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Genuss in rauer Schale

Zwischen La Rochelle und Bordeaux an der Atlantikküste, liegt die Bucht von Marennes mit der Insel Oléron. Es ist das größte und älteste Austernzuchtgebiet Frankreichs. Dass Frankreichs Sonnenkönig Ludwig XIV. bis zu 400 dieser Weichtiere pro Tag geschlürft hat, ist wohl ein Teil der Legendenbildung. Heute versorgt Frankreichs Küste längst nicht mehr nur die Reichen und Mächtigen. Dafür sorgte Kaiser Napoleon III., der Mitte des 19. Jahrhunderts die Anbautechniken revolutionieren ließ.

Eine Sendung von Bettina Kaps |
    Ein bretonischer Gourmetkoch über den Genuss von Austern:

    "Wir aßen schon zum Frühstück Austern und haben sie auch bei unseren Ausflügen auf die Felsen als Picknick mitgenommen, mit frischem Brot und salziger Butter. Rohe Austern sind für mich das wahre Glück."

    ...und ein Austernzüchter über die harte Arbeit in den Zuchtbecken:

    "Wenn ich im Wasser arbeite, unter schwierigen Bedingungen, wenn es kalt ist, das Kreuz schmerzt und die Austern in die Hände schneiden, dann denke ich, es ist nur ein Haufen Steine, verdammt, es ist keine leichte Arbeit. Aber wenn ich sie dann in Paris auf meinem Stand ausbreite und sehe, wie begeistert die Leute sind, dann sage ich mir: die ganze Mühe lohnt sich doch."

    Um die Auster ranken sich zahllose Anekdoten: Schon die alten Römer sollen sie aus Gallien importiert haben. Den alten Griechen wird nachgesagt, dass sie sie als Aphrodisiakum schätzten, was wohl aber eher mit physiologischen Analogien der Form der geöffneten Muschel zu tun hat, als mit deren tatsächlicher Wirkung. Und, ob Frankreichs Sonnenkönig Ludwig XIV. tatsächlich bis zu 400 dieser Weichtiere pro Tag geschlürft hat, ist wohl auch eher Teil der Legendenbildung. In Kunst und Literatur hat die Auster jedoch unzweifelhaft Karriere gemacht. So fabulierte zum Beispiel der französische Dichter La Fontaine über das Schalentier, Alexandre Dumas schrieb über die Auster und auch holländische Maler rückten sie in schillerndem Perlmutt in den Mittelpunkt ihrer Stillleben.

    Den Konsumenten stellt die Auster immer noch vor ernste Herausforderungen. Sie ähnelt einem grau-braunen Stein mit scharfen Zacken und Kanten und sie ist hartnäckig verschlossen. Denn dank ihres Schließmuskels kann sie sich kraftvoll verteidigen. Kenner behaupten, dass der Muskel einem Zug von bis zu drei Kilogramm standhält. Sie zu öffnen, ist deshalb nicht ungefährlich.

    Oft rutscht das Messer ab, und trifft den Handballen. Und die raue Schale verletzt die Finger, während man im Inneren der Auster den Muskel löst. Zahlreiche Tüftler haben bereits versucht, die Auster zu überlisten und Techniken zum mühelosen Öffnen zu erfinden - bislang vergeblich.

    Gut, dass es da den "Ecailler", den professionellen Austernöffner gibt. Emile Rey ist einer von ihnen. Eigentlich stammt er aus Savoyen, aus Süd-Frankreich. Doch seit vielen Jahren arbeitet er bereits in Paris.

    "Das Öffnen ist eine Sache für sich" - Der Austernöffner

    Paris, 22 Uhr, Place Clichy. Ein belebter Platz, nur ein paar Schritte von Pigalle entfernt, mit großen Kinos, Theatern, Kneipen und Restaurants. Dichter Verkehr kreist um die grün angelaufene Statue eines alten Marschalls.

    Die Scheibenwischer der Autos kämpfen mit dem Schneeregen. Aus der Brasserie Wepler mit der weinroten Markise flutet warmes Licht. Durch die Fensterscheiben sieht man die Gäste. Emile Rey steht auf dem Bürgersteig, eingepfercht zwischen einer Stellage mit Meeresfrüchten, einer Eismaschine und der Glastür des Restaurants. Er hält ein spitzes Messer in der Hand.

    "Wir stehen immer draußen. Bevor die Gäste ins Restaurant gehen, schauen sie an der Austernbank vorbei. Sie fragen die Austernöffner, was sie bestellen sollen, was wir empfehlen, was besonders frisch ist."

    Emile Rey nimmt eine Auster. Gezielt ertastet er mit der Messerspitze ihre schwache Stelle, rechts außen, etwas oberhalb des Punktes, wo innen der Muskel sitzen muss. Er sticht hinein, durchtrennt den Muskel, dreht die Klinge und drückt so die Schale auseinander. Scheppernd plumpst der Deckel in den Mülleimer. "Sauber", sagt Emile zufrieden, legt die geöffnete Auster mit ihrer perlmutt-schimmernden Schale sorgsam auf ein Silbertablett, greift zur nächsten Muschel.

    Mit seinen hellblauen Augen, dem grauen Schnauzer, der Schiffermütze und dem weißblau gestreiften Seemannspullover sieht der 60-Jährige aus wie ein alter Seebär. Dabei stammt er aus den Alpen. Kam als Saisonarbeiter nach Paris, vor 33 Jahren. Ein klassischer Lebensweg.

    "Früher, da waren wir in Paris über 200 Austernöffner, alle aus Savoyen. Das war so was wie Familiensache. In den Bergen gab es im Winter keine Arbeit für uns. Deshalb haben wir von September bis April als Austernöffner Geld verdient. Im Freien arbeiten, das waren wir ja
    gewohnt. Und im Sommer haben wir zuhause auf den Bauernhöfen geholfen. Heute sind wir in Paris nur noch rund 20 Ecaillers aus Savoyen."

