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Genesung des "kranken Mannes von Europa"

Das Land, das früher als der "kranke Mann Europas" bezeichnet wurde, hat eine erstaunliche Genesung hinter sich. Zurückgeführt wird das konstante Wachstum in Großbritannien auf die neoliberale Arbeitsmarktpolitik. Den Preis dafür zahlen die Briten in Form längerer Arbeitszeiten sowie niedrigerer Löhne und Renten. Aus London berichtet Martin Zagatta.

    Man kennt sich am Obststand des Sainsbury-Marktes in Islington im Norden Londons. John Harvey begrüßt Stammkunden Und dass er schon wieder gefragt wird, warum er immer noch arbeitet, das ist er schon gewohnt. Schließlich ist der freundliche Verkäufer 85 Jahre alt. Hier zu arbeiten mache ihm Spaß, versichert der alte Mann, der bis zu seiner Pensionierung als Elektriker tätig war. Mit seiner Rente sei er ausgekommen. Aber als die Supermarktkette vor Jahren ganz gezielt auch ältere Mitarbeiter gesucht hat, da ist er wieder eingestiegen.

    John Harvey ist der bei weitem älteste. Aber viele seiner Kollegen sind Ende 60, Anfang 70 und in einem 39-Stunden-Job, die meisten, weil sie auf das Geld angewiesen sind, aber auch deshalb, weil sie noch gefragt sind angesichts des Wirtschaftsbooms auf der Insel. In vielen Regionen herrscht Vollbeschäftigung. Mit 4,7 Prozent hat Großbritannien die niedrigste Arbeitslosenquote der großen EU-Staaten. Ein Erfolg, den Digby Jones, der Chef des Arbeitgeberverbandes auf die hohe Beschäftigungsquote von 75 Prozent zurückführt, 10 Prozent mehr als in Deutschland, aber nicht nur darauf.

    Arbeitgeber liebten flexibles Arbeiten und wollten Leute in Beschäftigung bringen, so Jones. Und weil man sich von Brüssel den Arbeitsmarkt nicht so einschränken lasse wie in Deutschland oder Frankreich habe man eine niedrigere Arbeitslosigkeit. Weil man in Großbritannien für Flexibilität gesorgt habe.

    Das Land, das früher als der "kranke Mann Europas" bezeichnet wurde, hat eine erstaunliche Genesung hinter sich. Seit Amtsantritt der Labour-Regierung vor acht Jahren kann Großbritannien ein konstantes Wachstum vorweisen. Und nach EU-Statistik liegt das reale Sozialprodukt der Briten pro Kopf mittlerweile sogar um zehn Prozent über dem deutschen. Zurückgeführt wird das darauf, dass die Linksregierung die neoliberale Arbeitsmarktpolitik aus der Ära Margaret Thatchers weitgehend übernommen hat. Eine Entmachtung der Gewerkschaften, längeren Arbeitszeiten , mit niedrigen Löhnen und niedrigen Sozialabgaben, niedrige Renten und ein katastrophales Gesundheitssystem wurden in Kauf genommen. Und die Politik, Arbeitslosigkeit auch mit finanziellem Druck auf Erwerbslose zu bekämpfen, wurde verfeinert.

    Dass so wenige Menschen arbeitslos sind wie seit 30 Jahren nicht mehr, führt Premierminister Tony Blair auf das New Deal - Programm seiner Labour-Regierung zurück. So genannte Jobcenter vermitteln in Zusammenarbeit mit der Wirtschaft zumindest eine vorübergehende Beschäftigung, oft vom Staat bezahlt oder mitfinanziert.

    Wer das Angebot zur Aus- oder Weiterbildung ablehnt oder gar einen Arbeitsplatz, muss finanzielle Abstriche hinnehmen an der Arbeitslosenunterstützung - und die ist mit umgerechnet 340 Euro im Monat im teueren Großbritannien ohnehin höchst knapp bemessen. Jüngere erhalten noch weniger.

    Das britische Wirtschaftswunder beruht aber nicht nur auf Flexibilität und der niedrigen Arbeitslosigkeit, sondern auch darauf, dass die Briten zur konsumfreudigsten Nation Europas geworden sind. Die Konjunktur boomt, weil Umfragen zufolge nur noch vier Prozent der Briten Arbeitslosigkeit als bedrohlich empfinden. Eine Zuversicht, die den Handel ankurbelt. Die Briten kaufen auf Pump. Jeder Londoner Haushalt ist nach Angaben des Fernsehsenders ITV allein mit Kreditkartenschulden von im Schnitt mehr als 2800 Pfund belastet, mehr als 4200 Euro.

    Die Bereitschaft sich zu verschulden, hängt allerdings auch mit dem Immobilienboom zusammen. Die Hauspreise haben sich in nur sechs Jahren fast noch einmal verdoppelt. Und da annähernd drei von vier Briten in den eigenen vier Wänden leben, fühlen sich viele entsprechend wohlhabend.

    Das Risiko dabei: die Immobilienpreise stagnieren mittlerweile. Der Einzelhandel klagt seit Monaten sogar über Verluste. Die deutlich gestiegenen Energiepreise, so wird das erklärt, zeigen genauso Wirkung, wie die zunehmende Diskussion um die niedrigen Renten.

    Die Baumarkt-Kette "B and Q", einst Vorreiter bei der Einstellung älterer Menschen, hat wegen Umsatzeinbußen gerade hunderte Beschäftige entlassen. Die allerdings haben immer noch beste Aussichten, schnell wieder einen neuen Job zu finden - der Vorteil dieses angelsächsischen Modells - in dem auch der 85-jährige John Harvey noch seinen Arbeitsplatz hat. Und das - so spottet der Hochbetagte - komme der britischen Wirtschaft zugute - und seiner Ehe. Den ganzen Tag außer Haus, anders würden er und seine Frau doch gar nicht so gut mit einander auskommen.