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Gerd Langguth: Mythos 68 - Realität und Folgen

"Wo meine Sonne scheint": Trotz La Paloma, der Gitarre und dem Meer blieben Italien und Frankreich nur Urlaub vom Ich, zwei oder drei Wochen Erholung von der Unbehaustheit in der Bundesrepublik. Die Kälte kroch nicht allein aus dem Alltag der Schule, beschränkte sich nicht auf die begradigten Fassaden der dreistöckigen Mietshäuser oder die sicherheitslockende Berufslaufbahn "Bankkaufmann". Sie resultierte aus der stummen Nähe zu jenem Nullpunkt, hinter dem sich der Krieg verbarg, wurde blitzartig spürbar, wenn die Armprothese des Englischlehrers auf die Schulbank donnerte oder der Schuldirektor erzählte, wie man mit einem Maschinengewehr um die Ecke schießen konnte. Eine seltsame Ratlosigkeit herrschte, nur manchmal von Rissen durchzogen, von kurzen Versprechern aus einem fernen Land. Von der Verräterin Marlene Dietrich war da die Rede, die zum Feind übergelaufen sei, von Zarah Leander, die - obwohl Schwedin - hier geblieben war: "Ich weiß, es wird einmal ein Wunder geschehen." Es klang wie ein Liebeslied, auch zum Durchhalten. Unvermittelt murmelte der heißgeliebte Opa "Negermusik", regelmäßig identifizierte der ansonsten herzensgute Onkel kurz und ausdruckslos Schauspieler und - später - Nachrichtensprecher: "Auch a Jud." "Weißt du, er war halt im Krieg", entschuldigte man ihn, wenn der tote Goldhamster mit Schwung im glühenden Küchenofen verschwand, wenn mit dem Luftgewehr Tauben von der Regenrinne heruntergeschossen wurden. Über den Krieg sprachen sie nur in privaten Anekdoten, den Rest der Geschichte hatten andere gemacht."

Rainer Burchardt |
    "Wo meine Sonne scheint": Trotz La Paloma, der Gitarre und dem Meer blieben Italien und Frankreich nur Urlaub vom Ich, zwei oder drei Wochen Erholung von der Unbehaustheit in der Bundesrepublik. Die Kälte kroch nicht allein aus dem Alltag der Schule, beschränkte sich nicht auf die begradigten Fassaden der dreistöckigen Mietshäuser oder die sicherheitslockende Berufslaufbahn "Bankkaufmann". Sie resultierte aus der stummen Nähe zu jenem Nullpunkt, hinter dem sich der Krieg verbarg, wurde blitzartig spürbar, wenn die Armprothese des Englischlehrers auf die Schulbank donnerte oder der Schuldirektor erzählte, wie man mit einem Maschinengewehr um die Ecke schießen konnte. Eine seltsame Ratlosigkeit herrschte, nur manchmal von Rissen durchzogen, von kurzen Versprechern aus einem fernen Land. Von der Verräterin Marlene Dietrich war da die Rede, die zum Feind übergelaufen sei, von Zarah Leander, die - obwohl Schwedin - hier geblieben war: "Ich weiß, es wird einmal ein Wunder geschehen." Es klang wie ein Liebeslied, auch zum Durchhalten. Unvermittelt murmelte der heißgeliebte Opa "Negermusik", regelmäßig identifizierte der ansonsten herzensgute Onkel kurz und ausdruckslos Schauspieler und - später - Nachrichtensprecher: "Auch a Jud." "Weißt du, er war halt im Krieg", entschuldigte man ihn, wenn der tote Goldhamster mit Schwung im glühenden Küchenofen verschwand, wenn mit dem Luftgewehr Tauben von der Regenrinne heruntergeschossen wurden. Über den Krieg sprachen sie nur in privaten Anekdoten, den Rest der Geschichte hatten andere gemacht."

