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Gerhard Paul/Klaus-Michael Mallmann (Hrsg.): Die Gestapo im Zweiten Weltkrieg. 'Heimatfront' und besetztes Europa

Gerhard Paul und Klaus-Michael Mallmann haben bereits vor fünf Jahren den Mythos von der allwissenden undercover agierenden Gestapo zerstört und gezeigt, dass Hitlers Staatsschützer auf die Mitarbeit der Volksgenossen angewiesen waren und auf diese Mitarbeit auch zählen konnten. In ihrem jüngsten Band geht das Herausgeberduo nun der Frage nach, wie auch die Gestapo sich radikalisiert hat und Teil der Vernichtungspolitik wurde. "Die Gestapo im Zweiten Weltkrieg. 'Heimatfront' und besetztes Europa" ist das Werk überschrieben

Stefan Berkholz |
    Manches braucht seine Zeit: beispielsweise die Forschung über die Gestapo oder ausgewählte Naziführer. Seit knapp zehn Jahren erst wird darüber intensiver geforscht, erstaunlich, angesichts der Fachliteraturgebirge über die Nazizeit. Man ging offenbar einem belastenden Thema aus dem Weg. Man spekulierte lieber, teilte die Welt in Schwarz und Weiß, schrieb über das Böse ganz allgemein. Das war bequem und entlastend zugleich. Man musste nicht das Abgründige in sich wahrnehmen.

    Mit der Öffnung hin zu den Tätern und ihren Tatorten bekommt das Verbrechen erstmals Namen und Gesicht; der Genozid erscheint nicht länger als anonymer, bürokratischer und industrieller - damit exkulpierender - Automatismus ohne beteiligte Menschen. Die Gestapo-Verbrechen werden zumindest wissenschaftlich nicht mehr aus der deutschen Gesellschaft exterritorialisiert, sondern aus dieser selbst abgeleitet und als dieser zugehörig betrachtet.

    So verdeutlichen Gerhard Paul und Klaus-Michael Mallmann in ihrem Vorwort die Dimension der aktuellen Forschung. Beide legten vor sechs Jahren einen ersten Sammelband zum Thema vor, der Titel damals lautete: "Die Gestapo - Mythos und Realität". Damit stießen die beiden Historiker die neue Debatte wesentlich mit an. Die wichtigste Erkenntnis damals lautete:

    Die Gestapo war für ihre Arbeit in einem erheblichen Maße auf Denunzianten und V-Leute angewiesen - dies belegen die hier vorliegenden Untersuchungen, wobei die vielfältige Verankerung der Gestapo in der deutschen Gesellschaft deutlich wird. Damit ist der Mythos einer allgegenwärtigen, allwissenden und allmächtigen Gestapo, der lange die Forschung geprägt hat, zerstört, ohne dass deren Verbrechen beschönigt oder gar verharmlost werden.

    Auf dieser Erkenntnis baut der neue Band auf. In 27 Beiträgen untersuchen verschiedene Autoren vor allem die Rolle der Gestapo im Krieg. Es wird beschrieben, wie der Terror im Inland und wie er im besetzten Europa organisiert und umgesetzt wurde und wie es schließlich zur Radikalisierung der Gestapo kam. Dabei wird zunächst das Reichssicherheitshauptamt und sein Personal unter die Lupe genommen. Anfangs, in der Übergangsphase, bis 1936/37 etwa, als das Regime dann innerlich gefestigt war, bauten die Nazis ihr Terrorregime auf den Strukturen der Weimarer Republik auf:

    Papens 'Preußenschlag' im Juli 1932 bedeutete für die Polizei im allgemeinen und die Politische Polizei im besonderen allem Anschein nach einen weit wichtigeren Einschnitt als Hitlers Machteinsetzung ein halbes Jahr später. Denn zum einen wurden die zentralen Säuberungen auf der Führungsebene bereits damals exekutiert. Zum zweiten wurde seitdem die Blickrichtung der Politischen Polizei fundamental verändert: Die Beobachtung der NSDAP wurde eingestellt, die der KPD intensiviert, die der SPD erstmals seit dem Kaiserreich wieder aufgenommen. (...) Hinzu kam, dass die Mehrzahl der Polizeibeamten der Republik schon zuvor wenn nicht ablehnend, so doch zumindest skeptisch gegenübergestanden hatten.

    So konnten, wie vielfach bei Systemwechseln, die Staatsbeamten und somit auch die Polizisten leichten Herzens von den Nazis übernommen werden. Sie blieben Stützen des Systems. Manche dieser - unter dem sozialdemokratischen Innenminister Geduschenski eingestellten - Polizisten behandelten den politischen Gegner der Nazis anfangs noch milde, das sei der Gerechtigkeit halber auch gesagt. Andererseits: Die Verhaftungslisten beim Reichstagsbrand beispielsweise waren längst vorbereitet. Als dann der erste nennenswerte Widerstand - oder auch nur die Möglichkeit dazu - im Keim erstickt war, ging es nicht mehr nur um den Schutz des jungen Nazistaates; nunmehr wendeten sich die Verfolgungsbehörden dem gesamten Volk zu. Die Auslese wurde verfeinert und radikalisiert.

