Wolfgang Labuhn: Herr Genscher, die deutsche Politik hat turbulente Wochen und Monate hinter sich, vom Dauerstreit in der Koalition bis hin zum Rücktritt und zur Neuwahl des Bundespräsidenten. Ihnen wird ja nachgesagt, ein unerschöpfliches Repertoire an Witzen zu haben. Fällt Ihnen ganz spontan etwas Passendes ein zum Zustand der Bundesregierung?
Hans-Dietrich Genscher: Also dazu eigentlich nicht, sondern ich denke, wir leben auch in einer Zeit großer Veränderungen, in turbulenten Zeiten. Und das berührt auch die Politik, noch dazu, wenn eine Regierung antritt, die ja auf einen so erheblichen Reformstau trifft, wie die jetzige Bundesregierung. Und das hat zu Verwerfungen geführt.
Labuhn: Sie waren in Ihrem Leben insgesamt 23 Jahre lang Bundesminister in Koalitionsregierungen Ihrer Partei mit der SPD und mit der Union. Und Sie haben dabei an der Spitze des Kabinetts so unterschiedliche Kanzler erlebt wie Willy Brandt, wie Helmut Schmidt, wie Helmut Kohl dann seit 1982. Haben Sie aber jemals einen so missglückten Start einer neu gebildeten Bundesregierung gesehen wie den der schwarz-gelben Koalition in Berlin, in der sich doch angeblich Wunschpartner zusammenfanden?
Genscher: Also die drei Regierungen, die Sie erwähnt haben, haben das nicht gehabt. Aber wir haben durchaus auch Enttäuschungen später erlebt bei neuen Regierungsbildungen. Ich glaube, dass wirklich die sehr viel unübersichtlichere Lage, insbesondere die Weltfinanzkrise, natürlich auch das Handeln der Regierungsparteien bestimmt hat. Es mussten Vorstellungen, die man für den Wahlkampf entwickelt hatte - auch als Ziel für die nächste Periode - korrigiert werden, weil plötzlich völlig andere fremdbestimmte Daten Geltung bekamen. Unabhängig davon natürlich ist man sich auch bewusst, dass Fehler gemacht wurden. Aber ich denke, wenn wir jetzt sehen, wie die Regierung das erste Halbjahr abschließt, dann kann man sagen: Sie hat einen Haushalt auf den Weg gebracht, sie hat ein wirklich einmaliges Tendenz umkehrendes Sparprogramm vorgelegt, sie hat eine Aufgabe angepackt und mit Einstieg auch in die richtige Richtung gelenkt, nämlich die Gesundheitsreform. Das alles ist nicht wenig, und sie genießt unverändert auch außenpolitisch ein großes Vertrauen. Aber nichts ist so gut, dass es nicht besser werden könnte.
Labuhn: Blicken wir einmal auf einige Momente, die einen doch stutzig machten. Wir wissen ja, dass das Verhältnis der FDP zur bayerischen CSU fast schon traditionell etwas schwierig ist, aber ich kann mich nicht erinnern, dass sich FDP und CSU jemals öffentlich beschimpft haben als "Wildsau" und "Gurkentruppe", wie kürzlich beim Streit über die Gesundheitspolitik. Was ist da falsch gelaufen?
Genscher: Es sind persönliche Eigenheiten, die da zum Ausdruck gekommen sind. Ich habe ja meine Erfahrungen gemacht mit einem langjährigen Vorsitzenden der CSU, mit Franz Josef Strauß. Da habe ich immer festgestellt, dass bei allen Gegensätzen, die es gab, auch manchem bajuwarischen Aufbegehren am Ende doch auch Gespräche möglich waren mit großem Ernst und großem gegenseitigen Respekt. Also ich glaube, dass alle Regierungsparteien gelernt haben, aus dem, was falsch lief in den ersten Monaten, und dass das Wort vom "neuen Anfang", das auch schon verbraucht schien, jetzt sich durch Taten auch erweist. Deshalb sehe ich mit einer gewissen Zuversicht für die Regierung in die Zukunft. Aber sie hat schwere Lasten zu tragen.
Labuhn: Was hat man am Anfang falsch gemacht? Ist der Koalitionsvertrag zu hastig ausgehandelt worden, hat man da zu viele wichtige Fragen – also Energiepolitik, Gesundheitspolitik – einfach offen gelassen oder auf später vertagt? Hat man den Mund einfach zu voll genommen bei Schlagwörtern wie "mehr Netto vom Brutto" oder gar "geistig politische Wende"?
Genscher: Ja, ich sagte ja, dass manche Erwartungen, die gehegt worden sind im Wahlkampf – nehmen wir mal die Frage der Steuersenkungen – natürlich vor der grundlegend veränderten internationalen Lage auf den Finanzmärkten, den notwendigen Hilfsmaßnahmen, einer neuen Überprüfung bedurften. Nur es hat keinen Zweck, sich jetzt in Vergangenheitsbetrachtungen zu ergehen, es kommt darauf an, was jetzt geschieht. Da habe ich wirklich Punkte genannt, wo die Regierung entschieden hat. Und ich habe den Eindruck, alle haben auch die Lehren der ersten Monate beherzigt. Und das wird sich fortsetzen.
Labuhn: Auch die Kanzlerin - an ihrem Regierungsstil ist ja immer mehr Kritik geübt worden, zuletzt auch aus den eigenen Reihen, etwa von Ole von Beust, dem ersten Bürgermeister von Hamburg. Er riet der Kanzlerin, doch gelegentlich auch mal jemanden aus dem Kabinett hinauszuwerfen, wenn er sich einfach nicht an die Kabinettsdisziplin halten möchte.
Genscher: Es steht mir nicht an, mich mit innerparteilichen Problemen der CDU zu beschäftigen. Ich denke, dass manche in der CDU nicht vergessen sollten, dass die Bundeskanzlerin ihre Partei durch eine schwierige Zeit führt und dass sie in vielen Bereichen durchaus auch die veränderten Rahmenbedingungen erkannt hat, dass sie auch Tore für neue Entwicklungen in der Union aufgestoßen hat. Also mir erscheint da manche Kritik auch vordergründig, und bei anderen sind es eher Rückzugsgefechte in ein konservatives Denken, das heute keinen Bestand mehr haben kann.