    Emile hat sich zum "Chef Austernöffner" hochgearbeitet: Abends gibt er die Bestellungen auf. Morgens nimmt er die frische Ware in Empfang und bettet sie auf braune Meeresalgen: Austern aus der Bretagne, Austern aus Saint Vaast, Fines de Claires, Speciales Cottentin, Speciales Gillardeau, La Perle Blanche, die weiße Perle... Austern aus fünf französischen Regionen kann er anbieten, außerdem verschiedene Größen. Hin und wieder nascht er selber eine, das versüßt die Arbeit. Und wenn er die Auster schmeckt, kann er die Leute auch besser beraten.

    Heute kommen seine Kollegen vornehmlich aus Algerien, Sri Lanka und der Elfenbeinküste. Menschen, die keine Ansprüche stellen. Junge Franzosen wollen diesen Beruf nicht mehr ausüben.

    "Es ist harte Arbeit. Im Sommer geht’s, aber im Winter: da ist es windig und kalt. Und dann die Luftverschmutzung. Da vorne ist eine Ampel. Wenn sich der Verkehr vor uns staut, müssen wir die ganzen Abgase einatmen. Na ja ... schließlich stehe ich noch immer hier, 33 Jahre schon."

    Seine beiden Daumen hat Emile mit Pflaster zugeklebt. Die linke Handfläche ist gerötet, sie schmerzt, denn die Haut ist dünn geworden vom ständigen Reiben an der salzigen Schale, verträgt keine Austern mehr. Berufskrankheit, sagt Emile, unvermeidbar nach so vielen Jahren. Vom regelmäßigen Verzehren der Austern fühlt er sich jedoch gestärkt.

    "Austern sind hervorragend für die Gesundheit. Nur das Öffnen, das ist eine Sache für sich. Deshalb ist "Ecailler" ein richtiger Beruf. Entscheidend ist, dass die Auster auch sauber geöffnet wird. Dass sie nicht halbiert ist. Manche Austern sind schwieriger zu knacken als andere. Wenn wir wenig Zeit haben, legen wir sie erst einmal zur Seite. Aber normalerweise ist das für einen Ecailler kein Problem."

    Nicht nur die Gäste der Brasserie suchen sich bei den Austernöffnern ihre Austern aus. Auch Passanten kaufen ein. Das Öffnen besorgen die "Ecaillers" gratis. Eine Reisegruppe schlendert gerade vorbei, bewundert die Austern, lässt sich von Emiles Kollegen das Handwerk erklären. Eine Frau greift zum Messer mit der kurzen spitzen Klinge. Sie will es einmal selbst versuchen.

    "Legen Sie den Daumen vorne auf die Spitze des Messers. Schauen Sie, wie ich es mache: Ich steche hinein, und jetzt bewegt sich nur noch die Auster. Dann trenne ich den Muskel durch
    Es regt mich auf, dass ich das nicht schaffe. Also da, da ungefähr muss ich stechen? Bewegen Sie jetzt die Auster um das Messer herum.
    (Ah! Ah!) Und jetzt?
    Jetzt schieben Sie die Klinge weiter hinein um den Muskel durchzutrennen.
    (Houlala! Ah!) Und jetzt? Hineinschauen?
    Genau. Jetzt schneiden Sie den Rest auf.
    Muss ich die Schale hochziehen?
    Das ist doch keine Sardinenbüchse!
    Ist es so gut?
    Prima, nicht mal ein Splitter von der Schale liegt in der Auster.
    Dafür habe ich ja ziemlich lange gebraucht. Vielen Dank, Monsieur!"

    Austern sind nicht jedermanns Sache. Nicht nur beim fachmännischen Öffnen der Muschel scheiden sich die Geister, sondern auch beim Geschmack. So mancher ekelt sich sogar davor ein lebendiges Schalentier zu essen. Der Schriftsteller Ludwig Harig schildert das in seiner Erzählung "Bretonische Austern":

    Die Tafel war üppig bestückt: Auf ausladenden Platten aus Porzellan türmten sich die grässlichen Untiere aus dem Meer, Gliederfüßler und Mollusken der sonderbarsten Ordnungen und Arten: Hummer und Krebse, Strandkrabben und Meerschnecken, Muscheln und Garnelen, teils gesotten und gegrillt, teils in Stücke und Scheiben und Gliedmaßen zertrennt. Doch auch die lebendige Auster war allgegenwärtig. Von jeder Platte schimmerten die blättrigen, schilffrigen Schalen, in denen die Tiere mit ihren Füßen angewachsen sind. Frau von Roselius hatte zwar schon Krebse und Muscheln, einmal auch einen Hummer verspeist, doch nie zuvor war eine Auster über ihre Lippen gekommen, denn sie fürchtete sich davor, ein lebendiges Tier zwischen die Zähne zu nehmen. Die Austern sei eine nachgiebige Kreatur in jeder Hinsicht, meinte Yannik Trégonec, ein junger Mann, der offenbar zur Gesellschaft der Mainguys gehörte, und er fügte hinzu: "Wenn erst einmal Deckel und Schüssel mittels eines zwischen diesen Schalen eingebrachten Spatels auseinandergebrochen sind, leistet das Tier keinen Widerstand mehr, und die schleimige Leibesmasse lässt sich mühelos mit der Austerngabel ausheben."Nur wer je in seinem Leben einmal den Querschnitt einer Auster im Lehrbuch der Tierkunde studiert und sich die Form und Lage ihres Körperinneren eingeprägt hat, begreift den würgenden Ekel, den hin und wieder einen in der Zoologie bewanderten Austernesser befällt, Fuß und Mantel, Mund und Kiemen, Magen, Herz und Eingeweide, Schließmuskel samt Scharnier und Tastfäden sowie Leber und Anus in einem Bissen zu schlucken.

    Zwischen La Rochelle und Bordeaux an der Atlantikküste, liegt die Bucht von Marennes mit der Insel Oléron. – Es ist das größte und älteste Austernzuchtgebiet Frankreichs. Schon in der Antike wurden hier Austern gegessen. Ein Römer namens Sergius Orata, soll vor 2000 Jahren als erster versucht haben Austern zu züchten. Es muss sehr aufwendig gewesen sein, sie mit Pferdegespannen nach Rom zu bringen, wo sie sich bei Hofe zunehmender Beliebtheit erfreuten.

