
Also – sagen wir einmal – statt 4 Millionen Pfund Jahresgage für einen Top-Spieler nur 2 Millionen? Das Bedauern beim gemeinen Fußballfan dürfte sich in Grenzen halten. Das Verständnis für manchen Vorschlag der Autoren ebenfalls. Gegen Ende ihres Buches fordern Hintermeier und Rettberg einige "Verbesserungen" - an der Bundesliga speziell und am Fußball ganz allgemein: das System des Auf- und Abstiegs, zum Beispiel – aus wirtschaftlicher Perspektive barer Unsinn:
"Die sportlich erfolgreichen Mannschaften wie Bayern München, zum Beispiel, müssen auch international gestärkt werden. Das heißt, der Erfolg, den sie in der nationalen Liga haben, muss sich auch widerspiegeln im Finanziellen. In unserem sozialistischen Prinzip Bundesliga, das auf dem Relegationsmodus aufbaut, das heißt, Auf- und Abstieg ist mit eingebaut, versucht man halt dadurch eine gewisse Art von Wettbewerb zu ermöglichen - immer noch -, auch für Vereine wie Borussia Mönchengladbach oder Nürnberg, die jetzt finanziell nicht so gut ausgestattet sind wie Bayern Mänchen."
Die Abseitsregel – viel zu kompliziert und deshalb verkaufsschädigend:
"Der Hintergrund der Überlegung war ganz einfach: Große, erfolgreiche Fußballvereine brauchen auch Planungssicherheit, auf der einen Seite. Auf der anderen Seite muss das Spiel auch attraktiv für die Zuschauer bleiben. Das heißt, je mehr Tore fallen, desto interessanter wird das Spiel, und desto interessanter wird das Geschäft Fußball. Die Verteidiger müssen halt ein bisschen besser aufpassen. Das Spiel würde spannender werden, und es würden auch mehr Tore fallen."
Das Spiel würde nicht spannender werden. Im Gegenteil: Der Fußball fiele zurück in die Steinzeit. In den Stadien bekämen die Zuschauer ein Spiel zu sehen auf dem Niveau der F-Jugend. Für die fünf- bis sechsjährigen Fußballanfänger gibt es nämlich auch kein Abseits. Das sieht dann so aus: Einer der Knirpse drischt den Ball nach vorn, alle rennen hinterher und der am weitesten vor dem Tor steht, bekommt ihn. Es ist schwer zu begreifen, wie Dieter Hintermeier - selber bis zur A-Jugend aktiver Fußballer - so einen Vorschlag machen kann.
Hintermeier/ Rettberg arbeiten als Wirtschaftsjournalisten beim "Handelsblatt". Irgendwie muss ihnen das große Geschäft Fußball stellenweise die Sinne für den Sport Fußball vernebelt haben. Wo es darum geht, wie Fußballvereine wirtschaftlich besser geführt werden können, hat das Buch durchaus starke Seiten. Aber leider verstricken sich die Autoren immer wieder in Widersprüche: So fordern sie, dass das Trikot-Ausziehen beim Torjubel nicht mehr mit einer Gelben Karte bestraft werden dürfe. Emotionen, Leidenschaft – das wollten die Fans sehen. Gleichzeitig aber betonen Hintermeier/ Rettberg, dass Fußball ein weltweiter Artikel sei. Völlig richtig. Und genau deswegen verlangt die FIFA ja auch, dass der Spieler das Trikot anbehält. Aus Rücksicht auf die Schamgefühle der Zuschauer in arabischen Ländern.
Auch Fred Sellin geht es um Scham. Oder besser: Schamlosigkeit. "Das schmutzige Spiel" aber ist ein Kompendium über verlogene Spieler, korrupte Vereinspräsidenten und gekaufte Trainer.
"Ich freue mich auf die Weltmeisterschaft. Ich freue mich auf jedes Spiel und ich hoffe auch, dass die deutsche Mannschaft da gut abschneidet, halbwegs gut wenigstens. Aber andererseits finde ich es so verlogen und so heuchlerisch, wenn sich bestimmte Leute seit Monaten hinstellen und so tun, als wäre der deutsche Fußball die schönste Nebensache der Welt, und es wäre alles Friede, Freude, Eierkuchen, und all die schlechten Sachen, all die schlimmen Sachen gebe es gar nicht. Deswegen habe ich unter anderem auch gesagt, man müsste dazu ein Buch machen, um mal aufzulisten, was eigentlich wie läuft hinter den Kulissen."
Zu Beispiel wie Trainer bei der Verpflichtung von Spielern
mitverdienen, wie Spielerberater Scheinehen arrangieren, um nicht-europäische Ausländer in Deutschland verkaufen zu können, oder wie große Unternehmen darüber bestimmen, wer als Trainer arbeiten darf und wer nicht – und das nicht nur bei den Werksvereinen Leverkusen oder Wolfsburg. Für einige der Geschichten habe er lange recherchieren müssen, sagt Sellin.
"Eine Geschichte ist halt so gelaufen, das betrifft Kaiserslautern: Nach verschiedenen Vorgesprächen waren wir abends zum Abendessen, sind dann fertig gewesen und plötzlich sagte er dann: ‚Kommen Sie doch mal mit zu meinem Auto!’ – holte da so eine Einkaufsklappbox voller Akten, hielt mir die hin und sagte: ‚Morgen früh um sieben treffen wir uns im Hotel zum Frühstück, und dann brauche ich das alles zurück.’"
Sellin kann erzählen. Sein Buch ist spannend geschrieben, wenn auch stellenweise vielleicht etwas zu reißerisch. Man merkt, dass der Autor Erfahrung mit großen Stoffen hat. Zuvor hatte er Biografien über Heinz Rühmann und Boris Becker verfasst. "Das schmutzige Spiel" trägt nicht nur die jüngsten Korruptionsgeschichten der Bundesliga zusammen, von der Affäre Karl-Heinz Wildmoser bis zum Wettskandal um den Schiedsrichter Robert Hoyzer. Es zeigt auch, wie dilettantisch und peinlich manche Manager ihre Vereine führen.
Geld schießt eben nur bedingt Tore – in diesem Sinne liest sich Fred Sellins Buch als Ergänzung zu der Arbeit von Dieter Hintermeier und Udo Rettberg.
"Die Intention war aufzuzeigen, wie läuft der Fußball abseits des Fußballplatzes hinter den Kulissen, wer schaltet, wer hat Macht, wer bestimmt, wo der Ball hinrollt."
Das hatten bereits vor fünf Jahren die Journalisten Thomas Kistner und Ludger Schulze getan. Ihr Buch "Die Spielmacher. Strippenzieher und Profiteure im deutschen Fußball" ist ein Standardwerk. Sellins Verdienst ist, dass er die Geschichte fortschreibt und um einige interessante Kapitel bereichert.
Moderatorin:
André Hatting las für uns zwei Sachbücher über Fußball:
Geld schießt Tore von Dieter Hintermaier und Udo Rettberg, erschienen im Hanser Verlag zum Preis von 19 Euro 90 und
Fred Sellin: Das schmutzige Spiel. Intrigen, Skandale und Machenschaften im deutschen Fußball, bei C. Bertelsmann für 14,95 Euro.
Musik…
Die Reform des Gesundheitssystems ist ein Dauerbrenner. Dessen Kosten werden nur mühsam im Zaum gehalten. Schuld an der Entwicklung sind unter anderem die ausufernden Arzneikosten. Abhilfe verspricht sich die Regierung vom neuen Arzneimittelgesetz, es soll noch in diesem Frühjahr in Kraft treten. Damit will die Regierung die Pillenhersteller zwingen, Preisnachlässe zu gewähren. Doch die Pharmaindustrie protestiert - naturgemäß. Skeptiker vermuten schon jetzt, dass am Ende nicht die Pharmakonzerne, sondern die Patienten draufzahlen.
Warum sind die Medikamente so teuer? Die Pharmaunternehmen sagen: weil die Entwicklung neuer Medikamente Milliarden verschlingt. Die renommierte amerikanische Medizin-Journalistin Marcia Angell, die auch in Harvard doziert, widerspricht. Ihr Buch trägt den Titel "Der Pharma Bluff – wie innovativ die Pharma-Industrie wirklich ist." Wir haben die Pharma-Expertin der Wochenzeitung "Die Zeit", Jutta Hoffritz, gebeten, ihr Buch zu lesen.