Labuhn: Sie haben jetzt programmatische Entwicklungen angesprochen – eine Modernisierung der CDU, eine Verwandlung in eine zeitgemäßere bürgerliche Partei. Aber die Kritik richtet sich doch konkret gegen den Führungsstil der Kanzlerin. Vermissen Sie da manchmal ein "Basta!" sozusagen?
Genscher: Ich kann das als Außenstehender nicht als Erwartung äußern, ich sehe das auch nicht so. Und ich denke, dass eine kollegial geführte Regierung ja auch dem entspricht, was unser Grundgesetz darüber sagt, dass jeder Minister sein Ressort in eigener Verantwortung führt. Das macht die Kraft einer Regierung aus. So habe ich das auch immer erlebt. Und was das Programmatische angeht, so hielt ich es für notwendig, dass meine eigene Partei auch die grundlegend veränderten gesellschaftlichen Bedingungen erkennt. Und wenn Sie einmal sehen, was der Generalsekretär im Auftrag des Bundesvorstandes und vor allem auch des Parteivorsitzenden sich programmatisch vorgenommen hat: Das ist die Einsicht in völlig neue gesellschaftliche Herausforderungen. Es entsteht ein neues Milieu auch in unserem Land mit Menschen, die leistungsbereit sind, die aber die Lebensbedingungen nicht nur in Steuertabellen ausgedrückt sehen wollen, die Nachhaltigkeit erwarten, Verantwortung für die Zukunft – ganz im Sinne von Hans Jonas, der uns darauf hinweist, dass unsere Verantwortung über unsere Zeit hinausreicht, das gilt für den Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen, das gilt aber natürlich auch für das Vermeiden der Übertragung von Lasten unserer Zeit auf nachfolgende Generationen. Es geht darum, dass wir eine offene Gesellschaft haben, eine humane Gesellschaft. Und ich denke, dass es sehr wichtig ist zu beachten, dass Ludwig Erhard mit guten Grund unsere Wirtschaftsordnung als soziale Marktwirtschaft bezeichnet hat. Das entspricht dem Geist des Grundgesetzes, das unser Land als einen freiheitlichen Rechtsstaat definiert, aber auch als einen sozialen Rechtsstaat. Das heißt, der innere Zusammenhalt der Gesellschaft durch eine in Freiheit sich entwickelnde Ordnung ist das, was gefordert wird, was mit Leben erfüllt werden muss und was zugleich ein Modellfall ist für eine neue Weltordnung, wo wir es jetzt damit zu tun haben, dass wir Rahmenbedingungen schaffen müssen, in denen sich Entwicklungen vollziehen können. Denn soziale Marktwirtschaft bedeutet ja, dass der Staat Rahmenbedingungen schafft, und wie es Ludwig Erhard wunderbar ausgedrückt hat: Der Staat ist der Schiedsrichter, der dafür sorgt, dass die Regeln eingehalten werden, aber er soll nicht mitspielen. Aber diese Regeln müssen geschaffen werden, die Schiedsrichter müssen da sein. Und das müssen wir auf den globalen Finanzmärkten erreichen. Hätte man sich früher dieser Aufgabe gewidmet, dann wäre uns möglicherweise manche Enttäuschung erspart geblieben.
Labuhn: Wir kommen gleich noch darauf zurück, Herr Genscher. Bleiben wir einmal kurz noch bei der Regierung. Es ist ja auch am Vizekanzler Kritik geübt worden, also am FDP-Vorsitzenden und Bundesaußenminister Guido Westerwelle. Es wurde auch schon gefordert, er solle eines seiner Ämter aufgeben, um sich besser um die übrigen kümmern zu können. Kommt Ihnen solche Kritik bekannt vor?
Genscher: Die ist immer mal wieder aufgekommen, aber die Erfahrung zeigt, dass die Bündelung beider Positionen in Wahrheit die richtige ist. So war es bei Walter Scheel, so war es elf Jahre auch bei mir, so war es bei Klaus Kinkel. Und Sie können dasselbe ja in der CDU sehen: die Bundeskanzlerin ist Parteivorsitzende und Regierungschefin. Und ich erinnere mich, dass Helmut Schmidt einmal gesagt hat: Ein Fehler sei gewesen, dass er sich mit der Übernahme der Kanzlerschaft nicht auch um den Parteivorsitz bemüht hätte. Ich glaube, dass man also sagen kann, dass die Verbindung der beiden Ämter das Gewicht auch desjenigen, der in beiden Ämtern die Verantwortung auch tragen muss, der richtige Weg ist. Also ich sehe nicht den geringsten Anlass, daran etwas zu ändern. Und es ist ja auch deutlich, dass Guido Westerwelle sich zunehmend in diese Rolle hineinfindet. Jeder beginnt einmal, das ist mir übrigens genauso gegangen, und ich könnte Ihnen manchen Kommentar aus meiner Anfangszeit als Außenminister zeigen. Da habe ich das Gefühl, heute wird das noch mal neu veröffentlicht mit anderem Namen.
Labuhn: Sie waren aber in Ihrer langen Zeit als Bundesaußenminister stets einer der beliebtesten Politiker Deutschlands, Herr Genscher, wie eigentlich auch alle anderen Außenminister der Bundesrepublik Deutschland.
Genscher: Nicht alle, aber immerhin.
Labuhn: Nur Guido Westerwelle scheint von diesem, nennen wir es einmal 'Amtsbonus', nicht profitieren zu können. Wie erklären Sie sich das?
Genscher: Zunächst einmal muss man wissen, als ich Außenminister wurde, war ich viereinhalb Jahre Innenminister gewesen. Und ich trat in das Amt des Außenministers ein mit einer hohen Popularitätsrate, die natürlich nicht plötzlich weg war. Die hing ja nicht am Amt des Innenministers, sondern an mir selbst. Das war also, wenn Sie so wollen, eine andere Beginnchance. Und ich bin ganz sicher, dass in der Stetigkeit der außenpolitischen Haltung von Westerwelle sich das auch verbessern wird, insbesondere, wenn er die Rolle Europas in der richtigen Weise einschätzt. Wir haben ja gerade erlebt, dass er sich mit besonderem Nachdruck um das Verhältnis mit unseren beiden Nachbarn, den unmittelbaren großen Nachbarn bemüht, nämlich Frankreich auf der einen Seite, Polen auf der anderen Seite.
