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Gerhard Wolter: Die Zone der totalen Ruhe.

Der Schatten des Iossif Wissarionowitsch Stalin liegt auch über den Zeilen unseres nächsten Buches. - Wer die Russlanddeutschen, wer die deutschstämmigen Aussiedler aus der ehemaligen Sowjetunion sind, das wissen inzwischen wohl doch eine ganze Menge Menschen hierzulande. Auch wenn nun nicht jeder, der sich auf der Straße mit seiner Begleitung auf russisch unterhält, zwangsläufig jemand sein muss, dessen Vorfahren einst - sagen wir - von der Zarin Katharina der Großen im 18. Jahrhundert eingeladen, aus Deutschland nach Russland ausgewandert sind. Über Generationen lebten diese Menschen meist zufrieden und geachtet unter dem Doppeladler des Zaren. Erst unter der Sowjetmacht, vor allem aber nach dem Überfall Deutschlands auf die UdSSR im Juni 1941 änderte sich dies radikal. Die Deutschen in der Sowjetunion wurden zu Feinden erklärt. Wie so etwas konkret aussah, erfährt man aus dem vor kurzem erschienenen Erinnerungsband des vor einigen Jahren verstorbenen Gerhart Wolter: "Die Zone der totalen Ruhe", erschienen im Augsburger Waldemar Weber Verlag. Katharina Heinrich beginnt ihre Rezension mit einem Zitat aus Wolters Erinnerungen, das einen Ausschnitt des Straflager-Alltags illustriert:

Von Katharina Heinrich |

    Das Lager ging schwer und langsam schlafen. Im schwachen Licht der wenigen elektrischen Lampen, gleichsam in Dunst und Nebel, beschäftigten sich die Arbeitsmobilisierten ohne Eile mit ihrem lumpigen Bettzeug. Mit ihren gehemmten Bewegungen erinnerten sie an schlaftrunkene Fliegen, die sich zum Winterschlaf vorbereiteten. Sie schwankten vor Schwäche und vollzogen so schlaff ihr Abendritual. Sie ließen die Kleider an und zogen die Mützen noch dichter über die Ohren; die einen tauchten in das kalte Dunkel der unteren Pritschen ein, die anderen, jüngeren zogen sich an ihren abgemagerten Händen hoch und kletterten so mit letzter Kraft auf die oberen Pritschen. Dabei hofften sie, sich unter den verschlissenen Mänteln und Tuchjacken zu wärmen, die zugleich Matratzen und Decken ersetzten.


    So erinnert sich in seinem Buch "Die Zone der totalen Ruhe" der Russlanddeutsche Gerhard Wolter an seine Zeit in der sogenannten Arbeitsarmee. 1941 wurde er als junger Mann in die Trudarmee, so heißt Arbeitsarmee auf Russisch, eingezogen - zwangsverpflichtet. Denn in Wirklichkeit handelte es sich bei dieser Armee um Strafabteilungen für Russlanddeutsche, wohin nach dem deutschen Überfall auf Anordnung des sowjetischen Staatskomitees für Verteidigung zunächst alle Männer der deutschen Minderheit zwischen 17 und 50 Jahren mobilisiert wurden. Wer diese Verordnung nicht befolgte, wurde mit Strafmaßnahmen bis hin zur Todesstrafe bedroht.
    Ein Jahr später, 1942, wurden auch die Frauen der deutschen Volksgruppe zur Zwangsarbeit abgeholt. Nur Schwangere und Mütter mit Kindern unter drei Jahren blieben davon verschont. Hilda Zitzer, damals 16 Jahre alt, hat noch heute im Ohr wie damals der Eisenbahnzug mit 320 Frauen und Mädchen losfuhr:

    Das war ein Geschrei. Das war ein Geschrei. Die Weiber mussten ihre Kinder zurücklassen. Kannst dir das vorstellen? Das Kind bleibt zurück. Das war schrecklich für die Weiber, wie die geweint haben. Ich bin so aufgeregt. Wenn man sich so erinnert.

    Auch Mina Safreider muss noch heute mit den Tränen kämpfen, wenn sie beschreibt, wie sie als ganz junges Mädchen von ihrer Mutter getrennt wurde:

    Ja, Kind, da kann ich gleich nicht reden. Ich habe so geweint. Die haben sie auf die Wagen gesetzt und sind fortgefahren. Und die Kinder, es war Winter schon dort in Sibirien, barfuß sind wir hinterhergelaufen, und haben geweint und die Miliz hat uns weggejagt.