"Glaubt man den Behauptungen der Pharmaunternehmen, dann sind die Medikamente so teuer, weil damit die hohen Kosten für Forschung und Entwicklung gedeckt werden müssen. (...) In dieser Behauptung steckt eine Art unausgesprochener Erpressung: Wenn ihr wollt, dass die Pharmaunternehmen weiterhin lebensrettende Medikamente produzieren, müsst ihr voller Dankbarkeit alles bezahlen, was sie verlangen."
Sprecherin:
Die Autorin hält die Argumentation der Arzneihersteller für verlogen. Auf 288 Seiten legt sie dar, dass in Wirklichkeit die Zahl der Erfindungen sank, während die Arzneiausgaben ständig stiegen. Hinzu kommt, dass die Pharmakonzerne längst nicht alles selbst erfinden, was sie verkaufen.
"Der eigentliche Skandal liegt aber in der Tatsache, dass die wenigen innovativen Medikamente, die tatsächlich auf den Markt kommen, fast immer Produkte staatlich finanzierter Forschung sind."
Egal ob Aids-Arznei, Krebstherapie oder Antidepressivum - nur die Minderheit der großen medizinischen Innovationen, so zeigt die Wissenschaftsjournalistin, entstehen in den Laboren der Konzerne. Das Gros der Erfindungen verdanke die Menschheit klugen Köpfen an Universitäten und staatlichen Forschungszentren. Ausführlich schildert sie, wie die Industrie mit kleinem Forschungs- und um so größerem Werbebudget gute Geschäfte macht.
Wer je beim Arzt im Wartezimmer ausharren musste, während dieser mit einem Pharmavertreter plauschte, wird das mit Interesse lesen. Die Autorin findet deutliche Worte. Pillenproben, Werbegeschenke, Fortbildungskurse im Ferienressort - für sie ist all das nichts anderes als
"Bestechung"
Ähnlich kritisch sieht sie die Werbung. Auch die europäischen Wettbewerber, so scheint es, haben sich den Gepflogenheiten schon recht gut angepasst. Um den Markt jenseits des Atlantiks zu erobern, geben sie große Summen für Werbung aus, die sie später über die Pillenpreise wieder hereinwirtschaften müssen.
"So unterzeichneten beispielsweise die Werbepartner GlaxoSmithKline und Bayer einen Vertrag mit der National Football League über die Werbung für ihr Nachahmerpräparat Levitra, das auf dem riesigen Markt der "erektilen Dysfunktion" mit Viagra in Konkurrenz steht. ... Neben dem exklusiven Sponsorenvertrag mit der Liga schlossen sie auch Abkommen mit einzelnen Mannschaften. Der Vertrag mit den New England Patriots sieht beispielsweise vor, dass das Levitra-Logo auf der Bandenwerbung im Gillette-Stadium auftaucht. Mike Ditka, der frühere Trainer der Chicago Bears, pries es 30 Sekunden lang auf Großleinwand an."
Wie kommt es, dass ausgerechnet ein Potenzmittel so intensiv beworben wird? Für die Autorin ist der Fall klar: Je unnötiger das Produkt, desto aufwändiger das Marketing. Niemand stirbt an Erektionsstörungen, Potenzmittel sind nicht überlebenswichtig. Darüber hinaus war die Pille aus Leverkusen nicht die einzige ihrer Art. Schon vor Jahren landete der amerikanische Hersteller Pfizer mit Viagra einen Kassenschlager. Und als Bayer dann endlich mit Levitra nachzog, brachte Wettbewerber EliLilly gleich noch eine dritte Pille heraus, die auf demselben Wirkmechanismus beruht.
"Neue Präparate sind in ihrer großen Mehrzahl keineswegs neu, sondern nur Abwandlungen von Produkten, die sich bereits auf dem Markt befinden. So etwas bezeichnet man als Me-too-Präparat"
Für Angell ist die Pharmaindustrie deshalb eine Branche,
"...die sich in den letzten 20 Jahren sehr schnell von ihrem ursprünglichen hochgesteckten Ziel, der Entdeckung und Herstellung nützlicher neuer Medikamente, verabschiedet hat. Heute ist sie vor allem ein Marketingapparat, der Medikamente von zweifelhaftem Nutzen verkauft."
Schade, dass sie sich mit ihren Ausführungen meist auf Amerika konzentriert. Die Zahlen, Daten und Fakten, mit denen sie ihre Thesen belegt, stammen weitgehend aus den USA. Und der Werbefeldzug für die Bayer-Potenzpille ist fast das einzige Beispiel aus Deutschland.
Der Kompart-Verlag, der die deutsche Übersetzung des Buches herausgibt, bemüht sich zwar, das Thema für die Leser hierzulande aufzubereiten. So stellte er dem Buch etwa eine Einführung voran, in der erklärt wird, wie die Zulassung und Erstattung von Arzneien in den USA funktioniert. In diesem Kapitel kann man nachlesen, wie die amerikanische Gesundheitsbehörde FDA neue Medikamente prüft und wie staatliche Krankenkasse Medicaid und private Versicherer – HMOs genannt - versuchen, die Pillenpreise zu drücken. Und wer sich all die Kürzel nicht aufs erste merken kann, der findet sie im Anhang noch einmal alphabetisch aufgelistet. Das ist dann fast zu viel des Guten.
Für deutsche Leser wäre es interessanter gewesen, zu erfahren, wie die Pharmaindustrie hierzulande agiert. Beispiele, die die Argumente der Autorin stützen, hätte es reichlich gegeben.
Wenn sie moniert, dass immer häufiger...
""Marketing als Forschung getarnt...","
daherkommt und kritisiert, klinische Studien dienten mehr und mehr dazu, Verkaufsargumente für überflüssige Arzneien zu sammeln, statt Aufschluss über ihre Wirkungen und Nebenwirkungen zu geben, dann schreit das förmlich nach dem Beispiel Lipobay.
Das Lipobay-Debakel machte Bayer zum Sanierungsfall. Fast gleichzeitig ging es mit den anderen großen Namen der deutschen Pharmaindustrie bergab. Auch ihnen fehlte der Nachschub an neuen Pillen. Der Frankfurter Hoechst-Konzern flüchtete sich in Fusionen und ist inzwischen im französischen Unternehmen Sanofi aufgegangen. Und der Ludwigshafener Chemiekonzern BASF verkaufte seine Pharmasparte an den amerikanischen Wettbewerber Abbott.
So kommt es, dass es Patienten wie auch Gesundheitspolitiker in Deutschland mehr und mehr mit amerikanischen Pharmariesen zu tun haben. Das wiederum macht das Buch – gerade wegen seiner Fokussierung auf die US-Unternehmen – zu einer interessanten Lektüre.
Moderatorin:
"Der Pharma-Bluff. Wie innovativ die Pillenindustrie wirklich ist." So heißt das Buch von Marcia Angell, das Ende vergangenen Jahres bei KomPart in der Schweiz erschienen ist. 288 Seiten umfasst es und kostet 24 Euro 80. Jutta Hoffritz hat es für uns rezensiert.
Musik…
Wir werden alt - wenn wir Glück haben, aber die Chancen stehen gut. Nicht ganz so gut: Auch unsere Gesellschaft wird alt; erst werden die Über-50-Jährigen und später vielleicht die Über-Sechzigjährigen in der Mehrheit sein. Das ist nicht neu, neu war aber vor zwei Jahren die Vehemenz, mit der der Herausgeber der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, Frank Schirrmacher, einen Krieg der Generationen an die Wand malte. In dieser Gefechtslage wollte Schirrmacher den Alten und Alternden Selbstbewusstsein zurückgeben. Forsch war die These, forsch auch die Argumentation. Das "Methusalem-Komplott" provozierte. Es war monatelang und kontrovers in vieler Munde. Vor wenigen Tagen hat Frank Schirrmacher nachgelegt. Diesmal beschäftigt er sich, auch hier ganz im Trend, mit dem Wert der Familie. Wir gewöhnen uns die Kinder ab – welche Folgen das für uns hat, darüber hat Pascal Fischer mit Frank Schirrmacher gesprochen.
