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Genozid durch Verhungern

Zwangsumsiedelungen und Deportationen waren in der stalinistischen Sowjetunion gängiges Mittel der Unterwerfung abtrünniger Sowjetrepubliken. Im New Yorker ukrainischen Museum gibt es eine Gedenkausstellung zur Erinnerung an den Hungertod von Millionen Menschen in der Ukraine zwischen 1933 und 1938, die der Diktatur von Josef Stalin ausgesetzt waren.

Von Gerti Schön | 09.08.2008
    Die Ausstellung "Holodomor - Völkermord durch Hunger" in New York ist der Höhepunkt in einer Reihe von öffentlichen Gedenkveranstaltungen, die die ukrainischen Gemeinden in den USA und Kanada im Gedenkjahr 2008 angestrengt haben. "Holodomor" bedeutet wörtlich, durch Hunger zu Tode gequält. Genau dies ist in den 30er Jahren in der Ukraine passiert, um die nach Unabhängigkeit strebende Region gewalttätig dem Sowjetregime unterzuordnen, sagt Maria Shust, Direktorin des ukrainischen Museums in New York:

    "In der Ukraine wuchsen Gefühle wie Stolz und Nationalismus immer in den Dörfern, und die Machthaber fürchteten sich davor. Und deshalb übten sie solchen Druck auf die Bauern aus. Nach der Revolution 1917 versuchte man eine Zeit lang, die Ukrainer dadurch an sich zu binden, indem man ihnen in den 20er Jahren gewisse Freiheiten wie unabhängige Landwirtschaft erlaubte. Und daraus resultierte eine kurze Blütezeit, in der die Ukraine auch kulturell auflebte. Aber dem wurde schnell ein Ende gesetzt, nachdem Hitler…, ich meine Stalin, an die Macht kam."

    Shusts Versprecher ist kein Zufall, erinnern die Repressalien doch fatal an das nationalsozialistische Terrorregime. Bauern, die versuchten, sich den horrenden Ertragsvorgaben der sowjetischen Planwirtschaft zu widersetzen, und Getreide für die eigene Familie zurückhielten, wurden geplündert, aufständische Widersacher öffentlich erschossen. Flüchtlingen, die den Weg in die Städte suchten, wurden die Reisedokumente verweigert. Der Tod von drei Millionen Kindern wurde bewusst betrieben, um die Bevölkerung auszudünnen. Maria Shust liest eine Tagesbucheintragung einer ukrainischen Lehrerin aus dem Jahr 1933 vor.

    "Als wir mit einem Pferdewagen in ein Dorf fuhren, überholten wir einen Jungen, der bedenklich am Wegesrand entlangschwankte. Wir riefen ihm zu, dass er aufpassen sollte, aber er schien uns nicht zu hören. Als das Pferd ihn beinahe erreicht hatte, rief ich ihn abermals an, aber er kümmerte sich nicht um uns. Erst da sah ich den Ausdruck auf seinem Gesicht, der ein unaussprechliches Grauen in mir auslöste. Man findet ihn auf den Gesichtern von Menschen, die wissen, dass sie sehr bald sterben werden, aber nicht sterben wollen. Er war nur ein Kind."

    Es gibt Bemühungen der ukrainischen Botschaft an der UNO, dass die Vereinten Nationen den Holodomor als Völkermord anerkennen, doch dies gestaltet sich schwierig. Immerhin ist er inzwischen in der Ukraine selbst ein wichtiges Thema geworden, sagt Shust.

    "Was passiert ist, weiss kaum jemand auf der Welt, aber in der Ukraine wird endlich darüber gesprochen. Vor dem Fall des Kommunismus hat es das kaum gegeben, selbst die Kinder der Betroffenen wussten es nicht, weil die Eltern Angst vor Repressalien hatten. Aber jetzt haben die Leute Zugang zu den Archiven. Und der ukrainische Präsident, Viktor Yushchenko, ist eine treibende Kraft, weil seine Mutter die Hungersnot überlebt hat."

    Wer in New York eine Multimedia-Show erwartet, ist jedoch fehl am Platz. Die Geschichte des Holodomor wird auf 96 eng beschriebenen Tafeln mit zahlreichen Zitaten der Zeitzeugen, aber nur wenig Fotos, präsentiert. Auf diese bleibt dem Besucher gar nichts anderes übrig, als sich intensiv mit der Tragödie zu befassen.