Klaus Remme: Nach dem so genannten PISA-Schock im Jahr 2000 hat Deutschland offenbar ein Teil seiner Hausaufgaben gemacht. Wie die gestern vorgelegte internationale Studie PISA 2003 zur Einschätzung der Schulstärken von 15-Jährigen ausweist, konnten zahlreiche Bundesländer im Vergleich zur Vorstudie zulegen, vor allem in Mathematik. Hier liegt ein großer Teil der Länder inzwischen über dem Durchschnitt. Am Telefon ist jetzt Professor Jan-Hendrick Olbertz, parteiloser Kultusminister in Sachsen-Anhalt. Guten Morgen, Herr Olbertz!
Jan-Hendrick Olbertz: Guten Morgen!
Remme: Herr Olbertz, Sie haben außerdem den Vorteil, dass Sie von Haus aus wissen worüber Sie reden, Sie sind Erziehungswissenschaftler. Ergebnisse waren durchgesickert. Und tagelang haben wir über die noch einmal gewachsene Gerechtigkeitslücke bei den Bildungschancen diskutiert. Dann stellte sich die designierte Bundesbildungsministerin Schavan gestern Morgen hin und sagte: Das stimmt alles nicht, da hat sich nichts verschlechtert. Was stimmt denn nun?
Olbertz: Also, hier hat Frau Schavan Recht. Das ist gestern auch bei der PISA-Vorstellung noch mal genau gesagt worden, dass es keine Aussage gibt darüber, dass sich die soziale Schere weiter geöffnet hätte. Das macht die Sache nicht weniger problematisch: Sie hat sich auch nicht geschlossen. Aber diese Dramatisierung, die in dieser dpa-Meldung ausgedrückt wurde, die entbehrt jeder Grundlage.
Remme: Ist das nicht etwas merkwürdig, wenn in dieser Gesellschaft Tag für Tag der Wettbewerb gepredigt wird und der Markt als Lösung aller Probleme herhalten muss und dann ausgerechnet im Bildungssystem plötzlich der Zusammenhang zwischen Wohlstand und Chancen beklagt wird?
Olbertz: Na ja, das ist auf den ersten Blick schon merkwürdig. Da es sich hier aber um junge Menschen handelt, die ja sozusagen erst auf dem Weg sind die Qualifikationen für dieses Spiel zu erwerben, also dafür im Wettbewerb zu bestehen, es ist schon wichtig, dass die Start-Chancen in jedem Fall gleich sein sollten oder weitgehend gleich. Man darf das aber nicht verwechseln mit dem Anspruch, dass auch die Zielchancen dieselben sein müssen, in dem Sinne, dass am Ende zum Beispiel möglichst alle Schülerinnen und Schüler das Abitur erwerben, egal, ob das ihren speziellen Stärken und Potenzialen entspricht oder nicht.
Remme: Ich habe nur manchmal das Gefühl, dass Eltern am Pranger stehen, die nichts anderes tun, als mit den Mitteln, die sie haben ihren Kindern die besten Positionen zu vermitteln.
Olbertz: Ja, ich muss Ihnen sagen, das hat mich auch am allermeisten geärgert. Wenn also Eltern, die selbst einen guten Realschulabschluss haben, sich dazu entscheiden ihren Kindern zu raten, in diese Fußstapfen einzutreten und das ebenso zu machen, vielleicht später in den elterlichen Beruf zu wechseln, dann wird jetzt suggeriert, das sei ein Indiz für mangelnde Förderung, sowohl elterlicherseits als auch von den Schulen. Und das finde ich auch ziemlich unmöglich.
Remme: Herr Olbertz, Ihr Bundesland Sachsen-Anhalt wurde gestern mit Blick auf Fortschritte gelobt. Welche konkreten Lehren haben Sie aus der ersten PISA-Studie gezogen?
Olbertz: Also, wir sind ja in der Tat das Land, das den größten Entwicklungssprung gemacht hat, aber von den Ergebnissen insgesamt natürlich immer noch nicht zufrieden stellend ist. Das muss man auch ganz nüchtern feststellen. Wir sind insgesamt, wenn man alle drei Leistungsparameter oder Gruppen zusammenzieht, jetzt auf Rang sechs im Bundesländervergleich, wenn man das überhaupt so formulieren darf. Und was haben wir gemacht? Wir haben also aus der letzten PISA-Stunde gelernt, dass die Stundentafeln verändert werden müssen, wesentlich mehr Deutsch und Mathematik unterrichtet werden muss, dass wir eine Lehrplanreform machen müssen, stärker hin zu kompetenzorientierten Lehrplänen, dass wir das Thema Leistung ganz anders diskutieren müssen, auch Vergleichsarbeiten schreiben, dass wir uns zügig um die Bildungsstandards bemühen müssen, dass wir Ganztagsangebote ausbauen und dass vor allem der Faden zu den Eltern auch neu gewebt werden muss. All diese Sachen haben wir in den letzten drei, vier Jahren sehr, sehr intensiv betrieben in Sachsen-Anhalt.