    Zu diesem Zeitpunkt befanden sich bereits sämtliche Erwachsene der Großfamilie in der Trudarmee. Nur die achtjährige Mina, ihre sechsjährige Schwester, der vierjährige Bruder und fünf weitere Kinder der Großfamilie blieben, sich selbst überlassen, zurück:

    und da sind wir betteln gegangen in dem Dorf Kind, das kann man gar nicht erzählen. Die Leute hatten Hunde dort in den Höfen, wo wir hinein wollten, konnte man nicht hinein. Wenn wir doch noch hineinkamen, dann haben die Leute auf Russisch gefragt: ”Kinder, was wollt ihr? Wo seid ihr her?” Wir kannten doch kein Wort Russisch. Da haben wir mit den Fingern gezeigt und gesagt: "Hunger haben wir, Hunger!” Da haben sie uns gekochte Kartoffel gegeben Brot gab man uns selten, ganz selten. Aber wir haben gelebt, wir haben gelebt!

    Im Gegensatz zu zahlreichen Kindern der deutschen Minderheit, die schließlich verwahrlosten oder sogar verhungerten, nachdem ihre Eltern in die Trudarmee eingezogen worden waren, hatten Mina und ihre Geschwister noch Glück. Sie kamen in ein Waisenhaus, wo ihre Mutter sie nach dem Krieg wiedergefunden hat.
    In der Trudarmee waren die Russlanddeutschen den Bedingungen und Arbeitsnormen der übrigen sowjetischen Straflager und somit auch dem berüchtigten System des GULag unterworfen. Unter diesem harten Sonderregime wurden sie beim Wiederaufbau von evakuierten Industrieanlagen, im Berg-, Straßen- und Bahnbau sowie in der Land- und Forstwirtschaft eingesetzt. So auch Hilda Zitzer, die in einer sibirischen Munitionsfabrik arbeiteten musste. Sie lötete Munitionskisten und musste sie mit ätzender Säure behandeln:

    Da war der Arbeitstag von morgens sieben bis in den Abend. Zwölf Stunden mussten wir arbeiten. Und Geld haben wir verdient: manchmal 300, manchmal 500 Rubel. 320 Rubel hat das Brot gekostet. Der Mensch, wenn der Hunger hat, dem ist es egal. Wir waren ja keine Menschen mehr. Ich war verlumpt und dreckig. Ich habe oft gelegen und gedacht: "Wenn ich doch bis morgen früh tot wäre!

    Viele weitere Schicksale im Buch "Die Zone der totalen Ruhe” ähneln denen von Hilda Zitzer und Mina Safreider. Gesammelt und aufgezeichnet hat sie der inzwischen verstorbene russlanddeutsche Autor Gerhard Wolter. Um solche berührenden, bestürzenden und nicht selten erschütternden Lebensgeschichten der Nachwelt zu erhalten und nicht dem allmählichen Vergessen zu überlassen, schrieb er nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion das erste Buch über das Schicksal der russlanddeutschen Trudarmisten. Daraufhin erreichten den Autor Hunderte von Briefen, in denen viele zum ersten Mal über ihre Zeit in der so genannten Arbeitsarmee erzählten. Das Material dieser Briefe bildete die Grundlage für die zweite Ausgabe der "Zone der totalen Ruhe”, die diesmal nicht in russischer, sondern in deutscher Sprache erschien. Anzumerken bleibt: Ein geschliffener Formulierer ist Gerhard Wolter sicherlich nicht gewesen. Und nicht wenige seiner Kommentare fallen - gemessen an heutigen Lesegewohnheiten - einfach zu pathetisch aus:

    Jetzt steht mir das Allerschwerste bevor: vom Aufenthalt der deutschen Frauen in der Arbeitsarmee zu erzählen. Etwas von jenen mitzuteilen, die unlängst noch Dorf- und Stadtschönheiten waren, liebevolle Ehefrauen und zärtliche Freundinnen. 300.000 liebende Mütter, Frauen, Schwestern, Töchter verwandelten sich durch einen Federstreich Stalins in Sklavinnen des Sowjetstaats.

    Oft hat Wolters Sprache auch einen missverständlichen Zungenschlag. So zum Beispiel, wenn er schreibt, dass manche der Überlebenden ihre deutsche Nationalität aufgegeben, "geopfert" hätten, indem sie Angehörige anderer, nicht-deutscher Nationen heirateten.
    Aber: Weil hier zum ersten Mal Hunderten ehemaliger Trudarmisten die Möglichkeit geboten wurde, über ihr Schicksal zu informieren, bleibt "Die Zone der totalen Ruhe" insgesamt ein überaus lesenswertes Buch aus dem Bereich der Erinnerungsliteratur, der so genannten "oral history".
    "Die Zone der totalen Ruhe” - erzählt über die bleierne Ruhe in der Todeszone und der Sowjetunion bis zum Zusammenbruch der UdSSR, in der über das Schicksal der deutschen Trudarmisten bis zuletzt nicht laut erzählt oder geschrieben werden durfte.

    Katharina Heinrich besprach: Gerhard Wolter: "Die Zone der totalen Ruhe", erschienen im Waldemar-Weber-Verlag, Augsburg. 480 Seiten. Das Buch kostet 17 Euro 90.