Labuhn: Dennoch, Herr Genscher, Sie müssen erleben, dass Ihre Partei, die FDP, in den Umfragen auf vier Prozent abgesunken ist, dass die persönliche Popularität von Guido Westerwelle auch nicht zum Besten steht. Wie kommen beide aus diesem Tal heraus, die FDP und auch ihr Vorsitzender?
Genscher: Ich nehme diesen Sachverhalt sehr ernst, aber ich kann Ihnen sagen, der Parteivorsitzende auch. Und ich glaube, dass eine gute Sacharbeit, eine solide Zusammenarbeit mit der Regierung der Weg dafür ist. Und das, was programmatisch jetzt geschieht mit dem neuen Generalsekretär ist außerordentlich wichtig, denn die FDP hat es zugelassen, dass sie im abgelaufenen Jahr 2009 nur wahrgenommen wurde als Steuersenkungspartei. Das ist aber nicht die Position der FDP, sondern ein breites liberales Angebot ist das Charakteristikum einer liberalen Partei. Nischen, Liberalismus, das sind Bemühungen anderer Parteien, sich auch liberal darzustellen in Einzelfeldern. Aber es ist eine ernsthafte Besinnung der Partei unvermeidlich und notwendig. Und die letzte Bundesvorstandssitzung hat gezeigt, dass die Führung der Partei sich des Ernstes der Lage bewusst ist, aber auch der Notwendigkeit und der Einigkeit darüber, was jetzt zu geschehen hat, nämlich ein neuer programmatischer Aufbruch, der eben jene Zukunftsverantwortung und Zukunftsperspektiven definiert, die unser Land aus liberaler Sicht heute braucht. Und das ist eine Haltung, für die jene zentrale Bestimmung des Grundgesetzes maßgeblich ist, nämlich die Würde des Menschen ist unantastbar. Das heißt, der Mensch steht im Mittelpunkt und soziale Gerechtigkeit ist ein Teil dieser Verantwortung, die wir jetzt erfüllen müssen.
Labuhn: Sie hören das Interview der Woche im Deutschlandfunk, heute mit dem früheren Bundesaußenminister und FDP-Ehrenvorsitzenden Hans-Dietrich Genscher, aufgenommen an einem schönen Sommertag auf der Terrasse seines Hauses bei Bonn, was aufmerksamen Hörerinnen und Hörern unseres Senders vielleicht wegen der Hintergrundgeräusche nicht entgangen ist.
Herr Genscher, am Freitag hat Bundesaußenminister Guido Westerwelle in einer Regierungserklärung vor dem Deutschen Bundestag zur Afghanistanpolitik erneut von einer möglichen Perspektive für den Abzug der NATO-Truppen und auch der Bundeswehr gesprochen, sofern die äußeren Bedingungen dafür erfüllt sind, sobald also vor allem die Sicherheitsverantwortung zumindest teilweise in afghanische Hände gelegt werden kann. Wie lange können wir uns das Afghanistan-Abenteuer politisch und militärisch noch leisten?
Genscher: Dieser Einsatz in Afghanistan stand von Anfang an unter einem ungünstigen Stern. Der Beginn des Einsatzes war nicht verbunden mit einer Definition des Zieles, das die NATO erreichen wollte mit diesem Einsatz. Deshalb gab es auch keinen Maßstab, wann das Ziel erreicht ist. Und Mahnungen, die immer wieder erhoben worden sind, das Bündnis solle endlich sein Ziel, sein Konzept, seine Konzeption für Afghanistan definieren, sind bis heute nicht erfüllt. Das macht es so schwer, auch Entscheidungen zu treffen, wann ist der Einsatz beendet, wann sind die Voraussetzungen für die Beendigung erfüllt? Hinzu kam, dass die deutsche Teilnahme in einer Weise erfolgte, die zeigte, dass wir auf einen solchen Einsatz nicht vorbereitet waren. Und viel zu lange ist auch nicht gesagt worden, um was es dort geht.
Labuhn: Krieg also?
Genscher: … dass dort Soldaten im Krieg stehen. Und ich möchte sagen, dass es ein großes Verdienst des jetzigen Verteidigungsministers ist, dass er das offen ausgesprochen hat. Das sind wir unseren Soldaten schuldig, wir sind es aber auch unserer Öffentlichkeit schuldig, damit jeder weiß, welches Engagement dort eigentlich eingegangen worden ist. Und zu diesen Verpflichtungen, die sich daraus ergeben, ergibt sich auch die Bringschuld des Staates, auch des Parlaments – wir sagen ja zu Recht, die Bundeswehr ist eine Parlamentsarmee – die Bringschuld, die ausreichenden Mittel zur Verfügung zu stellen, dass unsere Soldaten die bestmögliche Ausbildung, Ausrüstung und Bewaffnung für diesen Einsatz haben. Das ist von Anfang an nicht der Fall gewesen. Und die Schwerpunktsetzung, die Herr von Guttenberg heute vornimmt, kann man nur begrüßen. Dass wir bis heute noch nicht über Kampfhubschrauber verfügen, ist ein erheblicher Mangel. Aber ich nenne nur ein Beispiel. Darüber ist ja auch öffentlich längst diskutiert worden. Ich will damit sagen, hier ist ein Lehrstück, wie es eigentlich nicht in Gang gesetzt werden soll. Jetzt sind wir in diesem Einsatz. Wir tragen dabei eine erhebliche Verantwortung, und ich glaube, dass es wichtig sein wird, das auch in enger Zusammenarbeit mit den Vereinigten Staaten man sich über Ziel, Konzeption des Einsatzes verständigt und dann auch gemeinsam festlegt, unter welchen Bedingungen der Einsatz beendet werden kann. Aber die Soldaten haben einen Anspruch darauf, dass man offen darüber redet, was sie dort zu leisten haben, was ihnen abverlangt wird. Und sie haben einen Anspruch darauf, dass sie auch eine optimale Ausrüstung, Ausbildung und Bewaffnung haben.
Labuhn: War das gerade eben auch ein Plädoyer dafür, ein Appell an die Bundesregierung, die Bundeswehr nicht kaputt zu sparen, gerade mit Blick auf diesen Einsatz in Afghanistan?