Sprecher:
Beängstigend, dramatisch, ja: apokalyptisch – in diesem Ton schreibt Frank Schirrmacher das Genre "Demographischer Horror-Thriller" fort: Neben der Rentnerflut drohe jetzt die kinderlose Gesellschaft. Schirrmacher bleibt bei diesen längst bekannten Befunden nicht stehen, sondern macht eine noch schlimmere Entwicklung aus, nämlich...
"...dass in vielen Gebieten Europas, vor allem Österreichs und Deutschlands, dort, wo in den letzten 20 Jahren wenige Kinder geboren wurden, die jetzt junge Erwachsenen-Generation wieder wenig Kinder bekommt. Offenbar handelt es sich hier nicht mehr nur um Werteveränderung, sondern um ein richtig neues Programm. Die trauen sich das nicht mehr zu, die haben nicht mehr das Gefühl, dass sie mit Kindern umgehen können."
Daran sei eine fertilitätsfeindliche Lebenswelt schuld, so die These: Jugendliche werden als Einzelkinder ohne Cousins und Cousinen aufwachsen und nicht mehr mitbekommen, wie jemand aus ihrem Umfeld überhaupt Nachwuchs aufzieht.
Nicht nur Rentenzahler gingen uns also mit den kinderreichen Familien verloren, sondern der Altruismus überhaupt stehe auf dem Spiel, warnt Schirrmacher:
"Welcher Ort in der Gesellschaft ist der einzige Ort, der nicht von der Ökonomie regiert wird, jedenfalls im Inneren nicht von der Ökonomie regiert wird? – nach außen schon. Das ist hinter der Haustür der Familie. Die Arbeit, die ich dort für andere tue, wird nicht bezahlt. Die Arbeit, die ich dort für andere tue, ist keine, im striktesten Sinne ökonomische Arbeit. Die Generation, zu der ich ja auch zähle, gerade der Babyboomer, die 40- bis 50-Jährigen, die wird ihren Lebensabend nur ansprechend erleben können, wenn der Altruismus, die Selbstlosigkeit, die sie selbst nicht hatte, in dieser Generation stark ausgeprägt ist."
Gut ausgebildete und gut verdienende junge Menschen könnten sich bald nach Indien oder China absetzen, wo sie nicht von umlagefinanzierten Rentensystemen erdrückt werden. Selbst, wenn die jungen Reichen bleiben: Schirrmacher ahnt nun auch,...
"...dass diese Kinder sich entscheiden werden, wem sie später helfen werden: Allen? Oder einer fiktiven Gemeinschaft? Oder ihren Eltern?"
Jeder Mensch unterstütze - zumindest in Extremsituationen - zuallererst und unbedingt seine Familienmitglieder, das belegt Schirrmacher mit eindrücklich und pointiert erzählten Beispielen aus der Forschung. Da ist zum Beispiel die Brandkatastrophe in einem englischen Hotel:
"In diesem Fall waren es die Familien, die darauf achteten, dass alle zusammenbleiben, als das Feuer ausbrach und auch die schwächsten Mitglieder es schafften, zu fliehen. Bei den Freunden versuchten sich gerade einmal null Prozent zu finden, also überhaupt niemand. Die flohen alle als Einzelkämpfer. Das muss man einfach mal anerkennen. Das weiß der Volksmund auch: Blut ist stärker als Wasser."
Andere untersuchte Katastrophen zeigen: Die größten Überlebenschancen hätten Mitglieder von Großfamilien, weil sie sich untereinander fast bedingungslos helfen. Der Held und Einzelkämpfer habe keine Chance. Nein, die Familie sei die "Überlebensfabrik", die Überlebensfabrik der Vergangenheit – und auch der Zukunft, wenn der Staat weder jugendliche Arbeitslose noch Rentner unterstützen könne.
Wohlgemerkt: Schirrmacher schreibt keine konservative Moral für die Kanzel, sondern sagt Entwicklungen voraus, die er für unausweichlich hält.
Dann muss auch der Hass auf die Kleinfamilie verschwinden, meint Schirrmacher, denn er speist sich weitgehend aus Erinnerungen an das vergangene Jahrhundert: Herrschsüchtige Familienväter und unterdrückte Ehefrauen, verklemmte Sexualmoral und animalisch-dümmlicher Kinderwunsch.
"Diese Familie, die man da meint, der 50er und 60er Jahre, die kommt sowieso nicht wieder. Sondern stattdessen geht es darum, ‚Überlebensfabriken’ zu schaffen... Die Familie als Hort von Spießigkeit, Enge, von traditionellen Werten - das muss man mal aus seinem Kopf streichen. Das kann man dann später wieder hereinnehmen. Aber zuerst mal muss man sie sehen als Organisation, um Kinder in die Welt zu setzen und dann ein paar Jahre zusammenzubleiben und zusammenzuhalten."
Angebliche evolutionsbiologische Gesetze aus der Steinzeit bestimmen die Argumentation. Sicherlich wünscht man sich da ausgleichende Verweise auf die Sozialwissenschaften, auf kreative Sozialutopien.
Allerdings muss sich der Kritiker dann fragen, was aus den neuen Gemeinschaftsformen bislang geworden ist: Echte Kommunen aus den Siebzigern gibt es kaum, Studenten-WGs bestehen nur auf Zeit – und dort lebt man zwar miteinander, aber füttert die Anderen im Krisenfall nicht durch.
Noch eher sieht Schirrmacher die Patchwork-Familie kommen - auch, wenn er deren Zusammenhalt im Vergleich zur bürgerlich-biologischen Kleinfamilie als geringer einschätzt. In jedem Fall – so glaubt Schirrmacher, kommt den Frauen hier eine Schlüsselrolle zu. Denn Frauen sind klüger und besser ausgebildet als die Männer, kommunikativer, netzwerkfähiger, können mehrere Aufgaben gleichzeitig bewältigen – das sagen Biologen und Psychologen.
Die Integration der Frauen in den Arbeitsmarkt – einst undenkbar, dann Option – werde beim kommenden Arbeitskräftemangel zur politischen Pflicht. Ein Kinderwunsch brächte also standardmäßig die Doppelbelastung durch Familie und Beruf mit sich, wie sie heute schon vielfach vorhanden ist. Frauen also als Packesel der Gesellschaft?
"Das ist nicht konservativ. Konservativ hieße: Man will sie an den Herd zurückschicken. Worum es jetzt geht, ist, sich klarzumachen, welche Irrsinnsbelastungen auf diese Generation junger Mädchen zukommt. Wieso wünschen sich mehrheitlich die jungen Familien ein Kind, und das soll ein Mädchen sein? - Weil sie bereits daran denken. Heutzutage kann ein Mädchen Geld verdienen, zweitens ist es sozialkompetent - also eine gute Pflegerin."
Gerade den Leserinnen dürfte es aufstoßen, dass immer von kinderlosen Frauen, statt von kinderlosen Paaren die Rede ist. Dieser unglückliche Slang sollte aber nicht über Schirrmachers progressive Seiten hinwegtäuschen: Auch Männer werden, so weiß der Autor, für Einkommen und Erziehung gleichermaßen sorgen müssen. Die Mütter sollten entlastet werden, die Erziehungsleistung müsse endlich bei der Rente angerechnet werden.
Unmissverständlicher ist Schirrmachers Bekenntnis zu mehr Zuwanderung – die zumindest teilweise das demographische Problem lösen könnte:
"Wir müssen dringend dazu übergehen, die Zuwanderer, die in diesem Lande leben, in diese Gesellschaft zu integrieren. Noch heute glauben ja Leute, wir hätten ein Problem mit Zuwanderung. Das haben wir überhaupt nicht, sondern wir werden sie dringend brauchen. Wir werden um jeden ausgebildeten Zuwanderer glücklich sein."
Leider bietet der Autor sonst kaum Lösungen und verschweigt zudem weniger drastische Schätzungen zur Bevölkerungsentwicklung – die es auch gibt. Schließlich hat eine Gesellschaft, die keine Kinder aufzieht, zunächst auch mehr Geld für die Alten. Und eine schmale Hoffnung bleibt: Der Produktivitätsfortschritt könnte für anhaltenden Wohlstand sorgen.
