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Genfer Reformatoren auf der Bühne

Der Sittenwächter und Seelsorger Johannes Calvin wurde vor 500 Jahren in Frankreich geboren und starb in Genf. Der Reformator ging in seiner Prädestinationslehre davon aus, dass sich Gottesgnade in Pflichterfüllung und Arbeitsfähigkeit ausdrückt. Sein Bruch mit der römischen Amtskirche, seine Frömmigkeit mit Anspruch auf ein Tugendregime, findet nun als Theaterstück auf die Bühne: "Jean Calvin" in Genf.

Von Burkhard Müller-Ullrich |
    Die Genfer Altstadt erhebt sich steil neben dem Universitätspark. Eine hohe Wand begrenzt die Grünfläche, ein gigantisches Steinrelief, das vier Reformatoren zeigt. Das Denkmal wurde vor hundert Jahren, zum 400. Geburtstag Johannes Calvins, geschaffen, und jetzt ist es der Ort, an dem sein 500. Geburtstag gefeiert wird, und zwar mit einem Theaterstück - was Calvin sicher nicht goutiert hätte, denn unter seiner Herrschaft waren Theateraufführungen als Sitten verderbende Volksbelustigungen verboten.

    Aber die Zeiten ändern sich. Genf ist nicht einmal mehr vorwiegend protestantisch; seit ungefähr vierzig Jahren haben die katholischen Zuwanderer aus den romanischen Ländern die Mehrheitsverhältnisse für sich entschieden. Und dennoch ist Genf immer noch das "protestantische Rom", eine Stadt, in der das Gewicht der Geschichte stets und überall spürbar ist. Noch heute wohnen in jener Häuserzeile der Altstadt, die oberhalb der Reformatorenmauer liegt, ausschließlich Familien, die bereits im 18. Jahrhundert dem Kleinen Rat der Stadtrepublik angehörten. Immer noch wird mit feierlichem Ernst jedes Jahr des Überfalls von 1602 gedacht, als der Herzog von Savoyen die Stadt erobern und des Protestantismus ausradieren wollte - es war die letzte Kriegshandlung auf Genfer Territorium bis heute, die übrigens just am selben Ort, hier an der steilen Mauer des heutigen Universitätsparks stattgefunden hat. Und dass Genf ein Sitz der UNO wurde, kommt daher, dass nach dem Ersten Weltkrieg der damalige Präsident der Vereinigten Staaten, Woodrow Wilson, als Calvinist den Völkerbund in Genf zu gründen vorschlug.

    Calvins Bedeutung kann also gar nicht hoch genug veranschlagt werden, doch sein Image hat im Lauf der Zeit ziemlich gelitten. Nicht nur in Deutschland sieht man in ihm einen religiösen Fundamentalisten und politischen Diktator, eine Mischung aus Lenin und Ayatollah Khomeini, einen Eiferer, der in einem idyllischen Alpenstädtchen einen Gottesstaat errichtete und Andersdenkende ermorden ließ. Stefan Zweig ging sogar noch etwas weiter und zog eine Verbindungslinie zu Hitler: In seinem 1936 erschienenen Buch "Castellio gegen Calvin oder Ein Gewissen gegen die Gewalt" stellte Zweig die von Calvin geschaffenen Verhältnisse in Genf als eine Art Faschismus avant la lettre dar.

    "Das ist eigentlich alles zu einfach. Und das habe ich eben entdeckt in dieser Arbeit und mit diesem Stück, dass Calvin nicht nur ein Theologe ist, sondern auch ein Jurist und eigentlich politisch-sozial sehr viele Neuigkeiten sich ausgedacht hat, und dass er eigentlich so ein Bindestrich ist zwischen dem Mittelalter und der Renaissance und auch der Modernität."

    Der Regisseur François Rochaix möchte die Gelegenheit nutzen, mit den gröbsten Geschichtsirrtümern ein wenig aufzuräumen. Das extra für den Anlass geschriebene Stück des renommierten Dramatikers und Dramaturgen Michel Beretti eignet sich dazu besonders gut, weil es einerseits nahe an den historischen Fakten bleibt und andererseits vermeidet, das Leben im 16. Jahrhundert mit heutigen Menschenrechtsaugen zu bewerten. Sicherlich war Calvin kein Dalai Lama; ihn nach aktuellen Toleranzstandards weichzuspülen, wäre verfehlt. Er hat das Todesurteil gegen den Häretiker Michel Servet mitunterschrieben - genauso wie andere Reformatoren.

    Doch Calvin stand vor dem Problem, dass seine Theologie zu einer Sozialreform führte, die den Weg zwischen Ordnung und Chaos noch nicht kannte und deshalb in Staatsterror schlitterte. Dies ist der zentrale Punkt des solide gearbeiteten und professionell dargebotenen Festspiels: Calvins reformerischer Eifer entfesselt revolutionäre Gewalten und gibt insofern einen Vorgeschmack jener Vernunftbarbarei, die zweieinhalb Jahrhunderte später in Frankreich toben sollte. Immer wieder werden Bürger wegen kleinster Gesetzesverstöße vor Calvins Kirchengerichte gezerrt und verurteilt, Bespitzelung und Denunziation greifen um sich, und zum Schluss richten sich die Verfahren sogar gegen die Kirchenleute selber.

    Man kennt diese Dynamik der Selbstzerfleischung von allen revolutionären Bewegungen. Diese war eine der ersten. Denn Calvin steht für eine Zeit, in der die Menschen eine völlig neue Auffassung des Gemeinwesens entwickelten. Sie traten aus der absoluten Knechtschaft ihrer Feudalherren und schufen frühe Formen bürgerlich-gleichberechtigten Zusammenlebens. Dazu fehlten aber noch die politischen Instrumente und Organe. Da war es nur natürlich, dass die Kirche als ursprünglichste Gemeinde auch grundlegende politische Funktionen wie die Durchsetzung des Rechts mit ausübte. Rochaix:

    "Da ist in Genf eine große Gefahr von Missverständnis, und einige Politiker haben eigentlich ganz blöd gesagt: Das geht nur die Protestanten an. Die sind sich nicht bewusst, dass eigentlich die ganze Persönlichkeit von Genf geprägt ist von diesem besonderen Abenteuer im 16. Jahrhundert, wo plötzlich so ein Traum verfolgt wurde, von Genf ein neues Jerusalem zu machen."

    Und so darf man dieses Festspiel nicht einfach nach artistisch-avantgardistischen Gesichtspunkten bewerten, sondern muss - durch den Genius Loci noch extrem verstärkt - eine kräftige Portion Geschichtsmetaphysik verdauen. Das Calvin-Jubiläum 2009 hinterlässt kein steinernes Denkmal, sondern nur die Erinnerung an eine Aufführung, die allenfalls ein wenig an steinernen Denkmälern kratzt.