Genscher: Ja, ganz eindeutig. Natürlich hat auch der Verteidigungshaushalt alles zu überprüfen. Aber das darf nicht zulasten gehen des Einsatzes der Soldaten. Es kann also nicht so sein, dass der Einsatz politisch beschlossen wird, aber Bewaffnung und Ausrüstung nach Kassenlage beschäftigt werden. Und ich glaube, dass wir jetzt davon ausgehen können, dass die Bundesregierung, dass der Bundesminister der Verteidigung, diesem Gesichtspunkt Rechnung trägt. Und hier hat er ganz sicher die uneingeschränkte Unterstützung des Außenministers und auch der Bundestagsfraktion der FDP.
Labuhn: Herr Genscher, von Kritikern ist bemängelt worden, Bundesaußenminister Westerwelle habe seit seiner Amtsübernahme eigentlich keine eigenen Akzente in der Außenpolitik gesetzt. Welche Möglichkeiten bleiben ihm eigentlich? Sie haben einige im Bereich der Europapolitik schon angesprochen. Wo sehen Sie denn im Jahre 2010 die Hauptaufgaben deutscher Außenpolitik?
Genscher: Also, zunächst einmal ist es wichtig, dass wir eine treibende Kraft in Europa bleiben und auch dem Europaskeptizismus entgegenwirken. Unser Schicksal und unsere Zukunft heißt Europa. Wir haben keine andere Zukunft, aber wir könnten ein ziemlich schlimmes Schicksal haben, wenn die Erfolgsgeschichte Europa nicht fortgesetzt würde. Ich wage gar nicht auszudenken, wo wir heute in Deutschland stehen würden, wenn wir die Lasten der Finanzkrise allein zu tragen gehabt hätten. Der Euro hat uns eine sichere Bank gesichert. Und deshalb sind auch Zahlungen, die wir leisten, nicht Wohltätigkeitsabgaben an Dritte, sondern für uns selbst. Dass wir heute wieder gute Perspektiven haben für unsere Wirtschaft ist natürlich auch eine Anerkennung der Stabilität des Euro. Und der wiederum wird in besonderer Weise in seiner Stabilität verkörpert durch die deutsche Wirtschaft, durch die deutsche Finanzpolitik. Deshalb glaube ich, dass das, was die Regierung jetzt tut, einmal was sie getan hat mit ihrem Wirtschaftsprogramm am Anfang des Jahres, aber auch mit ihrer soliden Finanzpolitik, ihrem Bemühen um Stabilität und Konsolidierung ein wesentlicher Beitrag dazu ist, dass wir die Krise überwinden können. Und der Außenpolitik, der Finanzpolitik, der Wirtschaftspolitik fällt eine besondere Aufgabe zu bei der Schaffung jener Rahmenbedingungen auf den Weltfinanzmärkten, von denen ich schon gesprochen habe. Denn wir können nicht zulassen, dass wir in unserem eigenen Bereich – der eigene Bereich ist Deutschland, der eigene Bereich ist die Europäische Union – dass wir Regeln für die Kooperation haben, aber weltweit ein regelloses Missbrauchsfeld, wie wir es erlebt haben. Das ist eine gemeinsame Aufgabe. Natürlich hat der Außenminister das gesamte Gebiet der Außenpolitik, unsere Mitwirkung bei der Lösung des Nahostkonfliktes, die wichtige Gestaltung der deutschen und EU-Beziehungen mit Russland, unserem großen europäischen Nachbarn, mit dem wir durch unglaubliche gegenseitige Interessen verbunden sind. Wir sind aufeinander angewiesen. Wir leben auf derselben Erdscholle, sind unmittelbare Nachbarn. Und hier ist eine engstmögliche Zusammenarbeit von großer Bedeutung. Auch hier liegt eine große Aufgabe der Außenpolitik. Da hat sich prinzipiell gegenüber früher nichts geändert. Nur eins muss ich Ihnen sagen: Wenn ich mal nachdenke, sämtliche Außenminister, die alle einen guten Namen haben, wer da neun Monate nach seinem Amtsantritt sagen konnte: 'Ich habe jetzt einen neuen Akzent in der Außenpolitik gesetzt' - das ist kein Experimentierfeld und auch kein Jahrmarkt der Eitelkeiten, sondern Außenpolitik wird kontinuierlich fortgesetzt, damit sie Vertrauen genießt. Und in dieser Kontinuität besteht die Entwicklung auch daran, dass man neue Entwicklungen nicht nur reaktiv beantwortet, sondern die neu gestaltet. Da werden genug kommen.
Labuhn: Außenminister Westerwelle hat es zu einem persönlichen Anliegen gemacht, den Abzug der letzten noch auf deutschem Boden befindlichen amerikanischen Atomwaffen zu fordern. Sollte das tatsächlich für die deutsche Außenpolitik Priorität haben?
Genscher: Das ist ein ganz wichtiger Faktor. Das entspricht ja auch der internationalen Entwicklung. Ich selbst gehöre mit Richard von Weizsäcker, Helmut Schmidt, Egon Bahr zu einer Gruppe deutscher Politiker, die in der Vergangenheit Verantwortung getragen haben, die für eine weltweite Beseitigung der Nuklearwaffen sind. Deutschland ist ein Land, das Land, das völkerrechtlich sich verpflichtet hat, keine Atomwaffen zu besitzen. Dass wir auch keine fremden auf unserem Boden haben möchten unter den heute gegebenen Umständen, ist nur selbstverständlich.
Labuhn: Wie, Herr Genscher, kann sich denn die Mittelmacht Deutschland abgesehen vom Fußball in einer multipolar gewordenen Welt einbringen, die politisch längst nicht mehr von den fünf ständigen Mitgliedern des Weltsicherheitsrates dominiert wird, sondern zunehmend auch von Ländern wie Indien und Brasilien, also keineswegs nur von den USA, Russland und der EU?
Genscher: Sie hätten auch noch erwähnen können China, das volkreichste Land der Welt. Deutschland bringt sein Gewicht ein als Teil der Europäischen Union. Die Europäische Union ist ein regionaler Zusammenschluss, am weitesten entwickelt. Es gibt auch andere. Wir sind heute ein wichtiger internationaler Faktor, und unser Ehrgeiz ist es, durch unser Modell der kooperativen Ordnung innerhalb der Europäischen Union ein Beispiel zu geben, wie wir auch eine neue Weltordnung gestalten können. Europa mit seinen kolonialen Sünden der Vergangenheit hat heute eine Botschaft an die Welt: Man kann aus der Geschichte lernen, und man kann und muss aus der Geschichte lernen, dass nicht Gegensätze, dass nicht militärischer Wettlauf, sondern Kooperation zum allseitigen Vorteil der richtige Weg ist für dauerhaften Frieden.
