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Genosse Hauptfeldwebel!

"Genosse Hauptfeldwebel! Stube 117 mit 10 Mann belegt. Sechs Mann anwesend. Vier Mann im Außenrevierdienst. Stube gereinigt und gelüftet, zum Stuben-Durchgang bereit."

Von Harald Kleinschmid |
    Gäbe es da nicht die Anrede "Genosse Hauptfeldwebel", es hätte sich um eine Momentaufnahme aus einer x-beliebigen Bundeswehr-Kaserne handeln können. Dieser Stuben-Appell jedenfalls wird so wohl nicht mehr zu hören sein. Er stammt aus einem Film des DDR-Fernsehens und sollte das Soldatenleben in der NVA, der Nationalen Volksarmee, illustrieren. Joerg Waehner war NVA-Soldat. Er hat seinen Dienst – wie der Jargonausdruck lautet – "abgerissen". Er hat den NVA-Betrieb von innen kennen gelernt und sich seine Notizen gemacht: "Einstrich – Keinstrich – NVA-Tagebuch". Für uns gelesen hat es Harald Kleinschmid:
    Joerg Waehner, der sein Werk "Tagebuch" nennt, obwohl es vielmehr eine Collage ist, hat gewissermaßen die literarische Entsprechung zu dem viel gepriesenen Film "Das Leben der Anderen" geschrieben. Er schildert die beinahe lückenlose Überwachung eines unbequemen, kirchlich gebundenen DDR-Bürgers, den man nach einer Denunziation verhaftet. Da man ihm aber keine Straftat nachweisen kann, wird er zur weiteren Isolation und besseren Kontrolle durch die Stasi unverzüglich zur Armee eingezogen. Geschildert werden 18 Monate Grundwehrdienst Anfang der 80ger Jahre. Der Titel "Einstrich - Keinstrich" bezieht sich auf die Streifen der NVA-Tarnuniformen. Er symbolisiert die Eintönigkeit und Stumpfsinnigkeit des Kasernenalltags. Soldat W. wie Waehner versucht die Selbstbehauptung, indem er Tagebuch schreibt, was in der NVA strengstens verboten ist. Nachdem er einmal entdeckt wird, versteckt er seine Aufzeichnung stets unter der Uniform. Sie sind Grundlage des Buches, geben heute, fast ein Viertel Jahrhundert später, einen authentischen Eindruck vom Soldat-Sein in der SED–Diktatur.

    "Truppenteile stillgestanden! Zur Grußerweisung - Achtung: Präsentiert das Gewehr! Die Augen links!"

    Natürlich gibt es Parallelen zum Armee-Alltag aller Länder: Das Bemühen, Uniformität herzustellen, die Individualität des Einzelnen möglichst zu unterdrücken, haben überall Auswirkungen, besonders auf sensible Gemüter. Was Waehners Erfahrungen so besonders macht, ist die gleichzeitige lückenlose Überwachung durch die Staatssicherheit. Die Einsichtnahme in deren Akten nach 1989 ermöglichte es dem Autor, vieles von dem, was er in den Tagebuch-Aufzeichnungen als merkwürdig oder bedrohlich fand, zehn Jahre später als gezielte Stasi-Maßnahme nachlesen zu können. Zu einer von Waehner veranstalteten Tucholsky-Lesung in der Kaserne erschienen nur zwei Zuhörer, einer davon war der FDJ-Sekretär. In den Akten steht dazu:

    Da vermutet werden kann, dass W. mit seinem Vortrag politisch-negativ auftritt, soll nur ein eng ausgewählter Kreis daran teilnehmen und für die Soldaten der Einheit gleichzeitig eine Ausbildungsmaßnahme stattfinden.

    Mielkes Mannen überwachen Waehners Briefverkehr, sie verwanzen seine Wohnung, sie gewinnen die Mutter seines Sohnes, von der er getrennt lebt, zu Spitzeldiensten. Es gibt jedoch auch andere Erfahrungen: Sein bester Freund mahnt ihn zur Vorsicht gegenüber gewissen Personen, kooperiert allerdings selbst mit der Stasi. Ein anderer, der "Spieß", handelt aus Kameradschaft.

