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Gerd Conradt: Starbuck. Holger Meins

Eine Biographie ganz anderer Art kommt aus dem Berliner Espresso-Verlag, zuerst mutet sie mehr wie ein großformatiger Bildband über die 68er-Generation an. Doch zentriert ist alles um eine Person, die 1974 mit ihrem Tod im Hungerstreik zum Märtyrer der RAF-Sympathisanten avancierte: um die Person des Holger Meins. Durch Leander Scholz' Terroristen-Roman "Rosenfest" ist man momentan hinreichend sensibilisiert, um auch in diesem Buch jene Stilisierungen zu wittern, die derzeit en vogue sind und dazu angetan, eines nicht so fernen Tages aus der RAF eine Popgruppe mit Kalaschnikows zu machen. Eine Befürchtung, die sich bei näherer Betrachtung dieses Buches nicht erfüllt, meint unsere Rezensentin Brigitte Baetz.

Brigitte Baetz | 23.04.2001
    Holgers letzter Tag beginnt wie auch die Tage davor um sechs Uhr dreißig. Er vernimmt das so bekannte Klappern der Schlüssel im Doppelschloss seiner Zellentür. Die schwere Eichentür wird geöffnet, er spürt einen leichten Luftzug durch die Zelle wehen. Wie gewöhnlich stellt ein Wärter das Frühstück auf den Klapptisch und verlässt mit flüchtigem Blick auf den Gefangenen den Raum. Er weiß, der Gefangene wird das Essen nicht anrühren – 57 Tage vollzieht sich dieses Ritual jetzt schon. An diesem Tag öffnet der Gefangene die tief in dem bis auf die Knochen ausgemergelten Gesicht liegenden Augen nicht. Die braunblaue Felddecke bis zum Kinn gezogen, ruht er regungslos auf dem schmalen Holzbett. Beim Verlassen der Zelle sagt der Wärter: "Herr Meins, Ihr Frühstück steht auf dem Tisch" und denkt: "Der lebt nicht mehr lange."

    Es ist der 9. November 1974. In der Justizvollzugsanstalt Wittlich bei Trier stirbt Holger Meins. Fast zwei Monate lang befand er sich im Hungerstreik, um eine Lockerung der Einzelhaft und die Zusammenlegung mit anderen Gefangenen aus der Reihe der Roten Armee Fraktion zu erreichen. Auch 39 andere, die sich in anderen Haftanstalten befanden, streikten mit. Doch nur Holger Meins kam ums Leben. Er wurde ermordet, hieß es bald nach Bekanntgabe seines Todes in den Kreisen der Sympathisanten. Er hat Selbstmord begangen, um die Schuld dem Staat in die Schuhe zu schieben, so die Meinung der sogenannten "schweigenden Mehrheit". Gut zwei Tage später wird der höchste Berliner Richter, Kammergerichtspräsident Günter von Drenkmann, von der RAF umgebracht.

    Mittlerweile ist die Rote Armee Fraktion für die meisten zur Geschichte geworden. Eine Geschichte, die gerade deswegen fasziniert, weil die Beweggründe ihrer Protagonisten für die sogenannten Nachgeborenen kaum noch nachzuvollziehen sind. Für viele Junge ist die von Zeitgenossen gerne so bezeichnete Baader-Meinhof-Bande eine Art späte Version der Robin-Hood-Geschichte, schon erscheinen in deutschen Frauenzeitungen Fotostrecken, in denen der sogenannte RAF-Chic verherrlicht wird. In diese beginnende Historisierung hinein erscheint ein Buch des Filmemachers Gerd Conradt, das auf den ersten Blick wie ein weiterer Band in der imaginären Reihe "Die Ästhetisierung der 60-er und 70-er Jahre" wirkt. Auf dem Buchdeckel blickt uns ein junger Mann an, ernst, entschlossen, asketisch, gutaussehend - fast ein Popstar: Holger Meins.