    Heute versorgt Frankreichs Küste längst nicht mehr nur die Reichen und Mächtigen. Dafür sorgte Kaiser Napoleon III., der Mitte des 19. Jahrhunderts die Anbautechniken revolutionieren ließ.

    "Eine gute Auster muss oval sein" - Der Züchter

    "So kreist das Blut in den Fingern und sie wärmen sich schnell wieder auf."

    Fredi Normandin steht bis zu den Waden im Wasser. Hüfthohe Gummistiefel, ein gelber Ölmantel und orangeleuchtende Gummihandschuhe schützen ihn nur vor der Nässe. Die Kälte hält das Gummizeug nicht ab. Sie dringt in den Körper ein, erzeugt Gliederreißen. Der Austernzüchter breitet die Arme aus, schlägt sich mit den Händen schwungvoll auf die Oberschenkel.

    Es ist dunkel, der Wind pfeift über die Ile d´Oléron und wühlt das Meer auf. Nur wenige Kilometer Wasser trennen die Insel vom Kontinent. Dort verfärbt sich langsam der Horizont. Der Morgen graut, verdrängt die Nacht und wirft metallisches Licht auf eine gespenstische Landschaft: Im Wasser stecken magere Baumstämme, ihre krummen Äste ragen in den Himmel. Wie verkrüppelte Finger weisen sie dem Austernzüchter auf seinem flachen Frachtkahn den Weg, wenn die Flut die Austernbänke bedeckt. Jetzt ist Ebbe.

    Der Ponton ist gestrandet und das Meer hat die verrosteten Metallstangen freigegeben. In langen schmalen Bahnen ziehen sie sich durchs Watt. Immer zwei stecken nebeneinander im Schlick, dann kommt ein Flur. Bei Flut ist das die Wasserstraße. An den Stangen wuchern die Muscheln in bizarren Büscheln, wie versteinerte Kakteen oder verschlammte Korallenriffe. Normandin hat sie im Sommer geködert. Das Auffangen der Jungaustern ist seine Spezialität.

    "Wir setzen die Kollektoren im August aus. In diesem Sommer waren die Larven leicht zu sehen, sobald man im Wasser stand: sie trieben überall, so viele gab es. Letztes Jahr hingegen musste man richtig nach ihnen suchen. Nichts ist regelmäßig in diesem Beruf, das ist das Verrückte daran: man weiß nie, was kommt."

    Die Bucht von Marennes-Oléron ist die eine Babystube der europäischen Austern. Die andere liegt weiter südlich, in der Bucht von Arcachon. Nur in diesen beiden Meeresbecken kann sich die "huître creuse" - die Hohlauster - natürlich fortpflanzen: weil hier das Wasser jeden Sommer über 20 Grad warm wird. Und weil hier Flüsse münden, deren Süßwasser den Salzgehalt des Meeres mindert.

    Eine erwachsene Auster stößt im Sommer ein bis zwei Millionen Fortpflanzungszellen aus, sagt Fredi Normandin. Daraus entwickeln sich zigtausend Schwimmlarven. Nach zwei Wochen verwandeln sie sich in winzige Muscheln. Stecknadelköpfe, die einen festen Untergrund suchen, an den sie ihre Schale kleben können. Das ist der Augenblick, in dem Fredi Normandin seine Kollektoren aufpflanzt: rostige Eisenstäbe, wie man sie überall auf Baustellen sieht.

    "Dieses Jahr ist außergewöhnlich, da haben zu viele kleine Austern angesetzt, ganz eng sitzen sie auf den Stäben. Sie haben sich so enorm vermehrt, dass jetzt eine Jungauster auf der anderen klebt, in mehreren Schichten. Vielleicht werden nur Streichhölzer draus, nichts Schönes also…"

    Eine gute Auster muss oval sein, mit einer deutlichen Rundung gegenüber dem Muskel. Ist sie anders geformt, bringt sie dem Züchter weniger Geld.
    Fredi Normandin nimmt seinen Rechen und fährt unter die Austernbänke. Er harkt den Schlick flach, so wie es ihm sein Vater und sein Großvater vorgemacht haben. Ursprünglich hat er Automechaniker gelernt. Aber wenn man in einer Familie von Austernzüchtern geboren wurde, und wenn die Familie gute Pachtgründe besitzt, meint er,- dann steht man früher oder später unvermeidlich mit Gummihosen im Wasser.

    Normandin ist erst 45 Jahre alt. Aber mit dem vom Wetter gegerbten Gesicht und dem leicht gekrümmten Rücken sieht er mindestens zehn Jahre älter aus. Während er durchs Wasser stakt, stehen sein Vater und seine Frau in der alten Holz-Hütte am Kanal und klopfen die Austern ab, die er am Vortag geerntet hat.

    "Im April, wenn die Austern ein dreiviertel Jahr alt sind, legen wir die Kollektoren mit den jungen Austern vom letzten Sommer auf diese Tische, eine Stange hier, eine dort - dabei lassen wir je einen Handspalt Platz, damit sie wachsen können. Bei denen hier passt natürlich keine Hand mehr
    durch, weil sie schon gewachsen sind."

    Auf dieser Stange würde die Auster nun ihr ganzes Leben zubringen - ließe der Züchter sie in Ruhe. Aber Normandin legt die Armierungseisen mit den größeren Austern auf den Kahn. Ein leichter Schlag - und die Tiere purzeln herunter, wie reife Früchte von einem Baum. Denn eine Auster, die eines Tages im Restaurant serviert werden soll, muss das Weidegebiet wechseln, sagt Normandin. Sie wird in Plastiktaschen gesteckt und dann in Zonen gebracht, wo das Meer besonders nahrhaft ist. Nur dann wächst und gedeiht sie so, wie es die Feinschmecker erwarten.
    Die Schalentiere türmen sich auf der Ladefläche, sie erinnern an Kohlehaufen auf einem Flussdampfer. Langsam steigt das Wasser zwischen den Austerntischen, hebt den silbernen Alu-Kahn mit seiner Fracht empor. Fredi Normandin wirft den Motor an und schippert hinaus aufs offene Meer.

