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Genetischer Beifang

Bei der Untersuchung einzelner Gene eines Menschen werden immer häufiger Informationen entdeckt, nach denen gar nicht gesucht wurde. Aber wie umgehen mit diesen zum Teil unerwünschten Erkenntnissen? Diesem Zwiespalt stellen sich europäische Humangenetiker auf ihrer Jahrestagung in Paris.

Von Michael Lange | 10.06.2013
    Viele Säuglinge und Kleinkinder leiden unter körperlichen oder geistigen Entwicklungsstörungen. Oft werden genetische Ursachen angenommen, ohne dass diese im Einzelnen bekannt sind. Um sie zu erforschen, initiierten Gesundheitsbehörden und Wissenschaftler in Großbritannien ein Projekt namens DDD. Das steht für Deciphering Developmental Disorders – Entzifferung von Entwicklungsstörungen. Anna Middleton arbeitet als genetische Beraterin am Wellcome Trust Sanger-Institute in England für das DDD.

    "Das können sehr schwerwiegende geistige Behinderungen sein, aber auch Bewegungsstörungen oder Entwicklungsstörungen bei einzelnen Organen. Sie werden zwar von Ärzten erkannt und untersucht, aber es gibt keine passende Diagnose."

    Auf der Tagung der europäischen Gesellschaft für Humangenetik in Paris legten Forscher des Sanger-Institutes eine Zwischenbilanz vor. Bislang haben sie das Erbgut von 5000 Kindern untersucht. Dabei entzifferten sie alle 20.000 bis 25.000 Gene im menschlichen Bauplan. Aber sie untersuchen im Computer nicht die komplette Information, sondern konzentrieren sich auf eine bestimmte Fragestellung.

    "Wir suchen gezielt nach Genen, die für Entwicklungsstörungen verantwortlich sein können. Wir schauen aber beispielsweise nicht auf bekannte Brustkrebs-Gene, denn die haben mit Entwicklungsstörungen nichts zu tun. Wir werden also nicht zufällig ein Brustkrebsgen finden. Aber die Frage lautet: Sollten wir danach suchen?"

    Eine jüngst vorgelegte Denkschrift amerikanischer Wissenschaftler meint: Ja. Sie stellt eine Liste von 24 Genen vor, die immer dann auf Fehler untersucht werden sollte, wenn das ganze Erbgut oder die Gesamtheit der Gene entziffert wurde. Schließlich kann das brachliegende Wissen Auskunft geben über wichtige genetische Risikofaktoren.

    Die Deutsche Gesellschaft für Humangenetik und ihr Präsident, der Humangenetiker Klaus Zerres von der RWTH Aachen, sprechen sich in einer Stellungnahme eindeutig gegen diese zusätzlich ermittelten Informationen aus.

    "Es ist ja gar nicht unsere Absicht, solche Zusatzbefunde aufzudecken. Und es sollten zunächst Verfahren eingesetzt werden, bei denen möglichst wenig solche nicht in Verbindung mit dem Untersuchungszweck stehende Informationen anfallen."

    Die Deutsche Gesellschaft für Humangenetik will sicherstellen, dass Risikofaktoren für Krankheiten, die nicht behandelbar sind und denen man nicht vorbeugen kann, nicht nebenher ermittelt werden. Dazu gehört die Alzheimer-Krankheit oder die Parkinson-Erkrankung. Klaus Zerres räumt aber ein, dass in Einzelfällen zusätzlich ermittelte genetische Befunde medizinisch wichtig sein können.

    "Nehmen wir an eine familiäre Krebserkrankung mit einem hohen Risiko für einen Darmtumor. Das ist eine wichtige Information. Die kann in Vorsorgeuntersuchungen einmünden, die man nicht gemacht hätte, wenn man dieses Wissen nicht gehabt hätte."

    Aber auch in diesem Fall sollten die Zusatzbefunde nicht einfach nebenher ermittelt und nachher mitgeteilt werden.

    "Wir sind der Auffassung, und das ist wichtig, dass im Vorfeld einer Untersuchung über eine solche Möglichkeit aufgeklärt werden muss. Es kann sein, dass bei der Untersuchung Informationen anfallen, mit denen wir jetzt gar nicht rechnen, und wir vereinbaren jetzt, wie wir mit solchen Informationen umgehen."

    Die deutschen Humangenetiker und die englischen Forscher im DDD-Projekt sind sich einig, dass bei Kindern nur nach möglichen Ursachen von Krankheiten gesucht werden darf, nicht nach Risikogenen. Die Genuntersuchung dient in diesem Fall allein der Diagnose. Zusätzliche Information über Risikofaktoren gäbe den Eltern und Ärzten ein Wissen, das die Kinder womöglich gar nicht haben wollen.

    Gerade weil die Genetik immer mehr Wissen über einzelne Personen hervorbringt, ist es Zeit darüber nachzudenken, wer was wissen darf und wie sich das Recht auf Nichtwissen sichern lässt.


    Links ins Netz:

    Stellungnahme der Deutschen Gesellschaft für Humangenetik (pdf-Datei)

    Project DDD (Deciphering Developmental Disorders) am Sanger Institute
    Stellungnahme vom Zentrum für biomedizinische Ethik in Stanford (pdf-Datei)