Labuhn: Herr Genscher, vielen Dank!
Hans-Dietrich Genscher: Also dazu eigentlich nicht, sondern ich denke, wir leben auch in einer Zeit großer Veränderungen, in turbulenten Zeiten. Und das berührt auch die Politik, noch dazu, wenn eine Regierung antritt, die ja auf einen so erheblichen Reformstau trifft, wie die jetzige Bundesregierung. Und das hat zu Verwerfungen geführt.
Labuhn: Sie waren in Ihrem Leben insgesamt 23 Jahre lang Bundesminister in Koalitionsregierungen Ihrer Partei mit der SPD und mit der Union. Und Sie haben dabei an der Spitze des Kabinetts so unterschiedliche Kanzler erlebt wie Willy Brandt, wie Helmut Schmidt, wie Helmut Kohl dann seit 1982. Haben Sie aber jemals einen so missglückten Start einer neu gebildeten Bundesregierung gesehen wie den der schwarz-gelben Koalition in Berlin, in der sich doch angeblich Wunschpartner zusammenfanden?
Genscher: Also die drei Regierungen, die Sie erwähnt haben, haben das nicht gehabt. Aber wir haben durchaus auch Enttäuschungen später erlebt bei neuen Regierungsbildungen. Ich glaube, dass wirklich die sehr viel unübersichtlichere Lage, insbesondere die Weltfinanzkrise, natürlich auch das Handeln der Regierungsparteien bestimmt hat. Es mussten Vorstellungen, die man für den Wahlkampf entwickelt hatte - auch als Ziel für die nächste Periode - korrigiert werden, weil plötzlich völlig andere fremdbestimmte Daten Geltung bekamen. Unabhängig davon natürlich ist man sich auch bewusst, dass Fehler gemacht wurden. Aber ich denke, wenn wir jetzt sehen, wie die Regierung das erste Halbjahr abschließt, dann kann man sagen: Sie hat einen Haushalt auf den Weg gebracht, sie hat ein wirklich einmaliges Tendenz umkehrendes Sparprogramm vorgelegt, sie hat eine Aufgabe angepackt und mit Einstieg auch in die richtige Richtung gelenkt, nämlich die Gesundheitsreform. Das alles ist nicht wenig, und sie genießt unverändert auch außenpolitisch ein großes Vertrauen. Aber nichts ist so gut, dass es nicht besser werden könnte.
Labuhn: Blicken wir einmal auf einige Momente, die einen doch stutzig machten. Wir wissen ja, dass das Verhältnis der FDP zur bayerischen CSU fast schon traditionell etwas schwierig ist, aber ich kann mich nicht erinnern, dass sich FDP und CSU jemals öffentlich beschimpft haben als "Wildsau" und "Gurkentruppe", wie kürzlich beim Streit über die Gesundheitspolitik. Was ist da falsch gelaufen?
Genscher: Es sind persönliche Eigenheiten, die da zum Ausdruck gekommen sind. Ich habe ja meine Erfahrungen gemacht mit einem langjährigen Vorsitzenden der CSU, mit Franz Josef Strauß. Da habe ich immer festgestellt, dass bei allen Gegensätzen, die es gab, auch manchem bajuwarischen Aufbegehren am Ende doch auch Gespräche möglich waren mit großem Ernst und großem gegenseitigen Respekt. Also ich glaube, dass alle Regierungsparteien gelernt haben, aus dem, was falsch lief in den ersten Monaten, und dass das Wort vom "neuen Anfang", das auch schon verbraucht schien, jetzt sich durch Taten auch erweist. Deshalb sehe ich mit einer gewissen Zuversicht für die Regierung in die Zukunft. Aber sie hat schwere Lasten zu tragen.
Labuhn: Was hat man am Anfang falsch gemacht? Ist der Koalitionsvertrag zu hastig ausgehandelt worden, hat man da zu viele wichtige Fragen – also Energiepolitik, Gesundheitspolitik – einfach offen gelassen oder auf später vertagt? Hat man den Mund einfach zu voll genommen bei Schlagwörtern wie "mehr Netto vom Brutto" oder gar "geistig politische Wende"?
Genscher: Ja, ich sagte ja, dass manche Erwartungen, die gehegt worden sind im Wahlkampf – nehmen wir mal die Frage der Steuersenkungen – natürlich vor der grundlegend veränderten internationalen Lage auf den Finanzmärkten, den notwendigen Hilfsmaßnahmen, einer neuen Überprüfung bedurften. Nur es hat keinen Zweck, sich jetzt in Vergangenheitsbetrachtungen zu ergehen, es kommt darauf an, was jetzt geschieht. Da habe ich wirklich Punkte genannt, wo die Regierung entschieden hat. Und ich habe den Eindruck, alle haben auch die Lehren der ersten Monate beherzigt. Und das wird sich fortsetzen.
Labuhn: Auch die Kanzlerin - an ihrem Regierungsstil ist ja immer mehr Kritik geübt worden, zuletzt auch aus den eigenen Reihen, etwa von Ole von Beust, dem ersten Bürgermeister von Hamburg. Er riet der Kanzlerin, doch gelegentlich auch mal jemanden aus dem Kabinett hinauszuwerfen, wenn er sich einfach nicht an die Kabinettsdisziplin halten möchte.
Genscher: Es steht mir nicht an, mich mit innerparteilichen Problemen der CDU zu beschäftigen. Ich denke, dass manche in der CDU nicht vergessen sollten, dass die Bundeskanzlerin ihre Partei durch eine schwierige Zeit führt und dass sie in vielen Bereichen durchaus auch die veränderten Rahmenbedingungen erkannt hat, dass sie auch Tore für neue Entwicklungen in der Union aufgestoßen hat. Also mir erscheint da manche Kritik auch vordergründig, und bei anderen sind es eher Rückzugsgefechte in ein konservatives Denken, das heute keinen Bestand mehr haben kann.
Labuhn: Sie haben jetzt programmatische Entwicklungen angesprochen – eine Modernisierung der CDU, eine Verwandlung in eine zeitgemäßere bürgerliche Partei. Aber die Kritik richtet sich doch konkret gegen den Führungsstil der Kanzlerin. Vermissen Sie da manchmal ein "Basta!" sozusagen?