    In Frankreich verstehen sie das Ding besser: Aus guten Gründen hatte Herr von Mainguy diesen jungen Mann eingeladen, ohne dessen Hilfe Frau von Roselius nicht dazu gekommen wäre, ihren ersten Austerngenuss so tief und erlebnisreich auszukosten - und ich nicht , diese Geschichte zustande zu bringen. Er war nicht wesentlich älter als Frau von Roselius, kaum mehr als dreißig, sah gut aus, hatte kupferrote Haare, einen bretonischen Breitschädel und hieß Yannik mit Vornamen. Seine Füße waren etwas zu groß. Doch das fiel überhaupt nicht ins Gewicht, weil sie bei Tisch unter der Platte mit dem großen Damasttuch völlig verschwanden, und draußen auf der Terrasse, wenn er zum Tee kam und mit Frau von Roselius ins Plaudern geriet, rollte er seine hellblauen Augen und modellierte seine vollen Lippen, so dass Frau von Roselius ihm unverwandt ins Gesicht starrte und dabei seine Füße gänzlich vergaß. Als sie in den darauffolgenden Tagen zusammen ihre ausgedehnten Strandspaziergänge und Ausflüge in die nähere Umgebung unternahmen, schaute Frau von Roselius nur noch auf seinen Mund, der ständig in Bewegung war und mit dem er geschickt vom Misswuchs seiner Füße abzulenken verstand. Yannik Trégonec war in jeder Beziehung ein Volltreffer: Herr von Mainguy hatte, als er ihn gleich schon am ersten Abend zum Essen einlud und neben Frau von Roselius platzierte, zwei Fliegen mit einer Klappe geschlagen.

    Austernzucht ist Familiensache. Auch bei Jean-Marc Chailloleau auf der Ile d´Olérons. Schon sein Vater, sein Großvater und die ganze Ahnenreihe haben Austern mit Hingabe gezüchtet, sagt Chailloleau, so dass sich der Beruf sogar im Familiennamen Chailloleau niedergeschlagen hat. Denn sein Name ist Mundart und bedeutet "Cailloux de l´eau", Stein aus dem Wasser.

    Seine Ernte vermarktet Jean-Marc Chaillleau selbst. Jede Woche fährt er nach Paris, wo er seine Austern auf einem Markt verkauft. Doch die Arbeit mit den lebenden "Steinen aus dem Wasser" allein reicht ihm nicht aus. Chailloleau will auch die Kultur der Austernzüchter vermitteln. Deshalb singt und dichtet er.

    "Die Kultur gehört dazu" - Der Austernverkäufer

    Auf dem Platz der Bastille ist ein Podium aufgebaut. Zwei Männer stehen auf der Bühne und singen. Sie passen gar nicht auf diesen Platz mit dem großen Opernhaus, tragen sie doch braune Anglerhosen und gelbe Seemannshemden.

    Der eine, Bilout, züchtet Austern und komponiert, der andere, Chailloleau, verfeinert die reifen Austern, verkauft sie - und schreibt Liedtexte. Darin beschreibt er die Welt der Austernzüchter.

    "Unser nächstes Lied handelt von den Gezeiten. Wir Austernzüchter arbeiten nicht nach der Uhr, wir haben keine 35-Stunden-Woche. Wir richten uns nach Ebbe und Flut. Eine kleine Ebbe nennen wir 'le Mordeau' - das tote Wasser - und eine besonders große Ebbe heißt bei uns: 'la
    Maligne' - die Gerissene. Ohne die große Ebbe sind wir nichts, sie ist unsere Droge, unser Heroin, sie ermöglicht unsere Arbeit. Wenn die 'Maline' kommt und die Austernparks freilegt, dann steigen wir alle auf unsere Kähne, unsere Pontons, und schwärmen aus, aufs Meer."

    Der Kampf gegen den Schlick, der Nebel, die Stürme, die Arbeit der Frauen, die die Austern abklopfen, und der Dialekt der Austernzüchter sind Themen der Lieder und Sketche. Eine Welt, die es so nicht mehr lange geben wird, sagt Chailloleau:

    "Mit der familiären Austernzucht geht es zu Ende. Ich mochte es, wie wir früher gearbeitet haben. Es war zwar hart, aber die Stimmung war gesellig. Ich mag die bunt gestrichenen Holzhütten, in denen wir die Austern bearbeitet haben - heute verfallen sie. Früher wurden die Austern per Handschlag verkauft. Bei Ebbe haben wir uns alle gegenseitig geholfen.
    Heute ist es schwer, in diesem Beruf zu überleben. Deshalb arbeitet jeder für sich und sieht zu, wie er über die Runden kommt. Die Austernzucht entwickelt sich zu einem Tauschgeschäft zwischen den verschiedenen Meeresbecken. Bretagne, Normandie, Marennes-Oleron, Arcachan, Etang de Thau... Die Austern werden von einer Gegend in die andere verfrachtet, damit sie schneller wachsen. Weil die Menschen Geld verdienen wollen."

    Zurück nach Hause, auf die Insel von Oléron. Da wo Chailloleau noch fast so wie früher arbeitet. Ein Weg aus gestampfter weißer Erde schlängelt sich durch graugrüne Wiesen, führt an einem schlammigen Kanal vorbei, umrundet eckige Wassertümpel. Das sind die "Claire", ehemaligen Salinen, die vom Meer und vom Regen gespeist werden. Die Claires sind überall. Wie überschwemmte Felder umzingeln sie die Hütte des Austernzüchters. Chailloleau hat sich auf die letzte Phase bei der Aufzucht spezialisiert. Er kauft Austern, die sein Bruder, der Cousin und der Nachbar in den Austernparks rund um die Insel aufgefangen und drei bis vier Jahre lang aufgezogen haben.

    "Hier haben wir ein Meer, das außergewöhnliche Austern hervorbringt. Ich bin froh, dass ich hier lebe, in dieser Landschaft. Deshalb habe ich Lust, Austern zu verkaufen, die wirklich von hier sind, und die Kultur, die dazu gehört."