    Damit war nicht nur das Feindbild radikal ausgeweitet, sondern auch der Bezugspunkt verändert; nicht mehr der Staat, sondern das Volk stand damit im Zentrum polizeilichen Denkens und Handelns. Und nicht zuletzt: die Definitionsmacht, wer und was als 'volksfeindlich', 'abweichend' oder 'normal', als 'schädlich' oder 'nützlich', als 'krank' oder 'gesund', als 'dazugehörig' oder 'fremd' anzusehen war, ging damit auf die Polizei über.

    Ein totalitäres Überwachungssystem entstand, nun auch ideologisch verstärkt geschult. Doch ohne die Unterstützung der Bevölkerung, ohne Kooperation, Kollaboration und Denunziation, ist totale, lückenlose Überwachung unmöglich, so gewaltig kann ein Verfolgungsapparat gar nicht aufgebaut werden, das ist auch von keinem Staat zu bezahlen. - Mit dem Krieg im Osten setzte dann die "innere Radikalisierungsdynamik" ein, erläutern die Historiker: Im besetzten Polen kam es zu Massakern, in Russland artete es förmlich zu einem Wettlauf um die höchsten Vernichtungsquoten aus. Klaus-Michael Mallmann geht der Frage nach, wie dies möglich wurde:

    Es ging im Ostfeldzug nicht mehr um die 'Reinheit des Blutes', um das Ziel der ethnischen Homogenisierung wie in den eingegliederten westpolnischen Gebieten, das die Juden zum Objekt der Vertreibung machte und in (...) die Gettoisierung mündete. Es ging jetzt um die Vernichtung des rassisch definierten Hauptfeindes, des 'jüdischen Bolschewismus'. (...) Erst das Zusammenfallen der zentralen Feindbilder - Judentum und Kommunismus -, ihre wechselseitige Überlagerung, Durchdringung und Verstärkung entfachte jene Dynamik, die zum Genozid führen sollte.

    Ein gesonderter Einsatzbefehl Hitlers sei in diesem Klima gar nicht mehr nötig gewesen, schlussfolgert Mallmann. - Der Sammelband gibt einen vertiefenden Einblick in Organisation und Strukturen des Terrorregimes. Im ersten Teil ist die Entstehung und Gliederung des Reichssicherheitshauptamtes beschrieben und analysiert; im zweiten Teil werden die neuen Aufgaben und der zunehmende Terror bis zum Kriegsende dargestellt; im dritten wird der Blick auf das besetzte Europa gerichtet und "Menschenjagd und Massenmord" in Böhmen und Mähren, in Frankreich, den Niederlanden, Italien, Polen und den besetzten Gebieten der Sowjetunion geschildert; der letzte Teil schließlich ist den Verbrechen am Ende des Krieges gewidmet. Mit dem Überfall auf die Sowjetunion, im Juni 1941, entstand, so schreiben die Herausgeber:

    ein Prozeß, der sich als Spirale der Selbstradikalisierung deuten läßt: (...) Insbesondere im Osten besaß das unmittelbare Geschehen vor Ort eine große Eigendynamik, läßt sich ein hoher Grad an Freiwilligkeit und Initiative beobachten, gab es kaum Konflikte, Hemmungen, Barrieren oder gar Widerstände, wies Verweigerung einen beträchtlichen Seltenheitswert auf, obwohl erhebliche Handlungsspielräume existierten. Weltanschauliche Wahrnehmungs- und Verarbeitungsmuster verbanden sich dort mit systemunabhängigem Karrierismus und Opportunismus, vielfach auch mit dem Willen zur Beraubung, Vergewaltigung und Leichenfledderei, zur lustvollen Erfahrung der Exemtion (gemeint ist die Freistellung) vom Recht. (...) Zugleich besaß der nunmehr europaweit einsetzende Prozeß der Deportation in die Vernichtungskombinate in aller Regel erhebliche Unterstützung durch die nichtjüdische Umgebung; denn stets lockte die Hoffnung auf Beute - die Plünderung des 'jüdischen Nachlasses' oder ausgesetzte Kopfprämien für das Aufspüren abgetauchter Juden. Das (...) Resultat war die weitgehende Vernichtung der europäischen Juden.

    Die Masse der Deutschen machte unter Hitler willig und vorauseilend mit, sei es durch Wegsehen, Denunzieren, Plündern, aktive Beteiligung in der Mordmaschinerie. Den Deutschen wurden - von Staats wegen - alle niederen Instinkte eingetrichtert. Und wenige versagten sich dieser Enthemmung. Diese Erkenntnisse ziehen sich wie ein roter Faden durch die Beiträge und bestätigen damit die wichtigsten Thesen des vorangegangenen Bandes. Schmerzliche Tatsachen über eine - so die Autoren - "Denunziations- und Überwachungsgesellschaft" sind zur Kenntnis zu nehmen. Es ist bedauerlich, dass die Texte zumeist in einer akademischen Sprache verfasst wurden, die teilweise eine Zumutung für ein breites Publikum ist. Die Autoren bringen sich damit um einen Teil ihrer Wirkung.

    Stefan Berkholz über "Die Gestapo im Zweiten Weltkrieg. 'Heimatfront' und besetztes Europa". Primus Verlag, Darmstadt. 674 Seiten, DM 98,--. Die Herausgeber sind Gerhard Paul und Klaus-Michael Mallmann. Dieses Duo hat bereits 1996, ebenfalls im Primus Verlag, den Band "Die Gestapo - Mythos und Realität" herausgegeben. 586 Seiten, DM 68,--.