Genscher: Ich kann das als Außenstehender nicht als Erwartung äußern, ich sehe das auch nicht so. Und ich denke, dass eine kollegial geführte Regierung ja auch dem entspricht, was unser Grundgesetz darüber sagt, dass jeder Minister sein Ressort in eigener Verantwortung führt. Das macht die Kraft einer Regierung aus. So habe ich das auch immer erlebt. Und was das Programmatische angeht, so hielt ich es für notwendig, dass meine eigene Partei auch die grundlegend veränderten gesellschaftlichen Bedingungen erkennt. Und wenn Sie einmal sehen, was der Generalsekretär im Auftrag des Bundesvorstandes und vor allem auch des Parteivorsitzenden sich programmatisch vorgenommen hat: Das ist die Einsicht in völlig neue gesellschaftliche Herausforderungen. Es entsteht ein neues Milieu auch in unserem Land mit Menschen, die leistungsbereit sind, die aber die Lebensbedingungen nicht nur in Steuertabellen ausgedrückt sehen wollen, die Nachhaltigkeit erwarten, Verantwortung für die Zukunft – ganz im Sinne von Hans Jonas, der uns darauf hinweist, dass unsere Verantwortung über unsere Zeit hinausreicht, das gilt für den Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen, das gilt aber natürlich auch für das Vermeiden der Übertragung von Lasten unserer Zeit auf nachfolgende Generationen. Es geht darum, dass wir eine offene Gesellschaft haben, eine humane Gesellschaft. Und ich denke, dass es sehr wichtig ist zu beachten, dass Ludwig Erhard mit guten Grund unsere Wirtschaftsordnung als soziale Marktwirtschaft bezeichnet hat. Das entspricht dem Geist des Grundgesetzes, das unser Land als einen freiheitlichen Rechtsstaat definiert, aber auch als einen sozialen Rechtsstaat. Das heißt, der innere Zusammenhalt der Gesellschaft durch eine in Freiheit sich entwickelnde Ordnung ist das, was gefordert wird, was mit Leben erfüllt werden muss und was zugleich ein Modellfall ist für eine neue Weltordnung, wo wir es jetzt damit zu tun haben, dass wir Rahmenbedingungen schaffen müssen, in denen sich Entwicklungen vollziehen können. Denn soziale Marktwirtschaft bedeutet ja, dass der Staat Rahmenbedingungen schafft, und wie es Ludwig Erhard wunderbar ausgedrückt hat: Der Staat ist der Schiedsrichter, der dafür sorgt, dass die Regeln eingehalten werden, aber er soll nicht mitspielen. Aber diese Regeln müssen geschaffen werden, die Schiedsrichter müssen da sein. Und das müssen wir auf den globalen Finanzmärkten erreichen. Hätte man sich früher dieser Aufgabe gewidmet, dann wäre uns möglicherweise manche Enttäuschung erspart geblieben.
Labuhn: Wir kommen gleich noch darauf zurück, Herr Genscher. Bleiben wir einmal kurz noch bei der Regierung. Es ist ja auch am Vizekanzler Kritik geübt worden, also am FDP-Vorsitzenden und Bundesaußenminister Guido Westerwelle. Es wurde auch schon gefordert, er solle eines seiner Ämter aufgeben, um sich besser um die übrigen kümmern zu können. Kommt Ihnen solche Kritik bekannt vor?
Genscher: Die ist immer mal wieder aufgekommen, aber die Erfahrung zeigt, dass die Bündelung beider Positionen in Wahrheit die richtige ist. So war es bei Walter Scheel, so war es elf Jahre auch bei mir, so war es bei Klaus Kinkel. Und Sie können dasselbe ja in der CDU sehen: die Bundeskanzlerin ist Parteivorsitzende und Regierungschefin. Und ich erinnere mich, dass Helmut Schmidt einmal gesagt hat: Ein Fehler sei gewesen, dass er sich mit der Übernahme der Kanzlerschaft nicht auch um den Parteivorsitz bemüht hätte. Ich glaube, dass man also sagen kann, dass die Verbindung der beiden Ämter das Gewicht auch desjenigen, der in beiden Ämtern die Verantwortung auch tragen muss, der richtige Weg ist. Also ich sehe nicht den geringsten Anlass, daran etwas zu ändern. Und es ist ja auch deutlich, dass Guido Westerwelle sich zunehmend in diese Rolle hineinfindet. Jeder beginnt einmal, das ist mir übrigens genauso gegangen, und ich könnte Ihnen manchen Kommentar aus meiner Anfangszeit als Außenminister zeigen. Da habe ich das Gefühl, heute wird das noch mal neu veröffentlicht mit anderem Namen.
Labuhn: Sie waren aber in Ihrer langen Zeit als Bundesaußenminister stets einer der beliebtesten Politiker Deutschlands, Herr Genscher, wie eigentlich auch alle anderen Außenminister der Bundesrepublik Deutschland.
Genscher: Nicht alle, aber immerhin.
Labuhn: Nur Guido Westerwelle scheint von diesem, nennen wir es einmal 'Amtsbonus', nicht profitieren zu können. Wie erklären Sie sich das?
Genscher: Zunächst einmal muss man wissen, als ich Außenminister wurde, war ich viereinhalb Jahre Innenminister gewesen. Und ich trat in das Amt des Außenministers ein mit einer hohen Popularitätsrate, die natürlich nicht plötzlich weg war. Die hing ja nicht am Amt des Innenministers, sondern an mir selbst. Das war also, wenn Sie so wollen, eine andere Beginnchance. Und ich bin ganz sicher, dass in der Stetigkeit der außenpolitischen Haltung von Westerwelle sich das auch verbessern wird, insbesondere, wenn er die Rolle Europas in der richtigen Weise einschätzt. Wir haben ja gerade erlebt, dass er sich mit besonderem Nachdruck um das Verhältnis mit unseren beiden Nachbarn, den unmittelbaren großen Nachbarn bemüht, nämlich Frankreich auf der einen Seite, Polen auf der anderen Seite.
Labuhn: Dennoch, Herr Genscher, Sie müssen erleben, dass Ihre Partei, die FDP, in den Umfragen auf vier Prozent abgesunken ist, dass die persönliche Popularität von Guido Westerwelle auch nicht zum Besten steht. Wie kommen beide aus diesem Tal heraus, die FDP und auch ihr Vorsitzender?