    Chailloleau verfeinert die graubraunen Muscheln in seinen "Claires". Denn mit der Auster ist es wie mit dem Wein, sagt er: Die letzten Handgriffe entscheiden über ihren Geschmack. Das Wasser der künstlichen Weiher dämpft den Meeresgeschmack und färbt ihre Kiemen manchmal kräftig grün. Dank einer mysteriösen blauen Alge, die im Wasser der Claire auftaucht und plötzlich wieder verschwindet - kein Mensch weiß, warum.

    Jede Woche wäscht, sortiert und verpackt der Züchter mindestens zwei Tonnen Austern aus seinen Claires. Dann geht er mit ihnen auf die Reise: freitags im Morgengrauen verlässt er Oléron und fährt nach Paris, 600 Kilometer weit Richtung Nordosten. Da baut er dann seinen Stand auf - vor ihm ein großer Verkehrskreisel, im Rücken eine Buchhandlung – und verkauft: 2000 Spankörbe mit je einem Dutzend Austern.

    "La Belle d´Oléron" hat er seine Muschel getauft, "die Schöne von Oleron". Seit 25 Jahren pendelt er zwischen der Insel und der Metropole. Denn ohne Direktverkauf kann er von seinen Austern nicht leben. Zwischen Poitiers und Tours, wenn ihm die Fahrt so richtig auf die Nerven geht, denkt er sich neue Lieder aus. Ob er seinen Beruf mag?

    "Das hängt ganz vom Augenblick ab. Wenn ich im Wasser arbeite, unter schwierigen Bedingungen, wenn es kalt ist, das Kreuz schmerzt und die Austern in die Hände schneiden... dann denke ich, es ist nur ein Haufen Steine, verdammt, es ist keine leichte Arbeit. Aber wenn ich sie dann in Paris auf meinem Stand ausbreite und sehe, wie begeistert die Leute sind –
    dann sage ich mir: die ganze Mühe lohnt sich doch."

    Sie saß vor der Austernschüssel, zum Glück ohne zoologische Kenntnisse, ihre Hand zitterte zwar ein bisschen, als sie die kurzgezinkte Gabel unter den Leib des Tieres schob, sie zögerte, zog die Gabel wieder zurück und schluckte ein paar Mal, ohne etwas im Mund zu haben. Doch im rechten Augenblick stand Yannik Trégonec ihr bei. Er führte ihre Hand. Während Frau von Mainguy mit Haken und Spießen in Schneckenhäusern wühlte und Herr von Mainguy sich mit dem Nussknacker an einer Hummerschere zu schaffen machte, träufelte Yannik Trégonec einen Spritzer Zitronensaft auf die Auster, die vor Frau von Roselius im Teller lag, die Auster zuckte zusammen, der wackere Bretone führte Frau von Roselius’ Hand, die die Gabel hielt, mit aller Ruhe und Sorgfalt des Kenners, und so geschah es: Frau von Roselius beförderte das Tier über die Lippen und spürte im gleichen Augenblick das weiche Ligament wie eine zweite Zunge in ihrem Mund.

    Sorglose, glückliche Frau von Roselius, sie aß und genoss, nein, sie war von keiner zoologischen Verderbtheit beschwert! Unbekümmert, von ihrem Tischherrn im Handhaben der Bestecke unterwiesen und ermuntert zu Abenteuer und Lustbarkeit der extravaganten Art, verzehrte sie das halbe Dutzend Austern von ihrem Teller und empfand sie, als wären es Küsse von Yannik Trégonec - während ich auf meiner befangenen Zunge einen Klumpen salzigen Rotzes spürte.


    Austern sind ein Naturprodukt und ein Luxusartikel, wie Wein oder Cognac. Deshalb ziehen sie nicht nur seriöse Kunden an. Vor allem im Winter, wenn die Produktion auf Hochtouren läuft, müssen die leicht zugänglichen Austernbänke vor Dieben geschützt werden. Da gibt es Urlauber und Anwohner, die sich ein kostenloses Abendessen besorgen wollen. Wirklichen Schaden richten jedoch vor allem unehrliche Kollegen an. Ein Fachmann kann in wenigen Minuten beim Nachbarn ein oder zwei Tonnen Austern stehlen. Um Diebe abzuschrecken, schickt die Gendarmerie ihre Beamten nachts in den Austernzuchtgebieten auf Streife.

    "Diese Austern sind wie Gold" - Die Austerndiebjäger

    Ein Mal mehr verbringt Gendarm Abillioux die Nacht auf den schmalen Straßen zwischen Marennes und La Tremblade. Der 50-Jährige mit dem schwarzen Borstenschnitt und dem buschigen Schnauzer kurvt an rechteckigen Wassertümpeln und schlammigen Kanälen vorbei. Am Steuer sitzt ein junger Kollege, genau wie er in schwarzem Nylon-Blouson, dunkelblauer Hose und Springerstiefeln. Das ist die Uniform der Gendarmen. Eine große Taschenlampe und das Blaulicht liegen griffbereit auf der Ablage. Auf dem Rücksitz steht eine Thermoskanne mit starkem Kaffee. Denn die Schicht dauert lang: an diesem Freitag gehen die Beamten bis sechs Uhr früh auf Patrouille.

    Die Scheinwerfer huschen über eine blau gestrichene Holzhütte, erfassen einen Industriebau mit hellen Metallwänden. Davor parkt ein Auto. Ein Hund schlägt an. Die Autotür geht auf, ein junger Mann in Daunenjacke und Jeans steigt aus. Er ist zur Wache hier. Gérard Abillioux bremst und kurbelt die Fensterscheibe herunter.

    "Guten Abend, Gendarmerie von Rochefort. Wie geht’s? Seit wann sind Sie da? Seit 22 Uhr? Kein verdächtiges Auto gesehen?
    Nein. Ein Fahrzeug ist hier mal im Schritttempo vorbeigefahren, aber sobald mich der Fahrer gesehen hat, hat er Gas gegeben.
    -Wie lange bleiben Sie? Bis halb vier? Und danach? Beginnen die hier so früh mit der Arbeit?
    -Das ist eine Firma, die zeitig anfängt. Die produzieren große Mengen Austern. Die gefährlichste Zeit ist zwischen zwei und drei Uhr nachts."

