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Gerd Koenen: "Der Russland-Komplex - Die Deutschen und der Osten 1900 - 1945"

Die Stalin-Ära spielt auch eine wichtige Rolle in dem Buch: "Der Russland-Komplex - Die Deutschen und der Osten 1900 - 1945". Gerd Koenen, der Verfasser, ist Historiker und hat sich seit langem als profunder Kenner der Geschichte des Kommunismus, speziell auch seiner sowjetischen Spielart, einen Namen gemacht.

Moderation: Robert Baag |
    Robert Baag: Ich wollte von ihm wissen, was ihn dazu veranlasst hat, von einem "Russland-Komplex" zu sprechen - ein Begriff, der sowohl "schwierig" bedeuten kann, aber auch einen psycho-pathologischen Zustand beschreibt:

    Gert Koenen: Ja, genau wegen dieser etwas schillernden Konnotation im Deutschen habe ich diesen Begriff gewählt. Es hat eben in der Tat diese psychologische Komponente. Es gibt Minderwertigkeits- oder Überlegenheitskomplexe, es gibt Angstkomplexe und umgekehrt unbestimmte Faszinationen. Aber es waren auch zwei große Reichskomplexe, es waren ja keine Nationalstaaten. Es war das Deutsche Reich, es war das Russische Reich, beziehungsweise dann eine Sowjetunion, die auf dem Boden dieses alten russischen Vielvölkerreichs errichtet worden ist. Also zwei große Reichskomplexe, die über sich selbst hinausstrebten. Auch das hat dieses Verhältnis geprägt, auch deshalb habe ich diesen Begriff gewählt.

    Baag: Zu Beginn des 20. Jahrhunderts gab es eine ganze Reihe deutscher Intellektueller, die von Russland angezogen war, eine Ostwendung anstatt Westorientierung. Wieso ist denn schon eine Generation später der slawisch-russische Untermensch genannt worden, also die von Deutschland ausgehende Nazibarbarei.

    Koenen: Ja, das hängt vielleicht eben miteinander zusammen. Also Deutschland als aufstrebende Weltmacht am Beginn des 20. Jahrhunderts. Im ersten Weltkrieg entwickelt sich genau diese Frontstellung, so dass sich Deutschland eigentlich immer mehr in einen Krieg gegen den Westen verstrickt, sich dort festrennt, auch ideologisch sich immer schärfer abgrenzt und den Ausweg im Osten sucht. Und das ist dann erst dieses Spiel mit den Bolschewiki. Man hofft dann, eine deutsch-freundliche Regierung im Osten dranzubringen. Das gelingt ja auch in gewisser Weise ... um den Krieg zu gewinnen.

    Baag: Jener berühmte Lenin im versiegelten Wagon

    Koenen: Richtig, also das ist immer von der Idee diktiert, wie auch immer geprägt. In dieser Kraftkombination liegt für uns die Zukunft. Dann kam das Diktat der Siegermächte von Versailles. Und dieses Deutschland in der Zwischenkriegsphase befindet sich in einer heftigen Abstoßung vom Westen, und wiederum sucht man den Ausweg im Osten. Und die hitlersche Option zu sagen nein, das können keine Verbündeten sein, oder da kann man nicht drauf hoffen, dass dort irgendein friedlicher Wechsel, der uns entgegenkommt, stattfindet, sondern wir müssen das als Objekt unserer Eroberungspläne für einen zweiten Krieg ins Auge fassen und von dieser Basis aus können wir dann wieder dem Westen gegenüber treten, das gehorcht in sofern der selben Logik.

    Baag: Wenn ich Sie jetzt richtig verstanden habe, gab es phasenweise ein gemeinsames Feindbild in Russland, der jungen Sowjetunion, und im besiegten Deutschland. Was war dieses Feindbild, was sollte da das einigende Band sein?

    Koenen: Nehmen Sie die Sicht der Bolschewiki. Schon in der späten Kriegsphase sehen sie sich in einer Art stillem Bündnis mit Deutschland, weil ihre Gegner im Wesentlichen von westlichen Mächten unterstütz werden. Das hält die ganzen 20er Jahre auch die frühen 30er Jahre hindurch noch an. Russland sieht sich, dieses neue sowjetische Russland, vor allem in Auseinandersetzung mit den westliche-imperialistischen Siegermächten. Deutschland auf gewisse Weise befand sich in der selben Konfrontation: Rapallo, Berliner Vertrag, geheime Zusammenarbeit von Reichswehr und Roter Armee. Das waren alles verschiedene Fäden in denen man selbst weitgehende Pläne für mögliche Bündnisse schmiedete, die dann nie ausbuchstabiert werden konnten. Das war eine Schwäche dieser Option, sie war sozusagen auf dem Papier. Selbst in der frühen Phase des hitlerschen Machtzugriffs, wusste man noch gar nicht, was man damit so sicher macht, und 1939 kommt dann wieder die Phase des Hitler-Stalin-Paktes, in der man wiederum in dieser Konstellation erst einmal dem Westen gegenübertritt.

