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Geo-Bäuerchen oder Weltraumbombe

Geologie. - Exakt am 30. Juni 1908 um 7:15 Uhr schoss eine Feuerkugel über Himmel, um über Sibirien zu explodieren und gewaltige Verheerungen anzurichten. Die Theorien über die Ursachen reichen von bruchgelandeten Aliens über Asteroideneinschlag bis zu undichten Ex-Vulkanen. Tunguska zieht Forscher aus aller Welt in seinen Bann.

Von Dagmar Röhrlich |
    "Das Einzige, was wir mit Sicherheit wissen, sind die Auswirkungen dieses Ereignisses auf den Wald von Tunguska."

    Denn die Explosion scheint nur zerstörte Bäume hinterlassen zu haben, erklärt der Kernphysiker und Tunguska-Spezialist Giuseppe Longo von der Universität Bologna. Der gängigen Meinung nach ist ein kosmischer Körper in großer Höhe explodiert.

    "Das Ereignis von Tunguska wird als Explosion eines Einschlagskörpers in etwa acht Kilometern Höhe über dem Boden beschrieben worden. Er soll beim Eintritt in die Erdatmosphäre zerborsten sein, als er auf dichtere Luftschichten traf. Seine Trümmer sollen zu nichts als heißer Luft verdampft sein."

    Das bezweifelt die Gruppe um Giuseppe Longo. Mit den Daten, die sie bei drei Expeditionen in die Taiga gesammelt haben, entwickelten sie eine eigene Hypothese. Danach handelte es sich nicht um einen einzigen Einschlagskörper. Vielmehr zerbrach er in der Atmosphäre, so wie der Komet Shoemaker-Levy 9, dessen Bruchstücke im Sommer 1994 in die Atmosphäre des Gasplaneten Jupiter rasten. Longos Version: Der kosmische Eindringling zerplatzte in der Erdatmosphäre, wobei das erste und größte Stück über dem Epizentrum zu Staub zerbarst. Dahinter flog ein kleineres Fragment, das durch die Wucht der Explosion abgebremst wurde. Es flog über das Epizentrum hinaus, um am Fluss Kimchu einzuschlagen: und zwar in einen Sumpf. Der verschluckte das Bruchstück: Es verschwand im Boden und zurück blieb ein Loch, das der Fluss mit Wasser füllte: Der Tscheko-See entstand.

    "Weil wir im seismischen Profil des Sees im Zentrum einen ungewöhnlichen Horizont sehen, glauben wir, dass der Tscheko-See der Krater des Tunguska-Ereignisses ist. Dieser Horizont wäre dann unser Einschlagskörper."

    Es gibt eine weitere neue Hypothese zu dem, was vor 100 Jahren passiert ist. Sie macht sich daran fest, dass Tunguska ein uralter Vulkan ist und russische Geologen hier Schockquarze gefunden haben wollen. Nicht solche, die von dem Ereignis vor 100 Jahren stammen, sondern 250 Millionen Jahre alte. Schockquarze gelten normalerweise als Indiz für einen Einschlag. Haben hier also im Abstand von 250 Millionen Jahren gleich zweimal Asteroiden ein- und dasselbe Gebiet getroffen? Oder ist der Vulkanismus das verbindende Element, wie Jason Phipps Morgan glaubt? Für den Geologen von der Cornell Universität in Ithaka, New York, hat sich in Tunguska ein so genannter Verne-Shot abgespielt:

    "Ich habe die Hypothese von den Verne-Shots entwickelt, einem besonderen vulkanischen Phänomen, das viel energiereicher wäre als alles, was die Menschheit kennt. Ein Verne-Shot entsteht, wenn sich unter einem starren Kontinent ultraheißes Gestein wie ein Schneidbrenner von der Grenze des Erdkerns zur Oberfläche frisst. Ein solcher Mantelplume stieg vor 250 Millionen Jahren unter Sibirien auf, und er schmolz mit seiner Hitze viel Gestein auf. Dabei entstand ein Magma mit so viel Kohlendioxid, dass es das gelöste Gas nicht halten konnte. Es sammelte sich in 80 Kilometern Tiefe in an, wodurch dort mit der Zeit der Druck ins Unermessliche stieg. Irgendwann gab die alte, starre Kontinentkruste nach und brach mit einem großen Knall."

    Der Überdruck sprengte eine schmale Röhre durch die Erdkruste, durch die das Gas ins Freie schoss. Kaum war es weg, schloss sich die Röhre wie ein Reißverschluss, Dabei prallten die Gesteine mit Überschallgeschwindigkeit aufeinander: Durch diese Wucht entstanden Schockquarze – ganz ohne Asteroideneinschlag. Das wäre der Verne-Shot. Falls an der Idee etwas dran ist, wäre der Verne-Shot von Tunguska vor 250 Millionen Jahren Teil der größten Vulkaneruption aller Zeiten, die damals in Sibirien ablief. Und die Ereignisse von 1908?

    Sie wären nicht mehr als ein Bäuerchen, bei dem vulkanische Gase die alte Schwächezone nutzten, so Jason Phipps Morgan. Er ist heute in Tunguska, um nach den Schockquarzen zu suchen, die seine Hypothese stützen könnten. Auch die Physiker aus Bologna hoffen, ihre Hypothese vom Tscheko-See als Krater zu beweisen. 2009 wollen sie 100 Meter tief in den See bohren – genau in den Einschlagskörper hinein, wenn er denn da ist.