Der Rententopf, so ließe sich Schirrmacher entgegnen, leert sich derzeit auch aufgrund der hohen Arbeitslosigkeit und vieler prekärer selbständiger Arbeitsverhältnisse. Denn wichtig ist, wie viele Menschen in das System einzahlen und wie hoch ihre Einkommen sind. Von Minijobbern ohne Sozialversicherung haben Rentner also nichts. Ganz abgesehen davon, dass auch die Minijobber nicht genug Geld für die Aufzucht der benötigten Kinder haben.
Dann wiederum behielte Schirrmacher doch Recht. Mag er zu Recht oder zu Unrecht ein Untergangsprophet sein: Das kurzweilige, ja spannende Büchlein motiviert mehr als jede Statistik dazu, sich mit Zukunftsfragen auseinanderzusetzen. Egal, ob wir diese Zukunft per Kleinfamilie meistern – oder doch ganz anders.
Moderatorin:
Frank Schirrmachers neues Buch heißt "Minimum. Vom Vergehen und Neuentstehen unserer Gemeinschaft." Erschienen ist es im
Karl Blessing Verlag, es umfasst 185 Seiten und kostet 16 Euro.
Musik…
"Generation Reform" hieß das Buch, dass der junge Berliner Historiker Paul Nolte vor zwei Jahren veröffentlichte. Unser Rezensent Günter Müchler war sehr angetan – und teilte seine Begeisterung mit vielen anderen Kritikern in der deutschen Medienlandschaft. Einmal mehr rief da jemand eine neue Generation aus – aber diesmal eine, die nicht zauderte, die sich nicht in ihrer Durchschnittlichkeit einrichtete. Die Zukunft gehört in Noltes Szenario denen, die nicht auf den Staat vertrauen, die Risiken eingehen. Noltes Text haben viele als Vorentwurf gelesen für eine grundlegende Veränderung Deutschlands. Jetzt hat Paul Nolte einen zweiten Band vorgelegt. "Riskante Moderne" heißt er, er ist mit hohen Erwartungen verknüpft. Ob Nolte sie erfüllen kann, sagt Ihnen Günter Müchler.
Sprecher:
"Wir haben uns die Utopien abgeschminkt". So äußerte sich kürzlich der Historiker Paul Nolte im Berliner "Tagesspiegel". Tatsächlich sucht man Utopien in den Veröffentlichungen des mit zweiundvierzig Jahren noch jungen, soeben von Bremen an die Berliner FU gewechselten Wissenschaftlers vergeblich.
Als Beobachter und Anwalt des gesellschaftlichen Wandels bietet sich Nolte auch in seinem neuesten Buch an. Es heißt "Riskante Moderne", und Assoziationen mit Ulrich Becks "Risikogesellschaft" sind durchaus gewollt. Allerdings versteht sich Nolte eher als ein Antipode zu Beck, dessen im Jahr der Tschernobyl-Katastrophe erschienener Bestseller die Ängste einer ganzen Altersgruppe versammelte und zum Brevier der Ökologiebewegung wurde.
Becks Buch buchstabierte die Moderne als eine umfassende Bedrohung. Zwanzig Jahre später bestreitet Nolte die Risiken einer technologisch hochgerüsteten, komplexen Gesellschaft, die sich zudem im Bezugsrahmen der Globalisierung zu behaupten hat, keineswegs. Sie sind für ihn aber nicht Bedrohung, sondern Herausforderung. Dementsprechend ist der Grundton, den das Buch anschlägt, dur. So heißt es in der Einleitung des 300-Seiten-Oeuvres:
"Dieses Buch schlägt sich vorbehaltlos, aber hoffentlich nicht vordergründig, auf die Seite der Optimisten. Das ist mit Blauäugigkeit nicht zu verwechseln. Denn am Anfang steht immer eine nüchterne Bestandsaufnahme. Warum hat sich Deutschland mehr als andere, vergleichbare Nationen aus dem Vertrauen in die Zukunft verabschiedet, warum sind bei uns Deutschen die Ängste vor Herausforderung der Moderne geradezu lähmend übermächtig geworden?"
Nach dem Ende des Kalten Krieges sind die Herausforderungen nicht weniger zahlreich geworden. Neue traten hinzu, beispielsweise der internationale Terrorismus. Nicht gewachsen ist in den letzten zwei Jahrzehnten nach Auffassung Noltes die Souveränität im Umgang mit dem Risiko. Eine "Grundmentalität des Aufschubs" habe sich verfestigt, überall auf der Welt.
"Dennoch haben sich die Deutschen – wenigstens darin international noch Spitze – der Strategie der Risikovermeidung auf beispiellose Weise hingegeben. Ein klassisches Sicherheitsdenken hat den Sieg davongetragen, wir sind ein risikofeindliches Land geworden."
Wann haben wir die Moderne verloren? Nolte offeriert einen ganzen Strauß von Antworten. Im Kern richtet er die Lanze auf Achtundsechziger und Grüne, die Protagonisten der Postmoderne. Sie haben sich durch Verinnerlichung und Technikfeindlichkeit letztlich von der Politik als Gestaltung abgewandt und die Bestandsverwaltung befördert. So konnte, folgert Nolte, "die Diagnose von den Grenzen des Wachstums zur self-fulfilling prophecy werden."
Das klingt alles ziemlich plausibel und bekannt. Man nehme nur den jüngsten Tarifkonflikt im öffentlichen Dienst und den Kampf gegen eine geringfügige Erhöhung der Arbeitszeit. Jahrzehntelang wurde von Seiten der Gewerkschaften die Politik der Arbeitszeitverkürzung als Allheilmittel gegen die Massenarbeitslosigkeit verkauft. Jahrzehntelang hat das Mittel nicht gewirkt, doch auch das Erreichen der Fünf-Millionen-Grenze bei den Arbeitslosen führt nicht zu einem Wechsel der Arznei.
"Dornröschen-Krankheit" würde Nolte sagen, der zu Märchenmetaphern neigt. Wer das Buch durchblättert, fühlt sich immer wieder bestätigt. Sonderbar glatt gleitet Noltes Feder dahin. Die Beschreibung der Krise ist allumfassend: Wachsende Unterschiede zwischen Arm und Reich, Rentenloch, demographische Katastrophe, Migration, Bildungsmisere, Generationenkonflikt. Der Systemkritiker spart kein Phänomen aus.
Aber das Relief bleibt flach. Nolte schürft seine Erkenntnisse gewissermaßen im Tagebau. Tiefenbohrungen finden nicht statt. Es fehlen die Stützbalken der Empirie. Ein paar Zahlen vertrüge das Buch. Und wer darauf gehofft hatte, Nolte würde Thesen, die seine "Generation Reform" zur spannenden Lektüre machten, weiterführen und mit Material unterfüttern, sieht sich getäuscht. Das Buch verdankt seinen Umfang in nicht geringem Maße Redundanzen.
In seinem "Plädoyer für eine Wiedergewinnung der Moderne" widmet sich der Autor auch den großen politischen Lagern. Was ist von ihnen zu erwarten? Am größten sind seine Zweifel bei der Sozialdemokratie.
Den bürgerlichen Parteien traut Nolte bei allen Einschränkungen am ehesten zu, das Projekt der Bürgergesellschaft voranzutreiben. Viel verspricht er sich von Angela Merkel, die er mit dem Etikett "anti-konservativ" versieht. Ihre Vision ist für ihn:
"die Vision einer offenen Gesellschaft, jenseits von ungerechtfertigter Hierarchie, jenseits der Fesselung von Individuen, von Verkrustung und Erstarrung. Auf subtile Weise mag man darin sogar eine Fortsetzung des rot-grünen Projekts sehen, das ebenfalls im Zeichen einer – gleichwohl ganz anders akzentuierten – offenen Gesellschaft angetreten ist."
