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Georges Petit: Rückkehr nach Langenstein - Erfahrungen eines Deportierten

In Frankreich liegt eine fast nicht mehr überschaubare Bibliothek von Berichten ehemaliger Widerstandskämpfer und in die Konzentrationslager Deportierter vor. Viele von ihnen wurden in Schriftenreihen von Deportierten-Verbänden veröffentlicht, und man liest zwischen den Zeilen die Verbandsinteressen oft ein wenig mit. Ganz anders ist der jetzt im Verlag Edition Memoria auf Deutsch erschienene Bericht "Rückkehr nach Langenstein" ausgefallen. Sein , der heute 83-jährige Franzose Georges Petit, hat sich nach seiner Rückkehr aus dem Konzentrationslager von allen organisierten Aktivitäten ferngehalten und bis 1994 gewartet, bevor er zum ersten Mal seit Kriegsende den Ort seiner Leiden besuchte: Langenstein bei Halberstadt.

Von Lothar Baier |
    Lange hatte ich die Besuchsfahrten zu den ehemaligen Konzentrationslagern als fragwürdig betrachtet, und die Nostalgie der Opfer war für mich etwas, das sich von den Manipulatoren der Geschichte leicht ausbeuten ließ. Als ich damals aus dem KZ zurückkam, hatte ich nichts an mir vom Geist eines "alten Kämpfers", und zumindest in diesem Punkt teilte ich die Meinung meines Vaters, der ebenfalls ohne größeren Enthusiasmus von den Schlachtfeldern des 1. Weltkrieges zurückgekehrt war. Sein Hohn gegenüber den Weltkriegsveteranen, die an den Umzügen Ende der 30er Jahre teilnahmen, bestärkte mich noch in meiner Haltung, allen Appellen an das Nationalbewusstsein mit Misstrauen zu begegnen ...

    Petit sympathisierte mit den Sozialisten und bewunderte de Gaulle, der ihm aber zu nationalistisch war. Er beschreibt sich als links, als Anhänger der Volksfront, des republikanischen Spanien und als Gegner von Mussolini, Hitler und Laval. Er schloss sich den französischen Partisanen an, behielt aber sein Misstrauen gegen jedwede blinde Unterordnung und vor allem gegen jede Form des Nationalismus, auch nach dem Krieg.

    Im übrigen zeigte der Nationalismus schon sehr bald befremdliche Auswüchse. Mit Beginn des Kalten Krieges wurden die Organisationen der Deportierten, wie auch alle anderen nichtstaatlichen Einrichtungen, in die Auseinandersetzungen zwischen der UdSSR und den USA verstrickt.

    Georges Petit sah schon früh, in welche schwierige Lage aufrechte Kommunisten durch die Diktatur in der Sowjetunion gerieten.

    Da nach meiner Überzeugung der Aufbau des Sozialismus die Errichtung einer allumfassenden Demokratie erfordert, sah ich keine andere Möglichkeit, um mich der Politik der herrschenden Klasse in Frankreich, ihrer Helfer und ihrer amerikanischen Mentoren entgegenzustellen, als mich jeglicher Unterordnung unter die Interessen des anderen Protagonisten im Kampf um die Weltherrschaft zu enthalten.

    Seine Distanz zu den Opferverbänden verhinderte fast 50 Jahre lang, dass der ehemalige Häftling Petit noch einmal das deutsche Konzentrationslager besuchte. Langenstein gehörte zu dem über den ganzen Vorharz verstreuten Komplex unterirdischer Waffenfabriken, deren bekannteste Mittelbau-Dora bei Nordhausen war. Unter der Oberaufsicht Wernher von Brauns mussten dort KZ-Häftlinge und Kriegsgefangene in tief in den Berg getriebenen Stollen Hitlers so genannte "Wunderwaffen", V1 und V2, zusammenmontieren. Als der in Dijon von der Gestapo verhaftete Résistance-Mann Georges Petit nach einer Zwischenhaft im Lager Buchenwald im Mai 1944 im Außenkommando Langenstein eintraf, musste er dort vor allem beim Stollenbau schuften. Lothar Baier hat Petits Erfahrungsbericht gelesen.

