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Genialer Mensch wird Mörder

Der Maler Alfred Omega braucht nur eine Bank im Public Garden von Boston, um in Gedanken in die Geschichte zu reisen. Er ist mit einer Genialität versehen, die in ihm den Wunsch wachsen lässt, sich mit Gott zu messen. Um dieses Ziel zu erreichen, schreckt er in seinem Wahnsinn vor nichts zurück. "In Boston?" von Russell H. Greenan aus dem Jahre 1968 ist neu aufgelegt worden.

Von Martin Grzimek | 22.02.2008
    Der Roman "In Boston?" von Russell H. Greenan ist, um es gleich zu sagen, ein zauberhaftes Buch. 1968 erschien es zum ersten Mal, machte den völlig unbekannten Autor mit einem Schlag berühmt und erlebte nun, nachdem es eine Weile in Vergessenheit geraten war, eine viel beachtete Neuauflage. So ist es auch auf Deutsch wieder zu haben in einer neuen, ausgezeichneten Übersetzung von Pociao. Greenan ist inzwischen ein älterer, in New York lebender Herr von über 80 Jahren und nach seinem Erfolg hat er noch ein gutes Dutzend weiterer Romane geschrieben, von denen aber keiner das Niveau und die Einzigartigkeit seines Erstlings erreichte.

    Der amerikanische Autor Jonathan Lethem, der für die Neuausgabe ein kurzes Nachwort schrieb, stellt das Buch nicht umsonst in eine Reihe mit dem Welterfolg des Romans "Das Parfüm" von Patrick Süßkind. Das liegt nicht nur an der Grundidee, einen genialen Menschen zugleich zu einem Mörder werden zu lassen - bei Süßkind der hässliche Grenouille, der Wunderdüfte erfindet, bei Greenan Alfred Omega, ein begnadeter Maler, der es mit Leonardo da Vinci aufnehmen kann. Wichtiger noch ist die Sicht auf die Welt, die beide Protagonisten eint - es ist die des 18. und 19. Jahrhunderts, also die Welt, die wir in allen Ausschmückungen vor allem aus der romantischen Literatur, aus Briefen und Reiseberichten überliefert bekommen haben. Da es noch keine hoch entwickelte Fotografie oder andere Formen objektiver und authentischer Medien gab, war dies das Jahrhundert der Geschichtenerzähler und der Phantasie, der Zeichnung und der narrativen Malerei. Genau mit einer solchen, von Wahrnehmungen und Hirngespinsten bestimmten Eigenschaft stattet Greenan den Erzähler in seinem Roman aus.

    "Seit etwa einem Jahr habe ich eine komische Fähigkeit entwickelt - eine Art Bewußtseinsverschiebung. Diese seltsame Gabe, die ich vermutlich mit wenigen Menschen gemeinsam habe, ermöglicht es mir, verschiedene Orte in Raum und Zeit aufzusuchen und dort eine entsprechende fremde Identität anzunehmen. Das alles begann ohne Vorahnung eines Abends, als ich auf dem Bett lag und einen Roman von Cagliostro las. Plötzlich fand ich mich an Bord eines Schiffes auf einem sonnenbeschienenen Meer wieder. Die ganze Sache dauerte nicht länger als ein paar Sekunden, aber an ihrer Authentizität bestand keinerlei Zweifel. Als ich am nächsten Tag im Park saß, wurde ich von einer Sekunde auf die andere in die asiatische Steppe versetzt, und seitdem kam es erstaunlicherweise immer häufiger zu solchen Reisen. Ich merkte, dass ich bloß eine Weile still dazusitzen brauche - möglichst im Freien -, um kurz darauf in einer anderen Welt zu landen."

    Was Greenans Alfred Omega hier beschreibt, ist nichts anderes als das, was ein Schriftsteller tut, der sein Publikum unterhalten will. Daniel Defoes "Robinson Crusoe", Stevensons "Schatzinsel", Jack Londons "Seefahrergeschichten" - all diese Romane, die aus Wunsch- und Traumwelten bestehen, aus Abenteuern, Schicksalsschlägen und Zufallsbegegnungen, aus Sehnsüchten und omnipotenten Vorstellungen, all diese Romane und Geschichten bezeugen das Einmalige der Unterhaltungsliteratur: bei geöffneten Augen träumen zu können.

    Alfred Omega ist aber nicht nur ein moderner Peter Schlemihl, der keine Siebenmeilenstiefel, sondern nur eine Bank im Public Garden in der Innenstadt von Boston braucht, um in Gedanken in die Geschichte zu reisen, er ist auch ein Künstler und Maler, geschult an den Werken der Renaissance und mit einer Genialität versehen, die in ihm immer heftiger den Wunsch entstehen lässt, sich mit Gott zu messen. Um dieses Ziel zu erreichen, schreckt er in seinem Wahnsinn auch nicht davor zurück, abscheuliche Verbrechen zu begehen. Gott zu begegnen, diese Absicht stammt aus der Kindheit, so auch bei Alfred Omega:

    "Als kleiner Junge wollte ich Gott sehen. Ich glaubte fest daran, dass ich nur ganz bis zum Ende der Commonwealth Avenue gehen müsste, da würde er mich erwarten. Als ich entdeckte, dass die Welt eine Kugel ist und ein solcher Spaziergang mich nur wieder zu meinem Ausgangspunkt zurückbrächte, war ich bekümmert, aber nicht lange. Ich beschloß die Commonwealth Avenue entlangzugehen, allerdings ohne mich den Naturgesetzen zu unterwerfen. Ich würde geradeaus gehen, immer geradeaus - mitten hinein in die Leere, an der Sonne und den Planeten, an Gestirnen und Nebeln vorbei und ohne den kleinsten Umweg schnurstracks bei Gott landen. ... In jenen Tagen empfand ich große Liebe für ihn. Heute hingegen würde ich ihm gern ein paar Fragen stellen."

    Mit solcher Naivität und Empfindlichkeit, mit einer ständig für Überraschungen sorgenden Vorstellungskraft und feinem Witz ist dieser ganze Roman bis zum Überborden ausgestattet. Eigentlich ist es wegen der Fülle und Skurrilität der Figuren kaum möglich, ihn in Details nachzuerzählen. Und es wäre auch viel zu schade, etwas von den vielen Kostbarkeiten, die seine Beobachtungen und Geschichten darstellen, preiszugeben. Das Beste aber ist, dass bei diesem Kunststück, das Russell H. Greenan vor vierzig Jahren mit seinem Roman "In Boston?" geschaffen hat, kein Wort zu viel ist, aber auch keines zu wenig.


    Russell H. Greenan: In Boston?
    Mit einem Nachwort von Jonathan Lethem
    Aus dem Amerikanischen von Pociao
    SchirmerGraf Verlag, München 2007
    379 Seiten, 22,80 Euro