Remme: Mehr Deutsch und Mathematik, das muss doch zu Lasten anderer Fächer gegangen sein?
Olbertz: Ja, zum Teil schon, insofern als wir aus anderen Fächern Fächergruppen gebildet haben, um in der Tat den Erwerb der Kulturtechniken, also der Schlüsselkompetenzen stärker in den Vordergrund zu stellen. Ich bin ja sowieso der Meinung, wenn ich mir unsere Lehrpläne angucke, die sind nach wie vor enorm überfrachtet. Die Kultusministerkonferenz beschäftigt sich mit dem Phänomen Stofffülle, aber nur mit dem Ergebnis, dass das Wort jetzt mit drei F geschrieben wird. Wir müssen in der Tat entrümpeln und an anderer Stelle deutlich weniger machen, um am Ende mehr tun zu können in Bezug auf elementare Grundkompetenzen.
Remme: Wir reden viel über arm und reich und über Gerechtigkeit, aber die Unterschiede zwischen den Bundesländern, die werden scheinbar - zumindest für mich - schnell dem so segensreichen Wettbewerb und dem Föderalismus geopfert. Sind diese Unterschiede nicht mindestens ebenso ungerecht?
Olbertz: Ja, die sind dort ungerecht, wo tatsächlich die Chancen über das Land über die Bundesrepublik unterschiedlich verteilt sind. Und wenn die ermittelten Kompetenzniveaus ein bis anderthalb Jahre in einzelnen Bereichen betragen, dann muss man diesen Grundsatz der Chancengleichheit, der im übrigen ja auch ein Verfassungsgrundsatz ist, zunächst mal als gefährdet sehen. Auf der anderen Seite ist unsere Aufgabe ja nicht eine zentralstaatliche Organisation für das Bildungssystem zu schaffen. Ich habe da meine Erfahrungen als jemand, der in der DDR groß geworden ist, wenn dann was schief läuft, läuft es im ganzen Land gleichermaßen schief. Ich finde es also wichtig: Maßstäbe vereinheitlichen und Wege vervielfältigen. Das wäre das Motto, nach dem der Föderalismus im Bildungssektor sich modernisieren ließe und da gibt es ja inzwischen auch ganz gute Anzeichen, dass man auf diesem Weg vorankommen kann.
Remme: Und so sind es also nur, in Anführungsstrichen, die Bremer Schüler, die das Nachsehen haben?
Olbertz: Ja, so kann man das vielleicht nicht sagen. Es ist ja ganz interessant, wenn Sie diesen Sozialindex sich angucken, dass Städte, Stadtstädte wie etwa Hamburg oder Berlin, in gewisser Beziehung auch Bremen den höchsten Sozialindex bei den Elternhäusern haben, es schlägt sich aber gar nicht nieder ...
Remme: Was heißt denn das?
Olbertz: ... in den Leistungskompetenzen. Bitte?
Remme: Was heißt denn Sozialindex in den Elternhäusern?
Olbertz: Das haben die PISA-Kollegen errechnet indem sie die kulturellen Potenziale, die materiellen und die sozialen der Elternhäuser bewertet haben, um damit festzustellen, was sind sozusagen eher bildungsferne und was sind eher bildungsnahe, also die Bildung fördernde Elternhäuser. Und da ist unter anderem natürlich auch die Frage der materiellen Ausstattung, denken Sie mal an Computer, an ein eigenes Zimmer, an einen eigenen Schreibtisch und so weiter.
Remme: Dann will ich da noch mal bei bleiben, Herr Olbertz. Ein Augenmerk lag ja gestern auch auf den leistungsschwachen Schülern, ein großer Teil in einigen Bundesländern, und ein Kommentator spricht heute Morgen in der Zeitung als Erklärungsversuch von einer schlichten Abwesenheit von Erziehung. Reden wir mit PISA möglicherweise am eigentlichen Problem vorbei?
Olbertz: Ja, das kann durchaus sein. Ich meine, PISA verfehlt sowieso seinen Zweck, wenn wir es so erörtern wie jetzt mit einer dermaßen Oberflächlichkeit in der Öffentlichkeit und letzten Endes den eigentlichen Ansatz, die Probleme mal wirklich tiefgründig zu analysieren, damit verfehlen. Im übrigen wird das ja auch instrumentalisiert von allen Seiten her. Und Sie haben völlig recht, wir stoßen möglicherweise mit den Fragen die PISA stellt, die ja sehr auf die Schule und spezielle Leistungsbereiche zentriert sind, nicht in den Kern der Probleme hinein, die sind sehr komplex. Und das Thema Eltern und Elternhaus, denke ich, sollte man wesentlich stärker bei künftigen Untersuchungen versuchen einzubeziehen.