Die Perspektive, die Nolte sieht, liegt jenseits des Konsums. Von einer "investiven Gesellschaft" ist im Schlusskapitel die Rede. Sie rückt ab vom Konsum und vom Ressourcenverbrauch und setzt auf Bürger, die Kompetenzen und Fähigkeiten für ihr privates Leben, aber auch für die Gemeinschaft zur Verfügung stellen. Bei Nolte ist die neue, tragende Schicht fest verortet:
"Bürgerliche Gesellschaft ist im Kern ein Projekt von Mittelklassen, von mittleren Schichten der sozialen Hierarchie gewesen, nicht in einem strengen, exklusiven, abgeschotteten Sinne, sondern im Sinne einer offenen Mitte, als Kristallisierungskern, an den anderes sich anlagern kann. Es sind nicht die Armen und auch nicht die Superreichen, die sich zuerst und beständig engagieren."
Nach rasch bewältigten 300 Seiten wird man Paul Nolte bescheinigen, abermals ein gut lesbares Buch geschrieben zu haben. Der nüchterne, ideologiefreie Blick und die Weigerung, in den Chor depressiver Weltschau einzutreten, machen es sympathisch. Indessen werden Noltes Erkenntnisse das Publikum schwerlich wie eine Erleuchtung treffen. Sie vermitteln ihm jedoch das positive Gefühl, mit seiner Meinung nicht allein zu stehen.
Moderatorin:
Günter Müchler rezensierte das neue Buch von Paul Nolte:
Riskante Moderne, heißt es, im Untertitel: Die Deutschen und der neue Kapitalismus, erschienen bei C.H. Beck 2006, 256 Seiten, 19,90 Euro.
Musik…
Wenn man sich die Bücher anschaut, die der Journalist Roger Willemsen in den vergangenen Jahren geschrieben hat, dann fällt auf, wie sich sein Interesse offensichtlich verlagert hat: Weg von Deutschland, nach Paris, London, Hollywood. Von da aus ist es immer noch ein gutes Stück bis Guantanamo – allerdings gedanklich vielleicht nicht so sehr, denn die Kritik an dem US-Lager ist mittlerweile fast common sense, sie kostet nicht mehr viel. Dennoch macht sein neues Buch neugierig, denn es verspricht Zeugenaussagen aus erster Hand. Roger Willemsen ist ehemaligen Häftlingen hinterhergereist und hat sie befragt. "Hier spricht Guantanamo", heißt der Interviewband, und mein Kollege Henning von Löwis hat den Mann befragt, der die Ex-Häftlinge sprechen lässt.
von Löwis:
Roger Willemsen, über Guantanamo ist alles gesagt, sagen Sie, und - präsentieren das 240-Seiten-Opus "Hier spricht Guantanamo". Warum dieses Werk, und warum erst jetzt?
Willemsen:
Es war nötig, weil es in der Publizistik weitgehend fehlt, dass die gehört werden, die so lange auf einen Prozess warten, die auf das demokratische Prinzip des "et altera pars auditur", auch der andere muss gehört werden, vertrauen, und es war auch nötig, weil, ehrlich gesagt, in der deutschen Publizistik kein einziges großes Interview, ausführliches Interview mit Vorgeschichte, mit biographischem Hintergrund der Häftlinge geführt worden ist.
von Löwis:
Die FAZ schreibt: Das richtige Buch zur falschen Zeit.
Willemsen:
Ja, ich lache oft über diesen Satz, denn ich muss sagen, die FAZ ist ausgerechnet die Zeitung, die vor einiger Zeit noch geschrieben hat, nun sei ja wohl erwiesen, dass die gefährlichsten aller Verbrecher in Guantanamo säßen. Und dann sind wir in einer Zeit, wo die Berlinale mit Michael Winterbottom "The Road to Guantanamo" eröffnet wird, und das Thema ist ganz oben. Also, man muss sagen, die FAZ hat offenbar andere Gründe, dieses Buch nicht zu mögen.
von Löwis:
Es kommt noch dicker, Zitat Spiegel Online: "Es genügt dem Großaufklärer Willemsen nicht, selbst ein gutes Werk zu tun. Er muss wohl stets der Klassenbeste sein."
Willemsen:
(lacht).. Tja, Spiegel Online schickt irgendwie seinen Prominentesten, Reinhard Mohr, der seit 10 Jahren, glaube ich, an der Willemsen-Berichterstattung ist, weil er mal in einem Interview mit mir schlecht ausgesehen hat. Also, leider können solche Zeitungen selbst im Falle Guantanamos nicht ihre Ressentiments zurückstellen. Denn es ist einfach so, der Spiegel hat die letzte große Geschichte über Guantanamo mit O-Tönen gemacht im Jahr 2004. Ich finde, das ist einem Lager gegenüber, in dem täglich gefoltert wird, ein Skandal, wenn man bedenkt, dass das ein nachrichtliches Medium ist.
von Löwis:
Sie sind ein Fernsehmann. Warum gehen Sie mit der Guantanamo-Story nicht ins Fernsehen?
Willemsen:
Das Fernsehen will diese Geschichte in Deutschland weniger als im Ausland. Im Ausland werden damit zum Teil die Hauptnachrichten aufgemacht. Wir verhandeln mit Ländern wie Philippinen und Zypern über den Rechteverkauf. Das hat es noch nie in der Form gegeben für den Verlag. Aber ich bin in den großen Sendeanstalten damit noch nicht gewesen. Das konstatiere ich nur. Aber wenn Jette Joop ihre neuen Schuhe vorstellt, sind acht Kamerateams da. Wenn ich Guantanamo-Stimmen vorstelle, keins. So ist das eben.
von Löwis:
Sie betreiben ja ziemlich heftige Medienschelte. Wird Guantanamo Ihrer Ansicht nach bewusst verdrängt, bewusst ausgeblendet aus den Medien?
Willemsen:
Ich betreibe die Medienschelte auch deshalb, weil ich weiß, so komme ich ganz sicher in die Medien, denn die Medien sind insgesamt so eitel, dass sie immer darauf reagieren. Wenn sie sich für Guantanamo und das Buch nicht interessieren, dann interessieren sie sich dafür, dass jemand Medien kritisiert. Es wird ja gar nicht mehr gefragt, was der kritisiert. Denn in der Sache habe ich ja recht. Es hat mir ja keiner widersprochen, dass diese großen Geschichten fehlen. Aber ich muss trotzdem sagen, es gibt natürlich eine riesige Publizistik zu Guantanamo. Es gibt Gesinnungsaufsätze dazu – die sind auch wichtig. Und es ist gut, dass wir das Bewusstsein haben von dem, was da passiert. Meine einzige wirkliche Kritik war, es fehlt der authentische Augenzeugenbericht dessen, was wir "oral history" nennen würden, also mündlich überlieferte Geschichte von dem, was Opfer dort erleben.
von Löwis:
Liegt das vielleicht auch daran, dass die Deutschen zu sehr zurückblicken, zu sehr Vergangenheitsbewältigung betreiben und die Gegenwart etwas ausblenden?
Willemsen:
Exakt. Ich würde immer sagen, eine authentische Vergangenheitsbewältigung besteht nicht aus jeder Woche einem Fernsehfilm über Hitlers schönste Poesiealbumsseiten, sondern sie besteht daraus, dass man sagt: Wo sind Lager heute? Wo sind Verhältnisse, in denen demokratische Staaten ihre Grenzen übertreten? Und um die geht es auch, wenn wir Deutschen Vergangenheitsbewältigung betreiben wollen.
von Löwis:
Lager heute – würden Sie da Parallelen ziehen?
Willemsen:
Ich hüte mich vor Parallelen zum Nationalsozialismus irgend einer Art. Trotzdem muss man aufpassen. In dem Augenblick, wo demokratische Systeme einen Raum definieren, von dem sie sagen, er liegt außerhalb und dort führe ich den Begriff des Vogelfreien wieder ein, dort darf ich foltern, wird das zum Muster für China, für Russland, für afrikanische Staaten, und es überschreitet einfach den Gedanken der Rechtsstaatlichkeit.
von Löwis:
Reden wir über das Buch. Roger Willemsen hat sich auf die Suche nach ehemaligen Häftlingen gemacht, heißt es in der Ankündigung des Verlags 2001. Wie muss man sich das ganz konkret vorstellen? Wo kann man solche Leute finden?
Willemsen:
Mit Hilfe von amnesty, von anderen Hilfsorganisationen, mit Hilfe von privaten Kontakten innerhalb Afghanistans ist es mir gelungen, die aufzuspüren.
von Löwis:
Für Mr. Bush sind das Killer, mit denen Sie gesprochen haben. Haben Sie den Eindruck, dass das Killer sind?