    Jeden Winter, wenn die Austernzüchter Hochbetrieb haben, verschwinden in den Zuchtgebieten Tausende von Muscheln. Diebe haben hier leichtes Spiel. Denn die Austernbänke im Meer liegen bei jeder großen Ebbe frei. Die Claires, in denen sich die Austern aus Marennes-Oleron grünlich färben und ihren süß-salzigen Geschmack annehmen, ziehen sich wie Felder aus Wasser zu beiden Seiten der Straße hin. Zäune gibt es nicht. Besonders gefährdet sind die Austern in den Reinigungsbecken, wie sie neben jedem Betrieb zu finden sind. Deshalb, sagt der Wächter, sind ihm alle Autos verdächtig, die hier in der Nacht zirkulierten.

    "Die Austern in den Wasserbecken, die kann man morgen früh so wie sie sind verkaufen. Die sind ganz sauber. Das Becken aus Beton ist nicht tief - da kann ein Dieb in einer halben Stunden leicht zwei Tonnen Austern rausholen. Ich stamme von hier. Mein Onkel ist Austernzüchter. Ich weiß, wie die Diebe das anstellen. Diese Austern sind wie Gold. Ein Kilo Austern kostet 40 Francs, das sind über sechs Euro. Zwei Tonnen, das sind also mehr als 12.000 Euro. Das ist auf einen Schlag eine Menge Geld."

    Die Gendarmen setzen die Patrouille fort. Es ist vollkommen dunkel. Regenwolken verhängen den Himmel. In einer solchen Nacht wurden auf der Ile d´Oleron vor zwei Jahren zehn Tonnen Austern gestohlen. Der Täter war - wie in den meisten Fällen - selbst Austernzüchter. Ein junger Mann in Geldsorgen. Er wurde von einem Kollegen erwischt, der seine Plastiksäcke wieder erkannte. Der Dieb ertrug die Schande nicht. Nach der Freilassung aus der Polizeihaft verübte er Selbstmord. Ein Drama, wie es unter Austernzüchtern immer wieder vorkommt.

    In diesem Winter haben viele Austernzüchter erstmals private Wachdienste engagiert. Und die Gendarmerie hat die Patrouillen verstärkt. Doch Gendarm Abillioux stammt aus der Bretagne. Die Zuchtgebiete mit ihren verzweigten Kanälen und den unzähligen Wasserbecken sind für ihn ein verwirrender Irrgarten.

    "Die Kerle sind hier zuhause, sie kennen alle kleinen Wege. Außerdem das Austernzuchtgebiet extrem weitläufig. Es gibt viele Sackgassen - so wie hier. Hervé, dreh um! - Die Austernzüchter wissen natürlich bestens Bescheid. Deshalb stellen wir unser Auto oft bei der Einfahrt zu einem Austernpark an einer verborgenen Stelle ab und kontrollieren alle Fahrzeuge, die vorbeikommen. - Fahr nicht weiter, da kommen wir schon wieder in eine Sackgasse."

    Das Auto rollt jetzt über einen Steg. Darunter verläuft eine Wasser-Rinne zum Meer. Holzpfähle befestigen das erdige Ufer. An den Pflöcken sind auch die Kähne festgemacht. Den Motor haben die Austernzüchter aus dem Wasser gezogen. In diesem Winter wurden erstmals Schiffsmotoren gestohlen. Allein im Becken von Marennes-Oleron verschwanden über 300 Motoren von Austernzüchtern. Ersten Ermittlungen zufolge ist eine organisierte Bande aus Osteuropa am Werk. Für die Austernzüchter ist der Verlust eines Motors ein besonders schwerer Schlag.

    "Viele Austernzüchter legen sich deshalb nachts selbst auf die Lauer. Wenn ein verdächtiges Auto vorbeifährt, schreiben sie die Nummer auf und rufen die Gendarmerie an. Sie verstecken sich in ihren Hütten oder auf ihren Schiffen. Da warten sie, ob etwas passiert."

    Die Teller meiner Tischgenossen verunzierten furchteinflößende Bestien wie schleimige Kraken und warzige Polypen, ich sah Asseln und Spulwürmer anstelle von Krabben und Garnelen, mir schauderte, und ich fragte mich in einem Anflug von Angst: Ist eine Reise in die Bretagne, nur dass ich über Frau von Roselius’ Austerneuphorie schreiben kann, nicht ein reichlich übertriebenes Unternehmen, womöglich ein Risiko für mein Leben? Denn wer bürgt mir dafür, dass nicht eines dieser Tiere durch eine rätselhafte Zersetzung in seinem Leibe jenes hässliche Krampfgift hervorbringen wird, das meinen Hals zuschnüren, mich schwindeln und taumeln und in ein Fieber stürzen lässt, aus dem ich vielleicht nicht mehr erwachen werde? Abscheuliche Nesselausschläge, beängstigende Atemlähmungen werden mein Leben bedrohen - wenn nicht, muss ich dennoch, wie Thomas Mann es für seine Beschreibung von Hannos Typhus in "Buddenbrooks" getan hat, Sanitätsrat Bergmanns "Praktischen Hausschatz der Heilkunde" zu Rate ziehen. Ich muss mir schließlich ein Bild davon machen, wie scheußlich es auch Frau von Roselius hätte ergehen können, wenn sie an eine vergiftete Auster geraten wäre! Und endlich: Damit niemand denkt, ich hätte diese Austerngeschichte zu meinem eigenen Vergnügen oder gar zu ihrer Unterhaltung erfunden, muss ich auf die Postkarte hinweisen, die Frau von Roselius nach Sulzbach geschrieben hat. darin soll es wortwörtlich heißen: Ein junger Herr hat mich das Austernessen gelehrt.