Genscher: Ich nehme diesen Sachverhalt sehr ernst, aber ich kann Ihnen sagen, der Parteivorsitzende auch. Und ich glaube, dass eine gute Sacharbeit, eine solide Zusammenarbeit mit der Regierung der Weg dafür ist. Und das, was programmatisch jetzt geschieht mit dem neuen Generalsekretär ist außerordentlich wichtig, denn die FDP hat es zugelassen, dass sie im abgelaufenen Jahr 2009 nur wahrgenommen wurde als Steuersenkungspartei. Das ist aber nicht die Position der FDP, sondern ein breites liberales Angebot ist das Charakteristikum einer liberalen Partei. Nischen, Liberalismus, das sind Bemühungen anderer Parteien, sich auch liberal darzustellen in Einzelfeldern. Aber es ist eine ernsthafte Besinnung der Partei unvermeidlich und notwendig. Und die letzte Bundesvorstandssitzung hat gezeigt, dass die Führung der Partei sich des Ernstes der Lage bewusst ist, aber auch der Notwendigkeit und der Einigkeit darüber, was jetzt zu geschehen hat, nämlich ein neuer programmatischer Aufbruch, der eben jene Zukunftsverantwortung und Zukunftsperspektiven definiert, die unser Land aus liberaler Sicht heute braucht. Und das ist eine Haltung, für die jene zentrale Bestimmung des Grundgesetzes maßgeblich ist, nämlich die Würde des Menschen ist unantastbar. Das heißt, der Mensch steht im Mittelpunkt und soziale Gerechtigkeit ist ein Teil dieser Verantwortung, die wir jetzt erfüllen müssen.
Labuhn: Sie hören das Interview der Woche im Deutschlandfunk, heute mit dem früheren Bundesaußenminister und FDP-Ehrenvorsitzenden Hans-Dietrich Genscher, aufgenommen an einem schönen Sommertag auf der Terrasse seines Hauses bei Bonn, was aufmerksamen Hörerinnen und Hörern unseres Senders vielleicht wegen der Hintergrundgeräusche nicht entgangen ist.
Herr Genscher, am Freitag hat Bundesaußenminister Guido Westerwelle in einer Regierungserklärung vor dem Deutschen Bundestag zur Afghanistanpolitik erneut von einer möglichen Perspektive für den Abzug der NATO-Truppen und auch der Bundeswehr gesprochen, sofern die äußeren Bedingungen dafür erfüllt sind, sobald also vor allem die Sicherheitsverantwortung zumindest teilweise in afghanische Hände gelegt werden kann. Wie lange können wir uns das Afghanistan-Abenteuer politisch und militärisch noch leisten?
Genscher: Dieser Einsatz in Afghanistan stand von Anfang an unter einem ungünstigen Stern. Der Beginn des Einsatzes war nicht verbunden mit einer Definition des Zieles, das die NATO erreichen wollte mit diesem Einsatz. Deshalb gab es auch keinen Maßstab, wann das Ziel erreicht ist. Und Mahnungen, die immer wieder erhoben worden sind, das Bündnis solle endlich sein Ziel, sein Konzept, seine Konzeption für Afghanistan definieren, sind bis heute nicht erfüllt. Das macht es so schwer, auch Entscheidungen zu treffen, wann ist der Einsatz beendet, wann sind die Voraussetzungen für die Beendigung erfüllt? Hinzu kam, dass die deutsche Teilnahme in einer Weise erfolgte, die zeigte, dass wir auf einen solchen Einsatz nicht vorbereitet waren. Und viel zu lange ist auch nicht gesagt worden, um was es dort geht.
Labuhn: Krieg also?
Genscher: … dass dort Soldaten im Krieg stehen. Und ich möchte sagen, dass es ein großes Verdienst des jetzigen Verteidigungsministers ist, dass er das offen ausgesprochen hat. Das sind wir unseren Soldaten schuldig, wir sind es aber auch unserer Öffentlichkeit schuldig, damit jeder weiß, welches Engagement dort eigentlich eingegangen worden ist. Und zu diesen Verpflichtungen, die sich daraus ergeben, ergibt sich auch die Bringschuld des Staates, auch des Parlaments – wir sagen ja zu Recht, die Bundeswehr ist eine Parlamentsarmee – die Bringschuld, die ausreichenden Mittel zur Verfügung zu stellen, dass unsere Soldaten die bestmögliche Ausbildung, Ausrüstung und Bewaffnung für diesen Einsatz haben. Das ist von Anfang an nicht der Fall gewesen. Und die Schwerpunktsetzung, die Herr von Guttenberg heute vornimmt, kann man nur begrüßen. Dass wir bis heute noch nicht über Kampfhubschrauber verfügen, ist ein erheblicher Mangel. Aber ich nenne nur ein Beispiel. Darüber ist ja auch öffentlich längst diskutiert worden. Ich will damit sagen, hier ist ein Lehrstück, wie es eigentlich nicht in Gang gesetzt werden soll. Jetzt sind wir in diesem Einsatz. Wir tragen dabei eine erhebliche Verantwortung, und ich glaube, dass es wichtig sein wird, das auch in enger Zusammenarbeit mit den Vereinigten Staaten man sich über Ziel, Konzeption des Einsatzes verständigt und dann auch gemeinsam festlegt, unter welchen Bedingungen der Einsatz beendet werden kann. Aber die Soldaten haben einen Anspruch darauf, dass man offen darüber redet, was sie dort zu leisten haben, was ihnen abverlangt wird. Und sie haben einen Anspruch darauf, dass sie auch eine optimale Ausrüstung, Ausbildung und Bewaffnung haben.
Labuhn: War das gerade eben auch ein Plädoyer dafür, ein Appell an die Bundesregierung, die Bundeswehr nicht kaputt zu sparen, gerade mit Blick auf diesen Einsatz in Afghanistan?
Genscher: Ja, ganz eindeutig. Natürlich hat auch der Verteidigungshaushalt alles zu überprüfen. Aber das darf nicht zulasten gehen des Einsatzes der Soldaten. Es kann also nicht so sein, dass der Einsatz politisch beschlossen wird, aber Bewaffnung und Ausrüstung nach Kassenlage beschäftigt werden. Und ich glaube, dass wir jetzt davon ausgehen können, dass die Bundesregierung, dass der Bundesminister der Verteidigung, diesem Gesichtspunkt Rechnung trägt. Und hier hat er ganz sicher die uneingeschränkte Unterstützung des Außenministers und auch der Bundestagsfraktion der FDP.