Willemsen:
Mr. Bush wusste, glaube ich, von Anfang an, dass das keine Killer sind. Er hat für viele der Häftlinge Geld bezahlt, weil er das Lager irgendwie füllen musste. Er hat schlechte Dolmetscher eingesetzt, die nicht in der Lage waren, Zwischentöne überhaupt zu erkennen. Er hat zum Teil Leute zehn Monate lang überhaupt nicht mal verhört. Und außerdem sind nun alle, die ich befragt habe, auch von Bush als unschuldig erklärt worden und frei gelassen worden – wie übrigens inzwischen 300 dort Einsitzende.
von Löwis:
Haben sich die Amerikaner entschuldigt?
Willemsen:
Einer hat, glaube ich, mir gesagt, man habe Sorry gesagt. Danach hat man ihn gefesselt und hat ihn 40 Stunden um die Welt geflogen - er hat unter anderem die Türkei erkennen können - und dann in Russland ausgesetzt. Dort wurde er dann von den Russen gleich wieder festgenommen und wieder ins Gefängnis geworfen, weil man ihn auch dort als Terroristen sehen wollte, nachdem er ja schon mal in Guantanamo gewesen war.
von Löwis:
Und einer war ja, glaube ich, der Botschafter Afghanistans in Pakistan.
Willemsen:
Das ist ganz richtig. Das war ein hochrangiger Taliban. Da verbündet man sich auch mit dem Teufel, wenn man eben Taliban zu Hilfe nimmt. Aber in diesem Falle war es wichtig. Er war
nämlich auch der Sprecher der Gefangenen im Lager und konnte deshalb besonders viel beibringen.
von Löwis:
Roger Willemsen, was sind für Sie die wichtigsten Erkenntnisse, die Sie gewonnen haben durch die Gespräche mit den Gefangenen?
Willemsen:
Dass es doch systematische Folter in allen verschiedenen Formen gibt bis zu eklatanten Koran-Schändungen, dass es dort einen Hungerstreik gibt, der seit über fünf Monaten läuft, und der zur Zwangsernährung führt, dass die politischen Verhältnisse, aufgrund derer die Häftlinge dort einsitzen, derartig fadenscheinig sind, dass ich davon ausgehe, dass es sich eigentlich um ein Zeigelager handelt, also, um ein Lager, das da sein muss, damit man sagt, wir arbeiten daran. Aber ich glaube nicht, dass die Amerikaner wirklich daran glauben, dass sie dort Schuldige haben.
von Löwis:
Hat sich Ihr Amerika-Bild durch Guantanamo verändert?
Willemsen:
Im Grunde genommen trete ich auf im Sinne eines linksliberalen Amerika, das es ja durchaus auch gibt, das auch seine Repräsentanten hat, das auf der Rechtsstaatlichkeit und das auf Menschenrechten insgesamt noch beharrt. Aber dass Amerika in so kurzer Zeit nach dem 11.9. in der Lage sein würde, seine Grundprinzipien so zu verleugnen, hätte ich nie gedacht – und, ehrlich gesagt, die Gefangenen auch nicht, denn die dachten immer: Wir sind ja in einem Rechtsstaat; wir bekommen ja unseren Prozess.
von Löwis:
Hat das überhaupt etwas mit dem 11.9. zu tun, was sich da abspielt?
Willemsen:
Nein. Das ist Kosmetik. Der Irak-Krieg hatte ja letztlich mit dem 11.9. auch nichts zu tun.
von Löwis:
Sie haben auf einer Pressekonferenz geäußert: Die Supermacht läuft Amok, die Supermacht USA. Was kann man gegen einen wild gewordenen Amokläufer in der internationalen Arena
unternehmen? Fällt Ihnen da was ein – außer Bücher schreiben?
Willemsen:
Öffentlichkeit ist das erste. Ich kann nur sagen. Andere Staaten wären längst mit einem Embargo konfrontiert worden. Und es ist diesem Lager gegenüber die höchstmögliche Radikalität das einzige humane Verhalten. Man muss es schließen.
von Löwis:
Roger Willemsen ist nicht Mr. Nobody. Haben Sie mal versucht, in die Höhle des Löwen zu gehen, nach Guantanamo?
Willemsen:
Nein, das habe ich nicht versucht, denn Journalisten dürfen dort im Abstand von 500 Metern aus der Ferne das Lager ansehen - soviel zur Erklärung von George Bush: Jeder sei eingeladen, sich dort ein Bild zu machen, wie human man dort mit ihnen umginge.
von Löwis:
Alle Welt regt sich auf über Guantanamo. Alle Welt fordert die Schließung. Washington bleibt stur. Was kann da ein Buch von Roger Willemsen bewirken?
Willemsen:
Ehrlich gesagt: nichts. Aber es kann das Bewusstsein wach halten, dass dort Menschen gefoltert werden und dass das ein Staat tut, mit dem wir verbündet sind und dem wir viel Dank schulden für die Form der Demokratisierung, die in diesem Lande stattgefunden hat. Aber wir sind es ihm genau im Sinne dieser Demokratisierung schuldig, es heftigst zu kritisieren.
Moderatorin:
Der Interviewband von Roger Willemsen heißt: Hier spricht Guantanamo. Roger Willemsen interviewt Ex-Häftlinge. Erschienen bei Zweitausendeins in Frankfurt a. M.. 237 Seiten kosten 12,90 Euro. Das Gespräch führte Henning von Löwis.
Musik…
Im Grunde genommen hat wahrscheinlich schon lange keiner mehr daran geglaubt, dass beim Fußball elf Freunde auf dem Platz stehen und einfach ein gutes Spiel machen wollen. Auch die WM ist eine knallharte Kommerzveranstaltung, und vor diesem Hintergrund picken wir uns aus der Flut der Fußball-Publikationen im WM-Jahr die heraus, die sich mit der Kommerzialisierung des Sports befassen. Denn das ist ausnahmsweise mal ein Fußball-Thema, bei dem (noch) nicht alle mitreden können. André Hatting hat zwei einschlägige Bücher genauer unter die Lupe genommen: "Das schmutzige Spiel" heißt das eine, Fred Sellin hat es geschrieben, und "Geld schießt Tore", das andere, Autoren sind in diesem Fall zwei Handelsblatt-Redakteure.
Sprecher:
Die Bundesliga boomt. Trotz Wettskandal und internationaler Mittelmäßigkeit: In der vergangenen Saison besuchten über 11 Millionen Zuschauer die Stadien. Rekord! Die meisten davon, nämlich durchschnittlich über 77-tausend, kamen, um Borussia Dortmund zu unterstützen. Falsch, sagt Dieter Hintermeier, Autor des Buches "Geld schießt Tore":
"Wenn ein Stadion wie beispielsweise in Dortmund 80.000 Zuschauer fasst, dann sind in der Südkurve vielleicht 25.000 Fans, die wirklich für den Verein durch Dick und Dünn gehen. Und den Rest würde ich so einschätzen, der geht dahin, weil das Westfalenstadion ein tolles Stadion ist, weil ich eine tolle Atmosphäre erlebe und unabhängig davon, wer dort spielt, ich erlebe ein tolles Fußballspiel."
Genauso gut könnte er auch in die Oper oder ins Kino gehen, um sich zu amüsieren. Fußball bilde eben nur eine Option, behauptet Dieter Hintermeier. Für jeden Fußball-Fan ist diese These eine Provokation. Und nicht die einzige in dem Buch. Gemeinsam mit seinem Autorenkollegen Udo Rettberg mutet Dieter Hintermeier dem fußballbegeisterten Leser Ungeheuerliches zu. Zum Beispiel einen Umzug. Wirtschaftlich betrachtet, gehöre der Erstligist FSV Mainz nach Essen. Denn dort leben viel mehr Menschen. Also auch mehr potenzielle Stadionbesucher:
"Fußball als globales Business – und wie wir im Spiel bleiben" – diesen Untertitel geben Hintermeier/ Rettberg ihrem Buch, und sie meinen es Ernst. So wie Unternehmensberater Firmen auf Stärken und Schwächen durchscannen, prüfen die Autoren die Fußball-Bundesliga. Die Kapitel heißen zum Beispiel:
"Vom Verein zur Kapitalgesellschaft. Kasse machen bei internationalen Events. Oder Was die FIFA-Rangliste und das Bruttosozialprodukt miteinander zu tun haben"."