    So beschreibt Konrad Heidkamp die Sozialisationserfahrungen derjenigen, die 1968 die republikanischen und demokratischen Versprechungen eines westdeutschen Neuanfangs endlich einlösen wollten. "It's all over now" hat er seinen im Alexander Fest Verlag erschienenen Band überschrieben, in dem er von der Musik einer Generation erzählt. Elvis und John Coltrane sind Kapitel gewidmet, natürlich fehlen weder die Beatles noch die Stones, auch Velvet Underground und Patti Smith werden berücksichtigt. Bei all dem wird deutlich, dass 68 vor allem einen Bruch mit den restaurativ vormodernen Mentalitäten und Strukturen des Adenauer-Staates markiert und dass die Revolte vor allem ein Lebensgefühl durchsetzte, dem Rock und Jazz den Rhythmus gaben. Das gerät einem wie Gerd Langguth, der damals als RCDS Funktionär schwere Zeiten durchstehen musste, natürlich nicht in den Blick. Wie bewertet der heutige Politikprofessor an der Universität Bonn 68?

    Mit seinem jetzt vorgelegten Buch "Mythos 68" - schon der Titel verrät das Urteil - hat der ehemalige führende RCDS-Funktionär und heutige Bonner Politikprofessor, Gerd Langguth, den Versuch unternommen, über Ursachen und Folgen der Studentenbewegung eine umfassende Analyse vorzulegen. Dabei, dieses sei vorweg als Positivum vermerkt, hat der Autor unter Zuhilfenahme umfangreicher Quellen den Schwerpunkt auf den fraglos interessanten Aspekt der Gewaltphilosophie der 68er im allgemeinen und ihres Studentenführers Rudi Dutschke im besonderen gelegt. Die Quellenfülle ist verdienstvoll und aufschlussreich, gerade auch für jene, die heute behände über den Aufruhr der damaligen Zeit urteilen. Fragwürdig indessen bleibt der Gesamttenor, den Langguth ersichtlich mühevoll zu belegen versucht, nämlich dass Dutschke Apologet von Gewalt, zumindest gegen Sachen gewesen sei, ja durchaus auch einen Anstoß für die Terrorismusszene der RAF gegeben haben könnte.

    Wie gesagt, das Quellenmaterial ist umfangreich. Was dann aber auch gleichzeitig durch die Fußnotenfülle den Sprach- und Leseduktus empfindlich stört. Das Buch laviert somit zwischen populärer Anmutung und wissenschaftlichem Anspruch. Zur Aufklärung trägt es indes wegen der durchsichtigen vorgefassten Zielrichtung nur bedingt bei. Man spürt die Absicht und ist verstimmt. Denn die übergewichtige Konzentration auf den Gewaltaspekt verstellt den Blick auf die eigentlichen Verdienste der 68er-Bewegung als historische Zäsur zwischen dem restaurativem Muff der Nachkriegsepoche Adenauers und der Reformphase des sozialliberalen gesellschaftlichen Aufbruchs in Deutschland nach 1969.

    Hoch interessant ist die Spurensuche, die Langguth vor allem im Sozialistischen Deutschen Studentenbund (SDS) der 60er Jahre anstellt. Hier in der Tat liefert er, wenn auch aus konservativer Perspektive, interessante Einzelheiten, auch über interne Konflikte des SDS zwischen den sogenannten Altlinken, die sich dann zur DKP hin orientierten, und jenen progressiven Antifaschisten, die eine überfällige Ideologiedebatte vor allem an Hochschulen und regionalen Basisgruppen in Gang brachten. Auch Auseinandersetzungen innerhalb der Frankfurter Schule zwischen Horkheimer und Marcuse werden noch einmal zu einem amüsanten Lesevergnügen.

    Wenn Langguth allerdings Antiimperialismusthesen und Äußerungen Dutschkes zur Räterepublik als Beweise für einen Antiparlamentarismus der Außerparlamentarischen Opposition heranzieht, dann werden Zweifel an der wissenschaftlichen Haltbarkeit der Zielrichtung geweckt.