    Es ist kalt in diesen Tagen in Paris. Der Wind pfeift über das Marsfeld. Die vergoldete Kuppel des Invaliden-Doms glänzt im Licht. Am Rand der prächtigen Esplanade liegt ein kleines, unauffälliges des Meeres Restaurant. Es heißt "Le Divellec", so wie sein Koch und Besitzer, und verspricht "La cuisine de la mer". Der "Michelin" hat die "Küche" mit zwei Sternen ausgezeichnet. Nicht nur Feinschmeckern, auch Staatsmännern ist die Adresse bestens bekannt. Der Chef - Jacques Le Divellec - hat bereits fünf französische Präsidenten bewirtet. In diesem Winter hat er seine Austern-Rezepte in einem Kochbuch veröffentlicht.

    "Rohe Austern sind das wahre Glück" - Der Koch

    Nur der Name ist dezent in Blau auf die Brusttasche gestickt: Le Divellec. Der Chefkoch knöpft den zweireihigen weißen Kittel bis zum Stehkragen zu und steigt hinab in die Küche. Eine enge Treppe führt nach unten. Der große alte Mann durchquert eine erste Küche, noch ein paar Stufen, dann kommt die zweite Küche. In diesem Kellerraum kreiert er seine berühmten Gerichte: Austern-Gaspacho, Austern in Spinatblättern, Austern am Spieß mit Salatherzen, gedünstete Austern in Algensoße... Warme Austern haben in Frankreich eine lange Tradition.

    "Ludwig XIV. ließ seine Austern aus Dieppe kommen. Sie wurden mit Pferdewagen nach Versailles transportiert. Das brauchte natürlich eine gewisse Zeit. Wenn sie am Hof ankamen, lebten die Austern zwar noch, aber aufgrund der Transportbedingungen war die Qualität nicht immer die Beste. Deshalb mussten sie gekocht werden. Die Zubereitung war sehr einfach. Sie wurden gedünstet, auf dem Feuer gekocht oder in Lehmöfen gebacken. Damals zögerte man, die Austern roh zu essen."

    In dem lang gestreckten schmalen Raum drängen sich zwölf Köche um Herdplatten, Öfen und Anrichten aus Edelstahl. Sie schnipseln, rühren, kneten. Aus den Töpfen steigt Dampf. Zwei kleine Ventilatoren kämpfen gegen die drückende Hitze. Der ewige Dunst hat die Deckenfarbe vergilbt, einzelne Kacheln sind von den Wänden gesprungen. Der Austernöffner bringt dem Chef ein halbes Dutzend Austern.

    "Um sie zu kochen, muss man Austern auswählen, die das auch vertragen. Also große Austern, mindestens Nummer 2, sonst schrumpfen sie zusammen. Sie müssen komplett aus der Schale gelöst sein, denn ich brauche jedes Teil: den Mantel und das Innere, den Magen, den Darm... alles. Das Messer darf die Auster aber nicht töten."
    Das Töten der Mollusken erledigt dann die Kochhitze. Le Divellec legt die ausgelösten Tiere in eine Schale. Dann gießt er ein Konzentrat aus Muschelresten in den Kochtopf, lässt den Fumet einkochen, greift mit der bloßen Hand in einen Buttertopf, fügt drei Klumpen Fett hinzu. Zum Schluss bröselt er dunkelgrünes Algenpüree in die Soße.

    "Die Algen unterstreichen den eigentlichen Geschmack der Auster, sie überdecken ihn nicht. Jetzt beträufle ich die Austern mit der Buttersoße, dann stelle ich das Ganze bei Oberhitze in den Backofen. Aber nur solange, bis es einen goldenen Film bekommt. Denn was ich eine gekochte Auster nenne, ist nicht wirklich gekocht. Zu viel Hitze würde den Geschmack mindern und die Mineralsalze vernichten und alles Übrige, was gesund ist. Bei meinen Rezepten wird die Auster nur leicht gegart. Sonst verwandelt man sie in Pappe, völlig uninteressant. Man muss die Auster respektieren!"

    Das "Le Divellec" ist eines der wenigen Restaurants in Frankreich, das gekochte Austern auf der Speisekarte führt. Das mag daran liegen, dass die warmen Happen ziemlich teuer sind. Monsieur Le Divellec nimmt einen Löffel, kostet und nickt zufrieden. Der 71jährige isst täglich Austern. Es sind besonders eiweißreiche Muscheln - vielleicht hat er deshalb so viel Energie. Aber am liebsten verzehrt er sie so, wie sie aus dem Meer kommen.

    "Ich mag sie natürlich natur. Als ich zwei Jahre alt war, lebte ich mit meinen Eltern in einem kleinen Fischer-Ort gegenüber der Ile de Ré. Da aßen wir schon zum Frühstück Austern. Wir haben sie auch bei unseren Ausflügen auf die Felsen als Picknick mitgenommen, mit frischem Brot und salziger Butter. Rohe Austern sind für mich das wahre Glück."

    Die Franzosen sind, mit 150.000 Tonnen im Jahr, nicht nur die größten Austernproduzenten in Europa, sie sind auch die größten Austernesser. 55 Prozent aller Franzosen mögen Austern, denn Austern haben viele Vorteile: sie sind gesund, sie machen nicht dick, aber auch nicht satt - sind von daher ein teures Vergnügen. Wer Austern isst, hat noch Appetit auf Hauptspeise und Dessert.

    Bei Ludwig XIV. gab es die eiweißreiche Meeresfrucht oft schon zum Frühstück. Napoleon Bonaparte glaubte, sie mache ihn unbesiegbar. Vor jeder Schlacht verschlang er mehrere Dutzend von ihnen. Und spätestens seit Casanova gilt die Auster auch noch als aphrodisierend. Der Frauenheld erfand den Kuss mit der Auster: Seiner Geliebten naschte er die Auster mit der eigenen Zunge aus dem Mund.

    Aus welchem Grund auch immer – die Franzosen tun es ihren Potentaten nach. Wenigstens an großen Festen wollen sie im Luxus schwelgen wie einst der Sonnenkönig in Versailles.