Labuhn: Herr Genscher, von Kritikern ist bemängelt worden, Bundesaußenminister Westerwelle habe seit seiner Amtsübernahme eigentlich keine eigenen Akzente in der Außenpolitik gesetzt. Welche Möglichkeiten bleiben ihm eigentlich? Sie haben einige im Bereich der Europapolitik schon angesprochen. Wo sehen Sie denn im Jahre 2010 die Hauptaufgaben deutscher Außenpolitik?
Genscher: Also, zunächst einmal ist es wichtig, dass wir eine treibende Kraft in Europa bleiben und auch dem Europaskeptizismus entgegenwirken. Unser Schicksal und unsere Zukunft heißt Europa. Wir haben keine andere Zukunft, aber wir könnten ein ziemlich schlimmes Schicksal haben, wenn die Erfolgsgeschichte Europa nicht fortgesetzt würde. Ich wage gar nicht auszudenken, wo wir heute in Deutschland stehen würden, wenn wir die Lasten der Finanzkrise allein zu tragen gehabt hätten. Der Euro hat uns eine sichere Bank gesichert. Und deshalb sind auch Zahlungen, die wir leisten, nicht Wohltätigkeitsabgaben an Dritte, sondern für uns selbst. Dass wir heute wieder gute Perspektiven haben für unsere Wirtschaft ist natürlich auch eine Anerkennung der Stabilität des Euro. Und der wiederum wird in besonderer Weise in seiner Stabilität verkörpert durch die deutsche Wirtschaft, durch die deutsche Finanzpolitik. Deshalb glaube ich, dass das, was die Regierung jetzt tut, einmal was sie getan hat mit ihrem Wirtschaftsprogramm am Anfang des Jahres, aber auch mit ihrer soliden Finanzpolitik, ihrem Bemühen um Stabilität und Konsolidierung ein wesentlicher Beitrag dazu ist, dass wir die Krise überwinden können. Und der Außenpolitik, der Finanzpolitik, der Wirtschaftspolitik fällt eine besondere Aufgabe zu bei der Schaffung jener Rahmenbedingungen auf den Weltfinanzmärkten, von denen ich schon gesprochen habe. Denn wir können nicht zulassen, dass wir in unserem eigenen Bereich – der eigene Bereich ist Deutschland, der eigene Bereich ist die Europäische Union – dass wir Regeln für die Kooperation haben, aber weltweit ein regelloses Missbrauchsfeld, wie wir es erlebt haben. Das ist eine gemeinsame Aufgabe. Natürlich hat der Außenminister das gesamte Gebiet der Außenpolitik, unsere Mitwirkung bei der Lösung des Nahostkonfliktes, die wichtige Gestaltung der deutschen und EU-Beziehungen mit Russland, unserem großen europäischen Nachbarn, mit dem wir durch unglaubliche gegenseitige Interessen verbunden sind. Wir sind aufeinander angewiesen. Wir leben auf derselben Erdscholle, sind unmittelbare Nachbarn. Und hier ist eine engstmögliche Zusammenarbeit von großer Bedeutung. Auch hier liegt eine große Aufgabe der Außenpolitik. Da hat sich prinzipiell gegenüber früher nichts geändert. Nur eins muss ich Ihnen sagen: Wenn ich mal nachdenke, sämtliche Außenminister, die alle einen guten Namen haben, wer da neun Monate nach seinem Amtsantritt sagen konnte: 'Ich habe jetzt einen neuen Akzent in der Außenpolitik gesetzt' - das ist kein Experimentierfeld und auch kein Jahrmarkt der Eitelkeiten, sondern Außenpolitik wird kontinuierlich fortgesetzt, damit sie Vertrauen genießt. Und in dieser Kontinuität besteht die Entwicklung auch daran, dass man neue Entwicklungen nicht nur reaktiv beantwortet, sondern die neu gestaltet. Da werden genug kommen.
Labuhn: Außenminister Westerwelle hat es zu einem persönlichen Anliegen gemacht, den Abzug der letzten noch auf deutschem Boden befindlichen amerikanischen Atomwaffen zu fordern. Sollte das tatsächlich für die deutsche Außenpolitik Priorität haben?
Genscher: Das ist ein ganz wichtiger Faktor. Das entspricht ja auch der internationalen Entwicklung. Ich selbst gehöre mit Richard von Weizsäcker, Helmut Schmidt, Egon Bahr zu einer Gruppe deutscher Politiker, die in der Vergangenheit Verantwortung getragen haben, die für eine weltweite Beseitigung der Nuklearwaffen sind. Deutschland ist ein Land, das Land, das völkerrechtlich sich verpflichtet hat, keine Atomwaffen zu besitzen. Dass wir auch keine fremden auf unserem Boden haben möchten unter den heute gegebenen Umständen, ist nur selbstverständlich.
Labuhn: Wie, Herr Genscher, kann sich denn die Mittelmacht Deutschland abgesehen vom Fußball in einer multipolar gewordenen Welt einbringen, die politisch längst nicht mehr von den fünf ständigen Mitgliedern des Weltsicherheitsrates dominiert wird, sondern zunehmend auch von Ländern wie Indien und Brasilien, also keineswegs nur von den USA, Russland und der EU?
Genscher: Sie hätten auch noch erwähnen können China, das volkreichste Land der Welt. Deutschland bringt sein Gewicht ein als Teil der Europäischen Union. Die Europäische Union ist ein regionaler Zusammenschluss, am weitesten entwickelt. Es gibt auch andere. Wir sind heute ein wichtiger internationaler Faktor, und unser Ehrgeiz ist es, durch unser Modell der kooperativen Ordnung innerhalb der Europäischen Union ein Beispiel zu geben, wie wir auch eine neue Weltordnung gestalten können. Europa mit seinen kolonialen Sünden der Vergangenheit hat heute eine Botschaft an die Welt: Man kann aus der Geschichte lernen, und man kann und muss aus der Geschichte lernen, dass nicht Gegensätze, dass nicht militärischer Wettlauf, sondern Kooperation zum allseitigen Vorteil der richtige Weg ist für dauerhaften Frieden.
Labuhn: Herr Genscher, vielen Dank!