    Mit dem Satz, bei der Analyse von "in den letzten Jahren neu gewonnenen Erkenntnissen ... wird man einen kausalen Zusammenhang zwischen Dutschke und den terroristischen Aktivitäten nicht mehr bestreiten können", wagt sich der Autor fraglos zu weit aus dem Fenster. Es stimmt wohl, dass Dutschke niemals sich prinzipiell von Gewalt gegen Sachen distanziert hat, ihn im Umkehrschluss aber zum Gewaltapologeten zu stempeln, ist fraglos eine Überspitzung, die auch nicht dadurch richtiger wird, dass Dutschke aus seiner Sympathie für Fidel Castro, Ho Chi Minh oder MaoTsetung nie einen Hehl gemacht hat.

    Auch die Anekdote, dass Dutschke einmal Sprengstoff in einem Kinderwagen mit Kind und Frau nach Frankfurt brachte, liest sich zwar nett, taugt aber auch nicht gerade überzeugend als Beweis für konkrete Gewaltakte, zumal Dutschkes Frau Gretchen in ihrem Buch über das Leben mit Dutschke selbst schrieb, sie wisse nicht, was damit geschehen sei. Den Sprengstoff hatte Gianjacomo Feltrinelli, der später selbst ums Leben gekommene italienische Verleger aus dem linken Lager, den Dutschkes aufgedrängt.

    Sehr viel erhellender und überzeugender sind dagegen die Teile des Buches, in denen etwa Faschismusdiskussionen oder antiautoritäre Ansätze in Theoriedebatten zwischen Habermas, Abendroth, Brückner, Rabehl, Adorno, Marcuse und Negt abgehandelt werden. Hier in der Tat wird durchsichtig, welch intellektuelle Ambivalenz diese bisweilen überzogenen Debatten überlagert hat. Langguth hat hier eine verdienstvolle und bisweilen auch urteilsfreie Aufarbeitung geleistet.

    Relativ kurz handelt er dagegen die unterschiedlichen Bewegungen aus der Szene der Autonomen, der sogenannten Spontis, ab. Auch der zunächst einmal im Ansatz und wohl auch zur Legitimierung des Buches herhaltende Putztruppenführer Joschka Fischer gerät zwischenzeitlich ziemlich aus dem Blickfeld Langguths.

    Zum Schluss versucht er mit 10 Thesen zu belegen, dass die 68er Bewegung gemessen an ihrem eigenen Ziel, eine andere Republik zu schaffen, im Sande verlaufen sei. Geradezu ärgerlich und eben mal mit 20 Zeilen belegt ist folgende These:

    Eine der wesentlichen Folgen der Studentenrevolte ist nicht nur eine Geringschätzung der liberalen Demokratie, eine Relativierung der Erfordernisse des Rechtsstaates, sondern gerade eine Enttabuisierung der Gewalt bis hin zum Terrorismus. Die Gewalt wurde zunehmend als eine taktische Frage eingeschätzt, die von der Reife des Klassenkampfes abhing.

    Hier macht Langguth, der selbst in den fraglichen Jahren als konservativer Studentenfunktionär ziemliche Frustrationen angehäuft haben muss, es sich sehr einfach. Er selbst beklagt ein Defizit an zeitgeschichtlicher Forschung. Der von ihm hiermit geleistete Beitrag ist interessant und bei aller Subjektivität aufschlussreich. Dennoch: Zur Aufarbeitung dieser Epoche wird noch erheblich mehr zu leisten sein.

    Rainer Burchardt über Gerd Langguth, "Mythos 68. Die Gewaltphilosophie von Rudi Dutschke - Ursachen und Folgen der Studentenbewegung". Der Band ist im Münchener Olzog Verlag erschienen, 224 Seiten, 24 Euro 50.