Jan-Hendrick Olbertz: Guten Morgen!
Remme: Herr Olbertz, Sie haben außerdem den Vorteil, dass Sie von Haus aus wissen worüber Sie reden, Sie sind Erziehungswissenschaftler. Ergebnisse waren durchgesickert. Und tagelang haben wir über die noch einmal gewachsene Gerechtigkeitslücke bei den Bildungschancen diskutiert. Dann stellte sich die designierte Bundesbildungsministerin Schavan gestern Morgen hin und sagte: Das stimmt alles nicht, da hat sich nichts verschlechtert. Was stimmt denn nun?
Olbertz: Also, hier hat Frau Schavan Recht. Das ist gestern auch bei der PISA-Vorstellung noch mal genau gesagt worden, dass es keine Aussage gibt darüber, dass sich die soziale Schere weiter geöffnet hätte. Das macht die Sache nicht weniger problematisch: Sie hat sich auch nicht geschlossen. Aber diese Dramatisierung, die in dieser dpa-Meldung ausgedrückt wurde, die entbehrt jeder Grundlage.
Remme: Ist das nicht etwas merkwürdig, wenn in dieser Gesellschaft Tag für Tag der Wettbewerb gepredigt wird und der Markt als Lösung aller Probleme herhalten muss und dann ausgerechnet im Bildungssystem plötzlich der Zusammenhang zwischen Wohlstand und Chancen beklagt wird?
Olbertz: Na ja, das ist auf den ersten Blick schon merkwürdig. Da es sich hier aber um junge Menschen handelt, die ja sozusagen erst auf dem Weg sind die Qualifikationen für dieses Spiel zu erwerben, also dafür im Wettbewerb zu bestehen, es ist schon wichtig, dass die Start-Chancen in jedem Fall gleich sein sollten oder weitgehend gleich. Man darf das aber nicht verwechseln mit dem Anspruch, dass auch die Zielchancen dieselben sein müssen, in dem Sinne, dass am Ende zum Beispiel möglichst alle Schülerinnen und Schüler das Abitur erwerben, egal, ob das ihren speziellen Stärken und Potenzialen entspricht oder nicht.
Remme: Ich habe nur manchmal das Gefühl, dass Eltern am Pranger stehen, die nichts anderes tun, als mit den Mitteln, die sie haben ihren Kindern die besten Positionen zu vermitteln.
Olbertz: Ja, ich muss Ihnen sagen, das hat mich auch am allermeisten geärgert. Wenn also Eltern, die selbst einen guten Realschulabschluss haben, sich dazu entscheiden ihren Kindern zu raten, in diese Fußstapfen einzutreten und das ebenso zu machen, vielleicht später in den elterlichen Beruf zu wechseln, dann wird jetzt suggeriert, das sei ein Indiz für mangelnde Förderung, sowohl elterlicherseits als auch von den Schulen. Und das finde ich auch ziemlich unmöglich.
Remme: Herr Olbertz, Ihr Bundesland Sachsen-Anhalt wurde gestern mit Blick auf Fortschritte gelobt. Welche konkreten Lehren haben Sie aus der ersten PISA-Studie gezogen?
Olbertz: Also, wir sind ja in der Tat das Land, das den größten Entwicklungssprung gemacht hat, aber von den Ergebnissen insgesamt natürlich immer noch nicht zufrieden stellend ist. Das muss man auch ganz nüchtern feststellen. Wir sind insgesamt, wenn man alle drei Leistungsparameter oder Gruppen zusammenzieht, jetzt auf Rang sechs im Bundesländervergleich, wenn man das überhaupt so formulieren darf. Und was haben wir gemacht? Wir haben also aus der letzten PISA-Stunde gelernt, dass die Stundentafeln verändert werden müssen, wesentlich mehr Deutsch und Mathematik unterrichtet werden muss, dass wir eine Lehrplanreform machen müssen, stärker hin zu kompetenzorientierten Lehrplänen, dass wir das Thema Leistung ganz anders diskutieren müssen, auch Vergleichsarbeiten schreiben, dass wir uns zügig um die Bildungsstandards bemühen müssen, dass wir Ganztagsangebote ausbauen und dass vor allem der Faden zu den Eltern auch neu gewebt werden muss. All diese Sachen haben wir in den letzten drei, vier Jahren sehr, sehr intensiv betrieben in Sachsen-Anhalt.
