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Gerolsteiner Partygesellschaft

Christoph Marthaler nimmt sich immer wieder abgesunkenen Operettenguts an. Werktreue ist dabei nicht unbedingt zu erwarten. Und so war das Baseler Publikum gespannt, was er aus Jacques Offenbachs "La Grande-duchesse de Gérolstein" machen würde.

Von Frieder Reininghaus | 21.12.2009
    Das Marthalern bedarf keiner Begründung. Längst ist es preis- und festredenwürdig: "Stägeli uf, Stägeli ab".

    Und nun nach zwei Jahrzehnten wieder Basel. Gleichsam Heimspiel. Eine innerstädtische Installation erfüllt das Große Haus von der Unterbühne bis zum Bühnenhimmel, von links außen, wo diskret die elektronische Zugangssperre wartet, bis ganz nach rechts, wo sich die Einfahrt zur Tiefgarage befindet. Anna Viebrock hat sich in Köln, Frankfurt oder Zürich umgesehen, wo sich ja überall auch solche funktional-repräsentative Architekturobjekte der 60er-Jahre finden. Etwas souterrain wartet ein Modegeschäft auf zahlkräftige Kundschaft. Nebenan der neu eröffnete Waffenladen, in dem weit mehr los ist. Darüber in zwei Etagen der Regierungssitz des Großherzogtum Gérolstein, das es wegen seiner unerschöpflichen Mineralwasservorkommen und mit seinen stets bestens beträuten Radrennfahrern zu respektablem Wohlstand gebracht haben muss.

    Die Großherzogin Anne Sophie von Otter I. wurde überlebensgroß in Essig und Öl und Sternen im Haar auf die Leinwand hinterm Amtsschreibtisch gebannt, als wäre sie Kaiserin Sisi persönlich. Und ganz hinten oben in der Ecke intoniert Bendix Dethleffsen am schwarzen Klavier schon einmal das "Meistersinger"-Vorspiel, um auf große Zeiten einzustimmen. Gründlich, gleichsam in Echtzeit, geht der Sicherheitscheck vonstatten; es werden aber keine Wanzen gefunden und alle im Publikum wissen schon jetzt, dass da eine unnütze Gesellschaft von lauter Müßiggängern hinter den großen Glasscheiben versammelt ist, denen Wanda mit dem Wischtüchlein letzten Glanz verleiht. Derweil treffen die Mitglieder des kammerorchesterbasel in Tarnanzügen und Springerstiefeln im Graben ein, zuletzt Hervé Niquet, der wie ein schneidiger französischer Hauptmann aussieht. Und gleich den ersten falschen Einsatzbefehl gibt: "Tannhäuser" statt "Großherzogin". Der Witz, wenn er als solcher gemeint war, ist subtil. Etwas gröber der inzwischen klassische Tenor-Witz, die laut ins Parkett gestellte Frage: "Ist ein Regisseur im Publikum" (wir kommen auf sie zurück).

    Nach einer halben Stunde des von vielen Repetitionen gestreckten Präludiums kommt die Kapelle endlich in die Spur der Grand-Duchesse. Und es werden in den folgenden zwei Stunden auch einige Musiknummern aus Offenbachs Operette in Marthalers Warteübung eingebaut.

    Die originale Handlung des Librettos von Henri Meilhac und Ludovic Halévy verfügt über drei Stränge: Da gibt es die junge Monarchin, die sich der Lenkung durch ihre Vormünder entzieht und ihr Liebesleben mitsamt der daran geknüpften Politik in die eigenen aktiven Hände nimmt. Gegenläufig geht es um die Dauerhaftigkeit der wunderbaren jungen Liebe von Grenadier Fritz und Wanda, im Basler Fall dem ansehnlich seinen Mann stehenden Norman Reinhardt und der quirlig-dienstbaren Agata Wilewska mit der überzeugend durchschlagenden Stimme. Und quer dazu geht es um einen strategischen Sieg des Kriegs über den Krieg und der Champagnerlaune über den Militarismus.

    Marthalers Personal hat sich überlebt. Christoph Homberger als General Boum hat Angst vorm Feind bei Tag und Nacht; er schont die Reste seiner Stimme, sorgt aber doch noch für unpassend-passende Trompeteneinwürfe. Erschlafft der ganze Hof und selbst die Grand-Duchesse in der Blüte ihrer Jahre. Es kann nicht viel Lachen im Hals stecken bleiben, weil angesichts der Redundanzen der Inszenierung kaum ein solches aufkommt. Wie allen anderen Geist so gibt diese Gerolsteiner Partygesellschaft den musikalischen Offenbachs auf und sie hält es dann, warum auch immer, lieber mit Händel und Brahms. Die Steilvorlagen des Stücks hinsichtlich einer Frau, die aus Gründen der Emanzipation von ihren Vorbildern Krieg führt, wurde ebenso ausgelassen wie die liebevolle Würdigung einer militärischen Intervention als humanitärer Mission. Der zum General beförderte Grenadier Fritz führt Sieg und Frieden herbei, indem er statt Granaten 120.000 Flaschen französischer Alkoholika zum Einsatz bringt. Da könnte Oberst Klein in Afghanistan, hätte er die Größe von Fritz, doch noch was lernen.
    Vom Ende her betrachtet war die eingangs ans Auditorium gerichtete Frage: "Ist ein Regisseur im Publikum" das einzige wahrhaft kritische Moment der neuen Marthaler-Kreation. Selbstkritisch sogar.