    "Rückkehr nach Langenstein" will keine Chronik des Konzentrationslagers sein. Petit geht es darum, eine Innenansicht der KZ-Barbarei aus der Perspektive eines gewöhnlichen Häftlings zu liefern. Das ist ihm hervorragend gelungen. Sein Buch macht begreiflich, warum die Häftlinge mit einer Art Dämmerzustand auf die alltäglichen Schrecken des KZ antworteten und wie diese Abwesenheit von klarem Bewusstsein der Situation gleichzeitig das Funktionieren der KZ-Herrschaft noch beförderte. Im Rückblick schreibt Petit über die psychologischen Mechanismen, die er in sich selbst am Werk sah:

    Die Schwierigkeit, das Böse zu begreifen, war mir schwach bewusst, und ich konnte dieses Problem nur lösen, indem ich immer wieder spontan versuchte, mich von der Wirklichkeit zu distanzieren und in eine Art Gleichgültigkeit zu verfallen, die aus oberflächlicher Resignation und sarkastischer Beobachtung der Ereignisse, die sich vor meinen Augen abspielten, bestand.

    Einige der aufschlussreichsten Beobachtungen, die Petit mitteilt, betrifft das Verhalten der im Lager zusammengewürfelten Nationen. Franzosen, heißt es, begegneten deutschen Kapos und Funktionshäftlingen mit besonderer Verachtung, sie - traditionell teutonisch - als faul und schmutzig beschimpfend. Russische Kriegs- und Zivilgefangene, mit denen er in der Baracke zusammenlebte und draußen arbeitete, schildert Petit mit deutlicher Sympathie. Sie waren zwar alle etwas verrückt, schreibt der , aber sie waren auch besonders geschickt in der Kunst, die Aufseher und Wachen an der Nase herumzuführen.

    Sie lehrten mich, jede unnötige Bewegung zu vermeiden, die Fähigkeit zur Arbeitssimulation, wenn dies notwendig war, und Ausruhen und Erholen, sobald die Wachen wegsahen. So erwachte innerhalb weniger Tage ein unbekanntes Wesen in mir, das bereit war, sich absolut einzuordnen und die absurdesten Befehle zu befolgen, das keine eigene Initiative mehr besaß und nur das Ziel hatte, den jeweiligen Tag zu überleben, ohne Namen, nur als äußere Hülle existierend und absolut konvergent mit dem, was ich sein sollte. Zunächst in Buchenwald und dann in Langenstein konnte ich über zwei Winter diese Anpassung erfolgreich praktizieren, gleichzeitig mein Urteilsvermögen bewahren und trotz der grausamen Bedingungen, denen ich unterworfen war, die unermessliche Dummheit und schließlich den unvermeidlichen Zusammenbruch des Regimes bewusst erleben.

    Georges Petit verschweigt jedoch nicht, dass der Preis solchen Überlebens unter unmenschlichen Bedingungen der eigene Verlust mitmenschlicher Empfindungen gewesen ist. Er erwähnt zum Beispiel den Umgang mit den Lebensmittelpaketen, die er wie andere französische Häftlinge bis Sommer 1944 entgegennehmen konnte, während die Russen nie etwas erhielten. Soweit der Inhalt nicht bereits bei der Postverteilung dezimiert worden war, gab Petit dies oder jenes an ausgewählte Kameraden ab, teilte aber nie alles mit seinen Leidensgefährten.

    Es war schwer, mit diesem Egoismus zu leben, mit dem Wissen, dass ein Kamerad, der genauso wie man selbst am Leben hing und ein Recht darauf hatte, nur deshalb sterben konnte, weil man die eigene Solidaritätspflicht nicht erfüllte. Das zu wissen und darüber hinwegzusehen, erschien mir unter den Lebensbedingungen im Lager sowohl ungeheuerlich als auch unvermeidlich. Ich hasste mich dafür, dass ich nicht hilfsbereiter war.

    Was Georges Petit in seiner nüchternen Art psychologischen und moralischen Verfall auf Seiten der Häftlinge nennt, kam laut seinem Bericht in seinem ganzen Ausmaß erst nach der von der SS befohlenen Evakuierung des Lagers Langenstein angesichts des alliierten Vormarschs ans Tageslicht. Die unbeschreibliche Brutalität der SS-Leute, die jeden Häftling, der unterwegs auf dem Marsch entkräftet zusammenbrach, sogleich gnadenlos erschossen, schien auch die Häftlinge selbst verhärten zu lassen.

