Orgelmusik stellen wir Ihnen an dieser Stelle nicht sehr oft vor, umso gewichtiger die Reihe, die heute unser Thema sein soll: die Einspielung aller Orgelwerke Johann Sebastian Bachs durch Gerhard Weinberger. Wenn man bedenkt, wie heute manch große Schallplattenfirma eine nur mittelmäßig interessante Aufnahme trotz geringer musikalischer Masse oder durchschnittlicher Qualität mit viel Werbeaufwand zu einem absolut einzigartigen Großereignis aufbläst, dann ist die Bescheidenheit, mit der sich diese inzwischen aus 19 CDs bestehende Gesamtaufnahme sozusagen klammheimlich auf den CD-Markt schleicht, auch schon wieder einzigartig.
Dabei stellt sich hier überhaupt nicht die im gehörten Choralvorspiel ausgesprochene Frage "Wo soll ich fliehen hin?", denn weder die Plattenfirma cpo noch der Interpret müssen sich mit ihrer neuen Gesamtaufnahme der Orgelwerke Bachs vor irgendwem verstecken. Sicher, sie sind nicht die ersten, die diese Großtat vollbringen, aber sie haben musikalisch wie editorisch bisher beste Qualität abgeliefert. Besonders überzeugend ist die konzeptionelle Idee, ausnahmslos historische Instrumente des 18. Jahrhunderts zu verwenden, bei denen der Originalklang weitgehend erhalten geblieben ist. Der Schwerpunkt liegt dabei auf Orgeln in Thüringen und Sachsen - der Heimat und Wirkungsstätte der Familie Bach.
In dieser Form war das in früheren Jahren nicht möglich, denn erst durch die Öffnung der innerdeutschen Grenze ergab sich der Zugang zu diesen Instrumenten. Andererseits hatte das vergleichsweise geringe Interesse der offiziellen DDR an Kirchen- und Orgelmusik auch zumindest in dem Sinne sein Gutes, dass kein Geld dafür vorhanden war, Orgeln zu erweitern, umzubauen, zu modernisieren und dabei womöglich ihre historische Substanz zu zerstören.
Wie nah man bei dieser neuen Reihe dem vermuteten Lieblingsorgelklang Johann Sebastian Bachs kommen kann, zeigt das Beispiel der ebenso gut erhaltenen wie prächtig anzuschauenden Orgel in der St.-Wenzels-Kirche von Naumburg. Als diese Orgel 1743 gebaut werden sollte, hat Bach vermutlich schon bei der Auftragsvergabe an den Orgelbauer Zacharias Hildebrandt und bei der Disposition und Gestaltung beratend mitgewirkt. Sicher überliefert ist jedenfalls, dass der damalige Starorgelbauer Gottfried Silbermann und Bach im September 1746 vier ganze Tage in Naumburg verbrachten, um das neue Orgelwerk abzunehmen. Das Protokoll lobte die Arbeit von Meister Hildebrandt, empfahl aber, das ganze Werk noch einmal Register für Register durchzugehen, um eine bessere "Egalite ...in Intonation, Claviatur und Registeratur" zu erreichen.
Gleich hören Sie, wie das inzwischen mehr als 250 Jahre alte Instrument heute unter den Händen (und Füßen) von Gerhard Weinberger klingt. Streng genommen ist die folgende Musik übrigens nicht von Bach, denn es handelt sich um eine der Orgeltranskriptionen, die Bach von Instrumentalkonzerten von ihm bewunderter italienischer Meister angefertigt hat: hier ist es der 1. Satz des Concerto op. 3 Nr. 8 für 2 Violinen, Streicher und Basso continuo von Antonio Vivaldi.
Bei dieser Bach-Orgelwerke-Gesamteinspielung überzeugt also die Grundkonzeption, was die Auswahl passender Instrumente angeht. Dabei ergibt sich im Laufe der inzwischen 19 CDs eine große Vielfalt von der kleinen einmanualigen Orgel bis zum großen mehrmanualigen Instrument. Entsprechend vielfältig und klanglich unterschiedlich sind auch die Kirchenräume mit ihrer Akustik.
Die Produzenten setzen das alles mit Bedacht ein, nicht, um irgendeinen raffinierten Sound zu erzeugen, sondern um dem Werk und den Intentionen des Komponisten so gut wie möglich gerecht zu werden. Hinzu kommt, dass mit Gerhard Weinberger nicht nur ein vorzüglicher, virtuoser Musiker, sondern auch ein großer Kenner der Musik dieser Zeit am Spieltisch sitzt.
Weinberger ist hervorgetreten als Herausgeber von Orgel- und geistlicher Chormusik des 18. Jahrhunderts, u. a. der ersten wissenschaftlichen Gesamtausgabe der Orgelwerke des bedeutenden Bachschülers Johann Ludwig Krebs. Außerdem schrieb er neben zahlreichen Fachartikeln zusammen mit Ewald Kooiman und Hermann J. Busch ein Buch mit der umfassenden Darstellung der in den letzten Jahrzehnten gewonnenen Erkenntnisse über eine den Quellen des 18. Jahrhunderts entsprechende Aufführungspraxis der Orgelwerke J. S. Bachs.
Weinberger, Jahrgang 1948, studierte bei Franz Lehrndorfer an der Hochschule für Musik München. 1971 war er Preisträger im Fach Orgel des internationalen Musikwettbewerbs der ARD. Nach einer zweijährigen Tätigkeit als Chordirektor an der Basilika St. Lorenz in Kempten wurde er 1974 an die Hochschule für Musik München berufen, wo er bis 1983 unterrichtete. Seitdem leitet er als Professor für Orgel eine internationale Orgelklasse an der Hochschule für Musik Detmold und ist Leiter des dortigen Studiengangs Kirchenmusik.
Seit 1984 wirkt er zusätzlich als Lehrbeauftragter für Orgel an der Hochschule für Musik Würzburg. In Anerkennung seiner künstlerischen und pädagogischen Verdienste wurde Gerhard Weinberger als ordentliches Mitglied in die Europäische Akademie der Wissenschaften und Künste berufen. Er ist außerdem Mitglied des Direktoriums der Neuen Bachgesellschaft Leipzig. Vor allem aber: Weinberger ist ein vorzüglicher Organist, der überlegt phrasiert, überaus farbig registriert und alles mit großer Musikalität und technischer Perfektion scheinbar mühelos gestaltet. Abseits von jeglichem Medienrummel schickt sich hier jemand an, eine richtungweisende Referenzeinspielung des Bachschen Orgelgesamtwerks abzuschließen.
Die Neue Platte - heute mit Orgelmusik: Sie hörten Ausschnitte aus der sukzessiven Gesamteinspielung der Orgelwerke Johann Sebastian Bachs, die inzwischen bei der Firma cpo bei der 19. CD angekommen ist. Interpret aller Werke ist Gerhard Weinberger. Zuletzt spielte er an der Hildebrandt Orgel in Störmthal in Sachsen die dreisätzige Fantasia in G, BWV 571.
Titel: Johann Sebastian Bach: Orgelwerke Vol. 15 + Vol. 18
Solist: Gerhard Weinberger
Label: cpo
Labelcode: LC 08492
Bestellnr.: 777 135-2 beziehungsweise 777 018-2