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Geplündertes Erbe

Monatelang fiel es niemandem auf, dass eine wertvolle Brosche aus dem Schatz des Krösus in einem westtürkischen Museum fehlte - bis einer der Diebe seine Kumpane verpfiff. Der Kunstraub wirft ein Schlaglicht auf den desolaten Zustand der Altertumspflege in der Türkei: Weil der türkische Staat sich nicht um das Kulturerbe der klassischen Antike kümmert, verschwinden unermessliche Schätze in privaten Sammlungen. Ein Bericht von Susanne Güsten.

    Im Museum von Milas steht sogar der Vorgarten voll. Säulen und Sarkophage, Sockel und Statuen aus weißem Marmor drängeln sich dicht an dicht im unkrautüberwucherten Garten. Das Museum, im Verwaltungsgebäude der Stadtbücherei untergebracht, platzt aus allen Nähten, der Keller auch. Museumsdirektor Erol Özen weiß nicht mehr, wohin mit den Kunstschätzen:

    "Sehen Sie zum Beispiel die vier römischen Statuen, die da im Gras liegen. Die haben wir gerade bei Kanalisationsarbeiten in der Stadt gefunden. Normalerweise gilt es als großes Glück, wenn auf einer Ausgrabung einmal in hundert Jahren eine solche Statue gefunden wird. Bei uns aber kommen an einem einzigen Tag vier solcher Statuen ans Licht."

    Dabei hat Özen nicht einmal danach gegraben, dafür hat das Museum kein Geld. Nur bei Bauarbeiten darf er mit in die Grube steigen und die Kunstschätze retten, die dabei regelmäßig zum Vorschein kommen: Schließlich liegt zwei Meter unter Milas das antike Mylasa, die Hauptstadt von Karien. Größer und schöner als Ephesus wäre Mylasa, wenn es ausgegraben würde, schwört Özen - doch das ist nicht absehbar, im Gegenteil:

    "Weil unser Personal immer weiter abgebaut wird, tun wir uns offen gestanden immer schwerer, auch nur bei den Bauarbeiten nachzukommen. Die Leute brauchen Häuser, überall wird gebaut. Wir sollten eigentlich alles überprüfen. aber wir schaffen es nicht mehr. Ich habe hier derzeit nur noch zwei Wissenschaftler, und die stehen beide kurz vor der Pensionierung."

    Mit diesem Problem steht Milas nicht alleine da. Überall in der Türkei leiden die Ausgrabungen und Museen unter den Einsparungen des Kulturministeriums – und die halten schon seit Jahren an, sagt Erdem Yücel, der frühere Direktor des Hagia-Sophia-Museums in Istanbul:

    "Seit 1988 fährt der Staat in den Museen einen scharfen Sparkurs. Seither gibt es einen Einstellungsstopp in den Ausgrabungen und antiken Stätten. Inzwischen hat dieser Stellenabbau dazu geführt, dass es in unseren Museen und Ausgrabungen fast keine erfahrenen Museumsdirektoren und Experten mehr gibt. Und deshalb können unsere Museen heutzutage in aller Ruhe geplündert werden."

    Auch aus dem Museum von Milas sind schon ein paar Säulenkapitelle verschwunden; in einer Ausgrabung des Bezirks wurden ganze Grabkammern ausgeräumt. Der Bezirk Milas, für den Özen mit seinen beiden Mitarbeitern zuständig ist, hat mit seinen 30 antiken Stätten auf 2000 Quadratkilometern die dichteste Konzentration von Ausgrabungsstätten auf der Welt. Euromos, Labranda, Herakleia und Iassos gehören zu Özens Beritt – sie alle waren in der Antike bedeutende Städte. Doch nur sieben dieser 30 Stätten sind heute für Besucher zugänglich. Die übrigen Ausgrabungsorte sind geschlossen, weil das Kulturministerium keine Wächter für sie stellt. Und damit ist Milas noch relativ gut bedient, sagt Alpay Pasinli, der frühere Direktor des Archäologischen Museums in Istanbul:

    "Gott hat der Türkei einen immensen kulturellen Reichtum anvertraut, aber wir bewahren diesen Reichtum nicht. Von 745 Ausgrabungsstätten der Antike in unserem Land kann man heute nur 131 besuchen, die anderen sind geschlossen. Warum? Weil es kein Personal dafür gibt, weil der Staat keine Wärter für diese Stätten stellt. Da ist es doch kein Wunder, dass überall schwarz gegraben und gestohlen wird, dass alles in privaten Sammlungen verschwindet."

    Dass der türkische Staat das antike Kulturerbe von Anatolien am ausgestreckten Arm verhungern lässt, das liegt nicht nur an der relativen Armut des Landes, sondern auch an seinen ideologischen Problemen mit der klassischen Antike. Aus türkischer Sicht beginnt die Geschichte Anatoliens mit den Hethitern und wird mit der Ankunft der Türken im Mittelalter fortgesetzt. Die klassische Antike ist den meisten Türken aber so fremd, als hätte sie nur in Griechenland stattgefunden und nicht eben in Westanatolien.

    Zwar fordert die Türkei offiziell immer wieder die Rückgabe antiker Kunstschätze aus dem Ausland, so etwa des Pergamon-Altars aus Berlin. Nach Jahren der Vernachlässigung sind führende Archäologen und Experten des Landes inzwischen aber so verzweifelt, dass sie für den Verbleib der Altertümer im Ausland plädieren, wo sie wenigstens in Sicherheit sind – so auch Erdem Yücel:

    "Ich war in Berlin und habe das Pergamon-Museum gesehen, und ich kenne ja nun auch unsere eigenen Museen. In Berlin hat man den Altar vollkommen rekonstruiert und ihm ein wunderbares Museum errichtet. Können wir das selbst tun? Nein, das könnten wir nicht – weil wir kein Geld haben, keine politische Unterstützung und kein Personal. Ich bin deshalb der Ansicht, dass der Pergamon-Altar in Deutschland bleiben sollte."