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Georg Büchner und 529 Dresdner

In der "Woyzeck"-Inszenierung von Volker Lösch geht es um die theatralische Untersuchung von Ursprung, Gefährdung und Zukunft der Demokratie in Ostdeutschland. Es ist die Auseinandersetzung mit Zuständen, die zu Rechtsextremismus und Gewalt von Jugendlichen in Ostdeutschland führen.

Von Hartmut Krug |
    Aufgereiht vor dem Vorhang, gekleidet in alle Scheußlichkeiten unserer Freizeitmode, steht der aus Volker Löschs Inszenierungen der "Orestie" des Aischylos und von Gerhart Hauptmanns "Die "Weber" bekannte, etwa 30-köpfige Laienchor der Dresdner Bürger. Nacheinander gibt jeder der Chorbürger seine schwärmerische Heile-Welt-Liebeserklärung an Dresden ab. So erscheint die Stadt als Idylle, auch im Bühnenbild, das eine Schneekugel zeigt, in dem sich vor einem beschneiten Marienkirchen-Panorama Maries Wohnung mit Sofalandschaft zu einem Kleingarten öffnet, neben dem ein schickes Cabriolet steht und vor dem die Elbe als kleines Bühnenrinnsal fließt. Doch die Angst ist immer da: wie bei Büchner hören die Jungen das Pochen unter sich, und die Alten singen das Lied von den zwei Hasen im grünen Tal, worauf alle panisch zitternd ihre kleine, abgetrennte Welt putzen. Ordnung schaffen, seinen Ort behaupten, andere, anderes abwehren, auch darum geht es.

    Volker Löschs gemeinsam mit dem Dramaturgen Stefan Schnabel erarbeitete "Woyzeck"-Version spielt in Ostdeutschland. Auch wenn mehr als die Hälfte des Textes dieser Version neu ist und zu großen Teilen aus Befragungen von 529 Dresdner Bürgern über ihr Lebensgefühl stammt, bleibt die Grundstruktur von Büchners Stück erhalten. Untersucht werden Gewaltverhältnisse und das Entstehen von Gewalt. Wir sehen keine Skinheads auf der Bühne, keine Knobelbecher, keine geschorenen Schädel, sondern das "einfache Volk", getrieben in ein Freizeitleben. Weil man entweder keine Arbeit hat oder, um in der Arbeit zu bestehen, sich anpassen, verbiegen und von sich selbst absehen muss. Als Mensch ist man nichts wert, nur "Staub, Sand und Dreck". Das bedrückende Gefühl von Stagnation drückt sich in den durchaus widersprüchlichen Texten der Dresdner Bürger aus, und hinter allem steht Büchners Frage "Was ist der Mensch?".

    Was bei Büchner der Jahrmarktsbesuch, wird heute als gemeinsames Fernseh-Schauen erlebt. Wenn die Menschen auf der Bühne Sabine Christiansens letzte Sendung mit Horst Köhler als Gast erleben, fordern die Jungen gegen die ihnen als hohles Geschwätz erscheinende Rede des Bundespräsidenten "Liebe, Zuwendung, Solidarität, Gemeinschaft und Mitgefühl", worauf der Darsteller des Tambourmajors den Büchnerschen Budenbesitzer spielt und die viehische Vernunft innerhalb der Gruppe sucht und vorführt. Woyzeck lässt sich in die Aggression treiben, seine Wohnung zu zerstören, und der Tambourmajor eint die Jungen bei der "Anne-Frank"-Bücherverbrennung. Dabei fährt die heftige Musik der NPD-CD, die vor sächsischen Schulen verteilt wurde, den jungen Menschen auf der Bühne in die Glieder. Trotz vieler ideologischer Texte, die die immer kraftvolle Aufführung zuweilen etwas aufklärerisch didaktisch wirken lassen, ist sie von starker Körperlichkeit. Ihre Energie können die Jungen nur erleben und loswerden, indem sie sich in die Musik und die Erfahrung von Körperlichkeit werfen: ob beim Tanz, beim Wett-Trinken oder beim Sex. So beginnt der Liebesakt zwischen Marie und dem Major als ein aggressives Betanzen und Bespringen, und der anschließende Sex ist vor allem eine Krafterfahrung für die beiden.

    Wie sich hier die jungen Frauen und Männer gegenüber treten, das besitzt enorme Dynamik und sinnliche Kraft: die Männer, ein geiler, nackter Körperklumpen, vor dem sich nacheinander die jungen Frauen, die Brüste aggressiv entblößend, fordernd aufbauen. Zärtlichkeit gibt es auch zwischen Woyzeck und Marie nicht. Viktor Tremmel gibt die Titelfigur als einen bei aller Hilflosigkeit kräftigen Mann, während Marie von Minna Wündrich mit beeindruckender physischer Kraft ausgestattet wird, einer Kraft, die sie auch bei Kai Roloffs Tambourmajor sucht und findet. Was immer wieder gezeigt wird, sind Lebensgier und Ekstase, die sich bei der Musik in die enthemmte Körperlichkeit verliert.

    Die sprachliche Dynamik der Chöre und die starke Körperlichkeit des Spiels verleihen der pausenlosen, zweistündigen Inszenierung trotz kleiner Längen große Kraft und innere Spannung. Die über weite Strecken chorische Inszenierung zeigt nur Woyzeck, Marie und den Tambourmajor als Einzelpersonen, doch auch sie werden gelegentlich von wechselnden Chorgruppen gegeben. Es gibt Männer- und Frauenchöre sowie Chöre der Alten und der Jungen. Die Alten, die ihre Lebenserfahrungen in der DDR gemacht haben, sind für die Jungen weder Partner noch ernsthafte Gegner. "Arbeit, Woyzeck, Arbeit" ist ihre hilflose Parole, und Besänftigung ihre einzige Handlungsweise. Die Alten suchen, durchaus nicht nur unkritisch, Haltung und Halt in der Erinnerung an das Gute in der DDR. Sie singen beim gemeinsamen Picknick ihre alten Lieder, ohne den Jungen Werte vermitteln zu können. Wenn Woyzeck, durch den Major erst beim Kampftrinken als Mann gedemütigt, dann von ihm mit der Pistole im After penetriert und schließlich von der tobenden Gruppe vergewaltigt und all seiner Männlichkeit beraubt, Marie mit dem Messer durch die Menschenmenge treibt, reagiert diese wie bei der Hetzjagd im sächsischen Mügeln nicht.
    Büchners Frage "Was ist ein Mensch" wird zum Schluss bei offenem Saallicht mit einem originalen NPD-Text gestellt, und ein rechtes Lied erklingt dazu: "Wenn der Wind sich dreht."

    Ein drastischer, aber keineswegs platter Abend und ein inhaltlich wie theatralisch bemerkenswerter Versuch, den Nährboden der rechten Mitte der Gesellschaft erfahr- und sichtbar werden zu lassen.