Remme: Mehr Deutsch und Mathematik, das muss doch zu Lasten anderer Fächer gegangen sein?
Olbertz: Ja, zum Teil schon, insofern als wir aus anderen Fächern Fächergruppen gebildet haben, um in der Tat den Erwerb der Kulturtechniken, also der Schlüsselkompetenzen stärker in den Vordergrund zu stellen. Ich bin ja sowieso der Meinung, wenn ich mir unsere Lehrpläne angucke, die sind nach wie vor enorm überfrachtet. Die Kultusministerkonferenz beschäftigt sich mit dem Phänomen Stofffülle, aber nur mit dem Ergebnis, dass das Wort jetzt mit drei F geschrieben wird. Wir müssen in der Tat entrümpeln und an anderer Stelle deutlich weniger machen, um am Ende mehr tun zu können in Bezug auf elementare Grundkompetenzen.
Remme: Wir reden viel über arm und reich und über Gerechtigkeit, aber die Unterschiede zwischen den Bundesländern, die werden scheinbar - zumindest für mich - schnell dem so segensreichen Wettbewerb und dem Föderalismus geopfert. Sind diese Unterschiede nicht mindestens ebenso ungerecht?
Olbertz: Ja, die sind dort ungerecht, wo tatsächlich die Chancen über das Land über die Bundesrepublik unterschiedlich verteilt sind. Und wenn die ermittelten Kompetenzniveaus ein bis anderthalb Jahre in einzelnen Bereichen betragen, dann muss man diesen Grundsatz der Chancengleichheit, der im übrigen ja auch ein Verfassungsgrundsatz ist, zunächst mal als gefährdet sehen. Auf der anderen Seite ist unsere Aufgabe ja nicht eine zentralstaatliche Organisation für das Bildungssystem zu schaffen. Ich habe da meine Erfahrungen als jemand, der in der DDR groß geworden ist, wenn dann was schief läuft, läuft es im ganzen Land gleichermaßen schief. Ich finde es also wichtig: Maßstäbe vereinheitlichen und Wege vervielfältigen. Das wäre das Motto, nach dem der Föderalismus im Bildungssektor sich modernisieren ließe und da gibt es ja inzwischen auch ganz gute Anzeichen, dass man auf diesem Weg vorankommen kann.
Remme: Und so sind es also nur, in Anführungsstrichen, die Bremer Schüler, die das Nachsehen haben?
Olbertz: Ja, so kann man das vielleicht nicht sagen. Es ist ja ganz interessant, wenn Sie diesen Sozialindex sich angucken, dass Städte, Stadtstädte wie etwa Hamburg oder Berlin, in gewisser Beziehung auch Bremen den höchsten Sozialindex bei den Elternhäusern haben, es schlägt sich aber gar nicht nieder ...
Remme: Was heißt denn das?
Olbertz: ... in den Leistungskompetenzen. Bitte?
Remme: Was heißt denn Sozialindex in den Elternhäusern?
Olbertz: Das haben die PISA-Kollegen errechnet indem sie die kulturellen Potenziale, die materiellen und die sozialen der Elternhäuser bewertet haben, um damit festzustellen, was sind sozusagen eher bildungsferne und was sind eher bildungsnahe, also die Bildung fördernde Elternhäuser. Und da ist unter anderem natürlich auch die Frage der materiellen Ausstattung, denken Sie mal an Computer, an ein eigenes Zimmer, an einen eigenen Schreibtisch und so weiter.
Remme: Dann will ich da noch mal bei bleiben, Herr Olbertz. Ein Augenmerk lag ja gestern auch auf den leistungsschwachen Schülern, ein großer Teil in einigen Bundesländern, und ein Kommentator spricht heute Morgen in der Zeitung als Erklärungsversuch von einer schlichten Abwesenheit von Erziehung. Reden wir mit PISA möglicherweise am eigentlichen Problem vorbei?
Olbertz: Ja, das kann durchaus sein. Ich meine, PISA verfehlt sowieso seinen Zweck, wenn wir es so erörtern wie jetzt mit einer dermaßen Oberflächlichkeit in der Öffentlichkeit und letzten Endes den eigentlichen Ansatz, die Probleme mal wirklich tiefgründig zu analysieren, damit verfehlen. Im übrigen wird das ja auch instrumentalisiert von allen Seiten her. Und Sie haben völlig recht, wir stoßen möglicherweise mit den Fragen die PISA stellt, die ja sehr auf die Schule und spezielle Leistungsbereiche zentriert sind, nicht in den Kern der Probleme hinein, die sind sehr komplex. Und das Thema Eltern und Elternhaus, denke ich, sollte man wesentlich stärker bei künftigen Untersuchungen versuchen einzubeziehen.