    "Sie erinnern an das Meer und an die Natur" - Die Konsumenten

    Zu Füßen von Montmartre liegt das Restaurant Wepler. Eine alte, traditionsreiche Pariser Brasserie: Große Fensterscheiben, weinrote Markise, goldfarbene Schrift: Huitrière, Austernbank, ist darauf zu lesen.

    Wie einst Picasso und Modigliani sitzen die Gäste unter ballonrunden goldgefassten Lüstern im Art Déco-Stil, knabbern graue Crevetten, und erwarten das zweistöckige runde Silbertablett, auf dem die Kellner die Meeresfrüchte servieren.

    An einem fein gedeckten Tisch sitzen Jean-Jacques, seine Frau Dominique, ihre Mütter -Lucienne und Geneviève- und die Freundin Anette. Die Fünf haben je ein Dutzend Austern als Vorspeise bestellt.

    "Ich kaue sie."

    "Nein, ich kaue sie nicht, ich schlürfe sie. Ist mir lieber. Das Tier ist so klein, da braucht man nicht zu kauen."

    "Schlürfen ist ungesund. Ganz ganz ungesund. Weil die Auster lebt. Wenn man sie nicht kaut, klebt sie sich auf die Magenwände. Das ist schwer verdaulich. Ganz schlecht! Man muss unbedingt kauen. Reinbeißen."

    Die Herrschaften an dem kleinen Tisch sind richtige Austernliebhaber. Einmal pro Woche gehen sie ins Restaurant, um zu schlemmen. Und Austern gehören immer dazu. Das sind sie so gewohnt. Schon als Kinder haben sie Austern gegessen, vor allem in den Ferien an den französischen Küsten. Dass sie mit der Auster ein lebendes Tier in den Mund nehmen, ist ihnen kaum bewusst.

    "Die Auster ist ein besonders vollwertiges Nahrungsmittel. Sie enthält viele Vitamine und
    Mineralsalze, und ist diätetisch, weil sie nur wenig Kalorien besitzt. Sie muss lebendig sein. Wenn man Vinaigrette oder Zitrone hineingießt, kommt es vor, dass sie zusammenzuckt. Das habe ich allerdings noch nie beobachtet. Da denke ich lieber nicht dran. Es ist unangenehm, sich vorzustellen, dass sie lebt. Nein, daran denken wir nicht. Sonst würden wir vielleicht keine mehr essen. Während der Saison essen wir jeden Sonntag Austern. Also ein halbes Jahr lang, von Oktober bis April. Im Sommer schmecken sie anders, weil es die Periode der Fortpflanzung ist. Da sind sie fett und nicht so appetitanregend, vom Anblick her und vom Geschmack."

    Jean-Jacques hält sich an die alte Regel mit dem R. Lange Zeit galten Austern in den Monaten ohne R als unbekömmlich. Doch seit es Kühlschränke gibt und gekühlte Lastwagen lassen sich Austern auch im Sommer gefahrlos verzehren.

    Im Restaurant Wepler werden die Muscheln daher das ganze Jahr über serviert. Allerdings schmecken sie im Sommer anders, sagt Albert: da sind sie milchig. Der Kellner im dunklen Zweireiher mit der schwarzen Fliege am weißen Hemd bedient seit 15 Jahren in der großen Austern-Brasserie, dem Restaurant, mit dem vielfältigsten Angebot an Austern, sagt er stolz. Doch selbst hier werden die wahren Kenner rar. Dabei versucht Albert, Stammgäste wie Jean-Jacques über die Unterschiede zwischen fetten, fleischigen und milchigen Austern aufzuklären. Mit geringem Erfolg. Die Esskultur der Gäste in Sachen Austern geht zurück, findet er.

    "Mir scheint, heute gibt es weniger Austernliebhaber als früher. Früher, da kamen die Leute speziell für die Austern ins Wepler. Heute essen sie nur ein paar Austern, und dann eine
    Hauptspeise. Wir haben eine riesige Auswahl, aber die meisten kennen die Unterschiede gar nicht.
    Früher hatten wir Gäste, die genau wussten, welche Austern sie wollten. Heute müssen wir sie
    fragen, ob sie mehr oder weniger fette Austern wollen, mehr oder weniger fleischige. Heute
    verwechseln doch alle eine milchige Auster mit einer fetten Auster. Obwohl das etwas ganz anderes ist!"

    Albert öffnet den Weißwein: einen Jurancon. Nicht zu verwechseln mit einem Wein aus dem Jura, betont er. Der Wein, den er zu Austern empfiehlt, kommt aus seiner Heimat, den Pyrenäen. Ein Tropfen, den bereits Heinrich IV. geschätzt hat.

    Die Gäste rücken zusammen, machen Platz für die Frucht aus dem Meer. Mit elegantem Schwung stellt Albert das silberne Tablett auf den kleinen Tisch mit der weißen Decke. Da liegt sie, geöffnet und auf Eis gebettet. Das "Ohr der Venus" - den zärtlichen Namen verlieh ihr der Schriftsteller Alexandre Dumas. Ein lebendes Tier mit einem schwarz geränderten Mantel, der einmal Perlmut absonderte, den fein gezeichneten Kiemen, die das Meer gefiltert haben, den empfindlichen Flimmerhärchen.

    Das Gespräch verstummt. Jean-Jacques und Annette nehmen je eine Auster in die Hand, trennen den Muskel von der Schale, legen das Weichtier auf die Gabel und verzehren es. Der eine schlürft, die andere beißt. Dann trinken beide den Saft aus der Schale.

    "Da haben wir drei Dutzend Fines de Claires Nummer 3 aus der Normandie, aus Saint Vaast.
    Heute riechen sie ja richtig nach Ebbe! Das ist das erste Mal, dass ich vor einem Tablett Austern die Ebbe rieche. Sonst strömen sie doch nicht so einen starken Geruch aus. Ich koste ... hervorragend!"

    "Ja, sie erinnern ans Meer, an die Natur. Das ist eine Muschel, die unmittelbar aus dem Meer
    kommt. Welch ein Genuss! Das Meer pur."

    Literatur: Ludwig Harig: Bretonische Austern, in: Das literarische Bankett, Diana Verlag /Wilhelme Heyne Verlag, München 1999