    Uns war die Sorge um den anderen, auch Selbstaufopferung eingeschlossen, nicht mehr möglich. Denn nur ein Mensch, der noch im Besitz seiner physischen und geistigen Integrität ist, kann auch Opfer bringen. Wir aber waren keine vollwertigen Menschen mehr. Jeder einzelne Häftling bestand nur noch aus einer abgekapselten körperlichen Hülle, zusammengehalten nur durch den Überlebenswillen. Dieser Verfall und auch der Grad seiner Wahrnehmung war bei jedem Häftling unterschiedlich ausgeprägt. Er hing auch von der Position des Einzelnen innerhalb des ganzen Systems ab. Jeder Häftling musste zwischen den moralischen Regeln aus Friedenszeiten und der primitiven Verteidigung seines Lebens unter den Bedingungen des Lagers seinen eigenen Platz finden. Jeder war gezwungen, sich auf seine eigene Art dort einzurichten. Die ständigen Aufrufe zur Solidarität vonseiten der am besten situierten Häftlinge an die Allerärmsten war entweder reine Heuchelei oder ein Zeichen ihrer Unentschlossenheit zwischen den genannten widersprüchlichen Forderungen.

    In solchen Auskünften aus der Sicht der "Allerärmsten" stecken implizit mehrere Antworten auf die sich Lesern von "Rückkehr aus Langenstein" aufdrängende Frage: Weshalb hat Georges Petit mehr als fünfzig Jahre gewartet, ehe er seinen KZ-Erlebnisbericht zu Papier brachte? Claude Lefort, der renommierte politische Denker und Mitgründer der linken, kommunismuskritischen Gruppe "Sozialismus oder Barbarei", bemerkt in seiner Einführung zu "Rückkehr aus Langenstein", dass der nach 1948 dieser Gruppe angehörende, parteilose Georges Petit damals nie über seine KZ-Haft sprach. Warum sprach und schrieb er nicht? Die differenzierten Antworten, die der am Beginn seines Berichts gibt, liefern höchst instruktive Einblicke in die Politik der Erinnerung an Deportation und KZ, die in Frankreich nach Kriegsende Platz griff.

    Wortführer der Erinnerung waren häufig solche Überlebenden, die aufgrund ihrer privilegierten Stellung innerhalb der Häftlingshierarchie überlebt hatten. Für die Erfahrungen einfacher, durch kein Privileg geschützter Häftlinge wie Georges Petit war neben solchen hegemonialen Erzählungen kein Platz. Hinzu kam, dass die Bedeutung der Deportation, wie Petit schreibt, "in Abhängigkeit von den Propagandazielen verschiedener Gruppierungen" schwankte. Gaullisten und Kommunisten rivalisierten miteinander um das Recht auf die nationale Erinnerung. Der Kalte Krieg verschärfte die Auseinandersetzung, nachdem die sowjetischen Konzentrationslager in die Debatte geraten waren. Der politisch wache, sich über die Sowjetunion keinen Illusionen hingebende Georges Petit wollte sich da nicht einmischen, da er nicht einem militanten Antikommunismus zuarbeiten mochte, der nicht seine Sache war. Also meldete er sich nicht zu Wort. Später sah er staunend zu, wie der Genozid an den Juden, der unmittelbar nach Kriegsende ganz klein geschrieben wurde, sich als Thema so weit in den Vordergrund schob, dass für die Deportation aus politischen Gründen nur noch ein "kleines Plätzchen" übrig blieb. Zur Zeit des Prozesses gegen Klaus Barbie 1987 kam es zu einer erneuten, unseligen Rivalität der Erinnerung, die diesmal eben um den Status des Opfers der Nazibarbarei ausgefochten wurde. Erst in den neunziger Jahren sah der Zeitzeuge Petit sich in der Lage, ohne Furcht vor Missverständnissen und Missbrauch an seine Aufzeichnungen zu gehen.

    "Rückkehr nach Langenstein", von Klaus-Dieter Bosse zuverlässig übersetzt, ist unbedingt zur Lektüre zu empfehlen, nicht allein als aufrüttelnder Einblick in die Realität eines nationalsozialistischen Konzentrationslagers. Weil Georges Petit zugleich die sich wandelnden Bedingungen öffentlicher Erinnerung reflektiert, ist sein Buch auch ein wertvoller kritischer Beitrag zur historischen Aufklärung.

    Lothar Baier besprach: Georges Petit, "Rückkehr nach Langenstein", übersetzt aus dem Französischen von Klaus Dieter Bosse, versehen mit einem Vorwort von Jens Reich und einer Einführung von Claude Lefort. Erschienen ist das 227 Seiten starke Buch bei der Edition memoria und kostet 19,50 Euro.