Das erklären Hintermeier/ Rettberg auf gut 300 Seiten. Sie zeigen, warum Borussia Dortmund mit seinem Börsengang gescheitert ist, welche Manager in der Liga ihr Geschäft verstehen - und welche nicht, und warum in ihren Augen reiche Investoren aus dem Ausland wie Malcom Glazer oder Roman Abramowitsch den Fußball nicht zerstören, sondern bereichern:
""Seit 1997 haben nicht weniger als 28 Vereine aus den Profiligen Gläubigerschutz anmelden müssen. Und ohne Chelsea wären die von britischen Erstligisten gezahlten Gehaltssummen erstmals wieder auf den Stand von 1992 gefallen."
Also – sagen wir einmal – statt 4 Millionen Pfund Jahresgage für einen Top-Spieler nur 2 Millionen? Das Bedauern beim gemeinen Fußballfan dürfte sich in Grenzen halten. Das Verständnis für manchen Vorschlag der Autoren ebenfalls. Gegen Ende ihres Buches fordern Hintermeier und Rettberg einige "Verbesserungen" - an der Bundesliga speziell und am Fußball ganz allgemein: das System des Auf- und Abstiegs, zum Beispiel – aus wirtschaftlicher Perspektive barer Unsinn:
"Die sportlich erfolgreichen Mannschaften wie Bayern München, zum Beispiel, müssen auch international gestärkt werden. Das heißt, der Erfolg, den sie in der nationalen Liga haben, muss sich auch widerspiegeln im Finanziellen. In unserem sozialistischen Prinzip Bundesliga, das auf dem Relegationsmodus aufbaut, das heißt, Auf- und Abstieg ist mit eingebaut, versucht man halt dadurch eine gewisse Art von Wettbewerb zu ermöglichen - immer noch -, auch für Vereine wie Borussia Mönchengladbach oder Nürnberg, die jetzt finanziell nicht so gut ausgestattet sind wie Bayern Mänchen."
Die Abseitsregel – viel zu kompliziert und deshalb verkaufsschädigend:
"Der Hintergrund der Überlegung war ganz einfach: Große, erfolgreiche Fußballvereine brauchen auch Planungssicherheit, auf der einen Seite. Auf der anderen Seite muss das Spiel auch attraktiv für die Zuschauer bleiben. Das heißt, je mehr Tore fallen, desto interessanter wird das Spiel, und desto interessanter wird das Geschäft Fußball. Die Verteidiger müssen halt ein bisschen besser aufpassen. Das Spiel würde spannender werden, und es würden auch mehr Tore fallen."
Das Spiel würde nicht spannender werden. Im Gegenteil: Der Fußball fiele zurück in die Steinzeit. In den Stadien bekämen die Zuschauer ein Spiel zu sehen auf dem Niveau der F-Jugend. Für die fünf- bis sechsjährigen Fußballanfänger gibt es nämlich auch kein Abseits. Das sieht dann so aus: Einer der Knirpse drischt den Ball nach vorn, alle rennen hinterher und der am weitesten vor dem Tor steht, bekommt ihn. Es ist schwer zu begreifen, wie Dieter Hintermeier - selber bis zur A-Jugend aktiver Fußballer - so einen Vorschlag machen kann.
Hintermeier/ Rettberg arbeiten als Wirtschaftsjournalisten beim "Handelsblatt". Irgendwie muss ihnen das große Geschäft Fußball stellenweise die Sinne für den Sport Fußball vernebelt haben. Wo es darum geht, wie Fußballvereine wirtschaftlich besser geführt werden können, hat das Buch durchaus starke Seiten. Aber leider verstricken sich die Autoren immer wieder in Widersprüche: So fordern sie, dass das Trikot-Ausziehen beim Torjubel nicht mehr mit einer Gelben Karte bestraft werden dürfe. Emotionen, Leidenschaft – das wollten die Fans sehen. Gleichzeitig aber betonen Hintermeier/ Rettberg, dass Fußball ein weltweiter Artikel sei. Völlig richtig. Und genau deswegen verlangt die FIFA ja auch, dass der Spieler das Trikot anbehält. Aus Rücksicht auf die Schamgefühle der Zuschauer in arabischen Ländern.
Auch Fred Sellin geht es um Scham. Oder besser: Schamlosigkeit. "Das schmutzige Spiel" aber ist ein Kompendium über verlogene Spieler, korrupte Vereinspräsidenten und gekaufte Trainer.
"Ich freue mich auf die Weltmeisterschaft. Ich freue mich auf jedes Spiel und ich hoffe auch, dass die deutsche Mannschaft da gut abschneidet, halbwegs gut wenigstens. Aber andererseits finde ich es so verlogen und so heuchlerisch, wenn sich bestimmte Leute seit Monaten hinstellen und so tun, als wäre der deutsche Fußball die schönste Nebensache der Welt, und es wäre alles Friede, Freude, Eierkuchen, und all die schlechten Sachen, all die schlimmen Sachen gebe es gar nicht. Deswegen habe ich unter anderem auch gesagt, man müsste dazu ein Buch machen, um mal aufzulisten, was eigentlich wie läuft hinter den Kulissen."
Zu Beispiel wie Trainer bei der Verpflichtung von Spielern
mitverdienen, wie Spielerberater Scheinehen arrangieren, um nicht-europäische Ausländer in Deutschland verkaufen zu können, oder wie große Unternehmen darüber bestimmen, wer als Trainer arbeiten darf und wer nicht – und das nicht nur bei den Werksvereinen Leverkusen oder Wolfsburg. Für einige der Geschichten habe er lange recherchieren müssen, sagt Sellin.
"Eine Geschichte ist halt so gelaufen, das betrifft Kaiserslautern: Nach verschiedenen Vorgesprächen waren wir abends zum Abendessen, sind dann fertig gewesen und plötzlich sagte er dann: ‚Kommen Sie doch mal mit zu meinem Auto!’ – holte da so eine Einkaufsklappbox voller Akten, hielt mir die hin und sagte: ‚Morgen früh um sieben treffen wir uns im Hotel zum Frühstück, und dann brauche ich das alles zurück.’"
Sellin kann erzählen. Sein Buch ist spannend geschrieben, wenn auch stellenweise vielleicht etwas zu reißerisch. Man merkt, dass der Autor Erfahrung mit großen Stoffen hat. Zuvor hatte er Biografien über Heinz Rühmann und Boris Becker verfasst. "Das schmutzige Spiel" trägt nicht nur die jüngsten Korruptionsgeschichten der Bundesliga zusammen, von der Affäre Karl-Heinz Wildmoser bis zum Wettskandal um den Schiedsrichter Robert Hoyzer. Es zeigt auch, wie dilettantisch und peinlich manche Manager ihre Vereine führen.
Geld schießt eben nur bedingt Tore – in diesem Sinne liest sich Fred Sellins Buch als Ergänzung zu der Arbeit von Dieter Hintermeier und Udo Rettberg.
"Die Intention war aufzuzeigen, wie läuft der Fußball abseits des Fußballplatzes hinter den Kulissen, wer schaltet, wer hat Macht, wer bestimmt, wo der Ball hinrollt."
Das hatten bereits vor fünf Jahren die Journalisten Thomas Kistner und Ludger Schulze getan. Ihr Buch "Die Spielmacher. Strippenzieher und Profiteure im deutschen Fußball" ist ein Standardwerk. Sellins Verdienst ist, dass er die Geschichte fortschreibt und um einige interessante Kapitel bereichert.
Moderatorin:
André Hatting las für uns zwei Sachbücher über Fußball:
Geld schießt Tore von Dieter Hintermaier und Udo Rettberg, erschienen im Hanser Verlag zum Preis von 19 Euro 90 und
Fred Sellin: Das schmutzige Spiel. Intrigen, Skandale und Machenschaften im deutschen Fußball, bei C. Bertelsmann für 14,95 Euro.