    30 Menschen erinnern sich an Holger Meins, Freundinnen, Kommilitonen aus der Zeit an der Filmhochschule, politische Aktivisten aus verschiedenen Phasen, heute berühmte Regisseure wie Wim Wenders, Wolfgang Petersen oder der Kameramann Michael Ballhaus. Gerd Conradt fragte sie aus, um herauszufinden, wie Holger Meins zum Terrorismus kam. Aber zur Spurensuche gehören auch Selbstzeugnisse. Der 18-jährige Holger Meins in einem sogenannten Bildungsbericht für das Gymnasium St. Georg in Hamburg:

    Alle äußeren Ereignisse meines Lebens erscheinen mir bedeutungslos. Sicher, ich kann und will nicht leugnen, dass es Ereignisse und Erlebnisse in meinem Leben gegeben hat, die eine tiefe und entscheidende Bedeutung gehabt haben. Ich könnte von Freundschaften, von Begegnungen mit Menschen und Weltanschauungen, mit Dichtungen und Kunstwerken berichten, könnte versuchen, Beweggründe und Folgen aufzuzeichnen, aber all das will nicht viel besagen. Denn ich glaube nicht, dass in den am meisten hervorstechenden Ereignissen meines Lebens die Kräfte ruhen, die mich zutiefst formten. Haben nicht die scheinbar unbedeutenden, meist sogar unbewussten Erlebnisse weitaus mehr Bedeutung? Außerdem gibt es Situationen, in denen man sich nicht mit bloßem Betrachten und Ausdeuten des Gewesenen begnügen kann, sondern weiter fragen muss bis zur letzten Frage, bis in den Bereich, in dem es um Sein oder Nicht-Sein geht, auch auf die Gefahr hin, dass man daran zerbricht. Ich glaube, dass ich mich im Augenblick in einer solchen Situation befinde.

    Der junge Mann, der seine Lebenserfüllung lange in Pfadfinderschaft und christlichem Glauben gefunden hat, brach aus Glaubenszweifeln heraus so radikal mit der Kirche, wie er sich ihr einmal verpflichtet gefühlt hatte. Ganz oder gar nicht, das scheint das beherrschende Element im Leben des Holger Meins gewesen zu sein. Auf den vielen Fotos aus Kindheit und Jugend ist ein hübscher Junge zu sehen, mit weichen, aber nicht weichlichen Zügen, ein Junge, der sich früh für andere verantwortlich fühlt und diese Verantwortung auch übernimmt. In seinem Antrag auf Kriegsdienstverweigerung wird er schreiben: "Ich will nicht töten." Aufgewachsen mit zwei Geschwistern bei einem liebevollen Vater – die Mutter spielte aufgrund einer Nervenerkrankung eine geringere Rolle -, entwickelte er früh eine künstlerische Begabung, die gefördert wurde. Er photographierte, malte, lithographierte, besaß viel Disziplin und Talent, aber: das zeigen die vielen Beispiele, die in dem Band abgebildet sind, er war eher ein Abbildner als ein kreativer Maler, eher ein genauer Beobachter als ein spielerischer Mensch. 1964 geht er an die Hochschule für Film und Fernsehen in Berlin. Die Zeit der Politisierung – nicht nur die des Holger Meins - beginnt.

    Holger Meins gehört bald zum inneren Zirkel der Studentenrevolte. Aber trotzdem bleibt er anders als die anderen. Alle, mit denen Gerd Conradt für sein Buch sprach, sind weit davon entfernt, ein beschönigendes Bild vom Terrorismus zu zeichnen, auch wenn sie in gewisser Hinsicht alle ein Teil der Szene gewesen sind. Aber niemand ist unter ihnen, der sich negativ über Holger Meins äußert. Alle beschreiben ihn als einen Menschen, der Ungerechtigkeiten hasste, der sich in der Gruppe gut zurücknehmen konnte, der immer für alle anderen da war, ohne die Arroganz, die viele der anderen Jungakademiker auszeichnete – selbst dann noch, als er schon mitten im harten Kern der Baader-Meinhof-Gruppe lebte, wie die Autorin Rena Giefer erzählt:

    Er hatte rote Haare, einen Staubmantel an und kam mit Gudrun Ensslin. Das war eine obercoole Zicke. Ich war schwanger, es war nicht mein politisches Ding – sie hat sich giftig von uns verabschiedet: kleinkarierte Schleimscheißer, die die Revolution erleben wollen, aber nichts dafür tun. Holger hat so etwas nicht gesagt.

    Die Wende im Leben des Holger Meins vom sensiblen Studenten zum fanatischen Terroristen markiert sein Film "Die Herstellung eines Molotow-Cocktails", der auf dem berühmten Tribunal gegen den Springer-Konzern im Februar 1968 lief. Er dauerte nur drei Minuten, ist aber vielen damals Anwesenden noch in Erinnerung als Aufforderung zum bewaffneten Kampf. Und in den trat Holger Meins nach einem kurzen Zwischenspiel bei der radikalen Wochenzeitung "883" und in der Kommune 1 ein. Auf dem berühmten Foto der Zeitschrift "Stern" ist er zu sehen, lachend, in dunkler Jacke hinter den halbnackten anderen Kommunarden. Ab dem Frühjahr 1971 steht er auf den Fahndungsplakaten, die in allen öffentlichen Gebäuden aufgehängt sind. Zwar wurde nie nachgewiesen, dass er in Schießereien verwickelt war, aber er beschaffte der RAF Waffen und Sprengstoff. Am 1. Juni 1972 werden Andreas Baader, Jan-Carl Raspe und Holger Meins in ihrem Waffendepot festgenommen.

    In der nach dieser Festnahme folgenden Haft wird Holger Meins sterben. Die Wandlung des sanften Künstlertyps zum Waffenbeschaffer, zum Terroristen, der in den Hungerstreik tritt, in vollem Bewusstsein, sein Leben aufs Spiel zu setzen, bleibt für seine bisherigen Weggefährten ein Rätsel. Und so nah sie Holger Meins in ihrer Freundschaft auch gekommen sein mögen, was wirklich in ihm vorging, scheint niemand gewusst zu haben. Ein einsamer Mensch muss er gewesen sein, der konsequent den Weg zu Ende ging, den er einmal eingeschlagen hatte. Sein Deckname bei der RAF war Starbuck, so heißt der erste Steuermann in Melvilles Roman Moby Dick, beschrieben dort als ernst und asketisch.

    Die Gespräche, die Biograph Gerd Conradt geführt hat, um das Rätsel Holger Meins zu lösen, sind äußerst ausführlich, und oft lässt Conradt die Zeitzeugen mehr über sich selbst erzählen als über Holger Meins. Diese Ausführlichkeit korrespondiert mit der sonstigen Detailverliebtheit des Buches. Die Tatsache, dass Holger Meins als Sonntagskind zur Welt gekommen ist, etwa, wird ergänzt durch einen anderthalb Seiten langen Exkurs über die Bedeutung der Sonne von der griechisch-römischen Kultur bis in die Nazizeit und zur Anti-Atombewegung. Aber in diesem Ausufernden steckt auch ein Reiz, der allerdings eher künstlerischer Natur ist. Die Assoziationen, die um dieses Menschenleben gesponnen werden, machen es wertvoller, versuchen ihm trotz des sinnlosen Endes eine besondere Bedeutung zu geben. Erklären jedoch können sie nichts.

    Brigitte Baetz über Gerd Conradt: "Starbuck. Holger Meins - ein Portrait als Zeitbild". Erschienen im Espresso Verlag, Berlin, 192 großformatige Seiten zum Preis von 39,90 DM.