    Diesmal warnt er mich persönlich. Ich solle mich vorsehen. Auch unter den Soldaten gäbe es Leute vom MfS. Ich bin dankbar für die ungewohnte Offenheit und gleichzeitig verwirrt über mögliche Motive. Es ist nicht selbstverständlich, dass sich ein Vorgesetzter für einen Soldaten einsetzt. Der Oberfähnrich unterhält sich mit mir auch offen über politisches Desinteresse, private Schiebereien und allgemeine Missstände. Allerorts werden Soldaten eingesetzt, für Offiziere Garagen, Lauben und Gewächshäuser zu bauen. Die Rekruten freuen sich über die willkommene Abwechslung und den Zusatzverdienst zum mageren Sold. Und die Offiziere profitieren von den billigen Fachkräften, schließlich befinden sich Bauingenieure und Handwerker unter den Einberufenen.
    Waehners Tagebuchaufzeichnungen sind voll solcher Interna, die nicht nur etwas über den Zustand der NVA, sondern der gesamten DDR im letzten Jahrzehnt ihres Bestehens aussagen. Die Absurdität des Systems entlarvt sich in Nebensächlichkeiten.

    Im Heizhaus neben der Kompanie werden die aussortierten Bücher aus der Bibliothek verbrannt. Ich versuche zu retten, was zu retten ist. Die Bücher werden vernichtet, weil sie nicht mehr ins offizielle Bild passen. Zum Beispiel der Bildband "Walter Ulbricht: Ein Leben für Deutschland" oder "Weltall - Erde – Mensch" in einer 50er-Jahre-Ausgabe mit einem Vorwort von Robert Havemann.
    Die Gegenüberstellung von rund 500 Tagebuchaufzeichnungen mit den Banalitäten des offiziellen DDR-Kalenders, mit dem Tag des Lehrers oder dem Tag des Gesundheitswesens auf der einen, den Erkenntnissen der Stasi vom selben Tag auf der anderen Seite, diese Montage macht den Reiz des Buches aus. Andererseits schleicht sich in der zweiten Hälfte, wenn der Armee-Alltag allmählich Routine und die private Befindlichkeit dominierend wird, doch eine gewisse Langatmigkeit ein. Sie wird erst im Epilog wieder aufgehoben bei der Schilderung des weiteren Schicksals der Hauptakteure: Waehner wird auf Betreiben der Stasi nicht zum Literaturstudium zugelassen, obwohl sich alle gegen ihn erhobenen Verdächtigungen als haltlos erweisen. Sein Freund bricht nach sieben Jahren die Offizierslaufbahn in der NVA ab. Sein ungeliebter Vater taucht, obwohl Stasi-Offizier in besonderem Einsatz, kurz vor der Maueröffnung im Westen unter und endet als Versandhaus-Filialleiter in Schleswig-Holstein. Waehners Stasi-Bewacher melden sich noch einmal 1993 als Kommunikationstechniker und geben zu verstehen, dass sie noch immer über detaillierte Kenntnisse verfügen.

    Fazit: Ostalgikern und Nostalgikern werden mit dem Buch etwaige Illusionen gründlich ausgetrieben. Für Leser, die mit der Materie DDR vertraut waren, die die Terminologie des Systems kannten und seine Spielregeln schon damals durchschauten, ist das Buch eine interessante Erinnerung – mehr allerdings kaum. 17 Jahre nach dem Ende der DDR ist wohl nur noch eine Minderheit bereit, sich so intensiv auf den Alltag im zweiten deutschen Staat einzulassen, wie es der Autor verlangt.
    Harald Kleinschmid rezensierte Joerg Waehner: "Einstrich / Keinstrich – NVA-Tagebuch", erschienen als Paperback im Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln - 325 Seiten zum Preis von 9 Euro 95.