Musik…
Die Reform des Gesundheitssystems ist ein Dauerbrenner. Dessen Kosten werden nur mühsam im Zaum gehalten. Schuld an der Entwicklung sind unter anderem die ausufernden Arzneikosten. Abhilfe verspricht sich die Regierung vom neuen Arzneimittelgesetz, es soll noch in diesem Frühjahr in Kraft treten. Damit will die Regierung die Pillenhersteller zwingen, Preisnachlässe zu gewähren. Doch die Pharmaindustrie protestiert - naturgemäß. Skeptiker vermuten schon jetzt, dass am Ende nicht die Pharmakonzerne, sondern die Patienten draufzahlen.
Warum sind die Medikamente so teuer? Die Pharmaunternehmen sagen: weil die Entwicklung neuer Medikamente Milliarden verschlingt. Die renommierte amerikanische Medizin-Journalistin Marcia Angell, die auch in Harvard doziert, widerspricht. Ihr Buch trägt den Titel "Der Pharma Bluff – wie innovativ die Pharma-Industrie wirklich ist." Wir haben die Pharma-Expertin der Wochenzeitung "Die Zeit", Jutta Hoffritz, gebeten, ihr Buch zu lesen.
"Glaubt man den Behauptungen der Pharmaunternehmen, dann sind die Medikamente so teuer, weil damit die hohen Kosten für Forschung und Entwicklung gedeckt werden müssen. (...) In dieser Behauptung steckt eine Art unausgesprochener Erpressung: Wenn ihr wollt, dass die Pharmaunternehmen weiterhin lebensrettende Medikamente produzieren, müsst ihr voller Dankbarkeit alles bezahlen, was sie verlangen."
Sprecherin:
Die Autorin hält die Argumentation der Arzneihersteller für verlogen. Auf 288 Seiten legt sie dar, dass in Wirklichkeit die Zahl der Erfindungen sank, während die Arzneiausgaben ständig stiegen. Hinzu kommt, dass die Pharmakonzerne längst nicht alles selbst erfinden, was sie verkaufen.
"Der eigentliche Skandal liegt aber in der Tatsache, dass die wenigen innovativen Medikamente, die tatsächlich auf den Markt kommen, fast immer Produkte staatlich finanzierter Forschung sind."
Egal ob Aids-Arznei, Krebstherapie oder Antidepressivum - nur die Minderheit der großen medizinischen Innovationen, so zeigt die Wissenschaftsjournalistin, entstehen in den Laboren der Konzerne. Das Gros der Erfindungen verdanke die Menschheit klugen Köpfen an Universitäten und staatlichen Forschungszentren. Ausführlich schildert sie, wie die Industrie mit kleinem Forschungs- und um so größerem Werbebudget gute Geschäfte macht.
Wer je beim Arzt im Wartezimmer ausharren musste, während dieser mit einem Pharmavertreter plauschte, wird das mit Interesse lesen. Die Autorin findet deutliche Worte. Pillenproben, Werbegeschenke, Fortbildungskurse im Ferienressort - für sie ist all das nichts anderes als
"Bestechung"
Ähnlich kritisch sieht sie die Werbung. Auch die europäischen Wettbewerber, so scheint es, haben sich den Gepflogenheiten schon recht gut angepasst. Um den Markt jenseits des Atlantiks zu erobern, geben sie große Summen für Werbung aus, die sie später über die Pillenpreise wieder hereinwirtschaften müssen.
"So unterzeichneten beispielsweise die Werbepartner GlaxoSmithKline und Bayer einen Vertrag mit der National Football League über die Werbung für ihr Nachahmerpräparat Levitra, das auf dem riesigen Markt der "erektilen Dysfunktion" mit Viagra in Konkurrenz steht. ... Neben dem exklusiven Sponsorenvertrag mit der Liga schlossen sie auch Abkommen mit einzelnen Mannschaften. Der Vertrag mit den New England Patriots sieht beispielsweise vor, dass das Levitra-Logo auf der Bandenwerbung im Gillette-Stadium auftaucht. Mike Ditka, der frühere Trainer der Chicago Bears, pries es 30 Sekunden lang auf Großleinwand an."
Wie kommt es, dass ausgerechnet ein Potenzmittel so intensiv beworben wird? Für die Autorin ist der Fall klar: Je unnötiger das Produkt, desto aufwändiger das Marketing. Niemand stirbt an Erektionsstörungen, Potenzmittel sind nicht überlebenswichtig. Darüber hinaus war die Pille aus Leverkusen nicht die einzige ihrer Art. Schon vor Jahren landete der amerikanische Hersteller Pfizer mit Viagra einen Kassenschlager. Und als Bayer dann endlich mit Levitra nachzog, brachte Wettbewerber EliLilly gleich noch eine dritte Pille heraus, die auf demselben Wirkmechanismus beruht.
"Neue Präparate sind in ihrer großen Mehrzahl keineswegs neu, sondern nur Abwandlungen von Produkten, die sich bereits auf dem Markt befinden. So etwas bezeichnet man als Me-too-Präparat"
Für Angell ist die Pharmaindustrie deshalb eine Branche,
"...die sich in den letzten 20 Jahren sehr schnell von ihrem ursprünglichen hochgesteckten Ziel, der Entdeckung und Herstellung nützlicher neuer Medikamente, verabschiedet hat. Heute ist sie vor allem ein Marketingapparat, der Medikamente von zweifelhaftem Nutzen verkauft."
Schade, dass sie sich mit ihren Ausführungen meist auf Amerika konzentriert. Die Zahlen, Daten und Fakten, mit denen sie ihre Thesen belegt, stammen weitgehend aus den USA. Und der Werbefeldzug für die Bayer-Potenzpille ist fast das einzige Beispiel aus Deutschland.
Der Kompart-Verlag, der die deutsche Übersetzung des Buches herausgibt, bemüht sich zwar, das Thema für die Leser hierzulande aufzubereiten. So stellte er dem Buch etwa eine Einführung voran, in der erklärt wird, wie die Zulassung und Erstattung von Arzneien in den USA funktioniert. In diesem Kapitel kann man nachlesen, wie die amerikanische Gesundheitsbehörde FDA neue Medikamente prüft und wie staatliche Krankenkasse Medicaid und private Versicherer – HMOs genannt - versuchen, die Pillenpreise zu drücken. Und wer sich all die Kürzel nicht aufs erste merken kann, der findet sie im Anhang noch einmal alphabetisch aufgelistet. Das ist dann fast zu viel des Guten.
Für deutsche Leser wäre es interessanter gewesen, zu erfahren, wie die Pharmaindustrie hierzulande agiert. Beispiele, die die Argumente der Autorin stützen, hätte es reichlich gegeben.
Wenn sie moniert, dass immer häufiger...
""Marketing als Forschung getarnt...","
daherkommt und kritisiert, klinische Studien dienten mehr und mehr dazu, Verkaufsargumente für überflüssige Arzneien zu sammeln, statt Aufschluss über ihre Wirkungen und Nebenwirkungen zu geben, dann schreit das förmlich nach dem Beispiel Lipobay.
Das Lipobay-Debakel machte Bayer zum Sanierungsfall. Fast gleichzeitig ging es mit den anderen großen Namen der deutschen Pharmaindustrie bergab. Auch ihnen fehlte der Nachschub an neuen Pillen. Der Frankfurter Hoechst-Konzern flüchtete sich in Fusionen und ist inzwischen im französischen Unternehmen Sanofi aufgegangen. Und der Ludwigshafener Chemiekonzern BASF verkaufte seine Pharmasparte an den amerikanischen Wettbewerber Abbott.
So kommt es, dass es Patienten wie auch Gesundheitspolitiker in Deutschland mehr und mehr mit amerikanischen Pharmariesen zu tun haben. Das wiederum macht das Buch – gerade wegen seiner Fokussierung auf die US-Unternehmen – zu einer interessanten Lektüre.
Moderatorin:
"Der Pharma-Bluff. Wie innovativ die Pillenindustrie wirklich ist." So heißt das Buch von Marcia Angell, das Ende vergangenen Jahres bei KomPart in der Schweiz erschienen ist. 288 Seiten umfasst es und kostet 24 Euro 80. Jutta Hoffritz hat es für uns rezensiert.