    Baag: Herr Koenen, kann man sagen, dass es bei den Intellektuellen beider Länder das Phänomen einer deutsch-russischen Hassliebe gegeben hat?

    Koenen: Ja, also jedenfalls für diese Phase würde ich das eben so sehen. Das hat eben sehr viele geistesgeschichtliche Komponenten, sowohl das deutsche Wesen, wie die russische Seele schienen etwas unendlich viel Tieferes, Bedeutungsvolleres zu sein und das verkörperte sich auch in einem großen Teil der Literatur und der Kunst dieser Zeit als eben diese scheinbar nur kommerzielle, einem niederen Materialismus gehorchende westliche Zivilisation.

    Baag: Welche Tendenz hat denn da eigentlich überwogen, dass der Abgrenzung, der Abwehr, ja, der Feindschaft oder, wie Thomas Mann auch mal formuliert hat, der Seelenverwandtschaft, der Freundschaft.

    Koenen: Also wir reden jetzt über die Zeit, sagen wir mal von 1900 bis zum Machtantritt der Nationalsozialisten, als das Ruder natürlich radikal rumgelegt wurde, dominierte doch vielleicht eher die Attraktion, so würde ich es sehen. Ob Sie die Expressionisten nehmen, ob Sie einen ganzen Teil der Malerei nehmen. Es war eine große Attraktion, jedenfalls auf deutscher Seite. Auf russischer Seite war das etwas gespaltener, aber gab es das auch, und das war gerade dieser unklare, gärende Humus, der sich aber politisch nicht ausbuchstabieren konnte, der nicht zu einer politisch gemeinsamen Perspektive kommen konnte. Auch durch das, was dann in Russland eben passierte, was natürlich in den bürgerlichen Kreisen großen Schrecken auslöste, was viele Entfremdung mit sich transportierte. Dann zumal, als Stalin an die Macht kam, in der aufsteigenden Phase der Kollektivierung, des beginnenden Terrors.

    Baag: Lassen Sie uns vielleicht zum Ende, Herr Koenen, einen Sprung in die Gegenwart machen, heute im Jahr 2006. Hat sich der deutsche Russlandkomplex, also Ihren Titel paraphrasierend, mit dem Niedergang der kommunistischen Macht in Russland, dem Ende der Sowjetunion eigentlich aus der Geschichte verabschiedet?

    Koenen: Ja, er hat sich, glaube ich, eben schon durch diesen epochalen Zusammenstoß des Zweiten Weltkrieges verabschiedet, durch die deutsche Teilung, die Teilung Europas. Es gab sicher immer und gibt sie bis heute, viele schwärmerische Zuwendungen, viele unklare Erwartungen, wenn man so will. Selbst in der Zeit des Irak-Krieges, jetzt, mit dieser Achse Chirac, Schröder, Putin, waren so ferne Anklänge davon da.

    Baag: Dieses manchmal politisch-, konjunkturbedingte Werben um Deutschland gegen einen, in Klammern gesprochen, gemeinsamen Gegner USA, Fragezeichen, Klammer zu, wird das letztendlich sinnlos bleiben, da Russland, da Moskau für Deutschland, für die deutschen Intellektuellen nichts ideologisch interessantes mehr anzubieten hat?

    Koenen: Ja, so ist es, ich meine, dass ist ein Land, was Probleme mit sich selbst genug hat. Und ich glaube aber auch, dieses ganze Denken in besonderen Affinitäten zwischen Völkern ist uns heute eben doch sehr fremd geworden. Das war so dieser Nationalfundamentalismus, sag ich mal, des späten 19., frühen 20. Jahrhunderts, da suchte man ganz besondere Freundschaften und Feindschaften. Und heute, denke ich, leben wir in einer multipolar gewordenen Welt und an irgendwelche Achsenbildungen in dieser Form glaube ich da eigentlich ohnehin nicht mehr. In diesem Sinne, sage ich auch, Gott lob, hat dieser Komplex sich aufgelöst, aber, sagen wir, die schöneren Seiten davon und der kulturelle Reichtum, der damit auch eine ganze Weile transportiert worden ist, das sollte man eben auch in der geschichtlichen Erinnerung festhalten, da ging es mir auch darum.

    Gerd Koenen war das, Autor des spannend geschriebenen Bandes: "Der Russland-Komplex. Die Deutschen und der Osten". - Wen das Auf und Ab in den deutsch-russischen Beziehungen interessiert, wer vor allem auch die kulturgeschichtlichen Hintergründe kennen lernen möchte, die zum Miteinander, aber auch zum erbitterten Gegeneinander der beiden Länder geführt haben, der sollte zu diesem Buch greifen, das angesichts seiner Materialfülle allerdings auch Lesedisziplin erfordert. Aber diese Lektüre lohnt, denn sie bietet viele neue Einsichten. - Der Band ist erschienen im Verlag C.H. Beck, München, hat 528 Seiten und kostet 29,90 Euro.