Band 75 trägt einen unscheinbaren Doppeltitel: Zu Hölderlin, Griechenlandreisen. Er enthält kleinere Texte vornehmlich aus Mitte der vierziger Jahre, aber auch einige eher persönliche bzw. autobiographische Berichte von Griechenlandreisen aus den sechziger Jahren. Wenn man das Werk Heideggers etwas kennt, dann verwundert diese Mischung nicht, erweisen sich die im Band enthaltenen Texte auch keineswegs als zweitrangig. Vielmehr führen sie äußerst erhellend die Wende in Heideggers Denken fort, die er seit Mitte der dreißiger Jahre verfolgt.
Berühmt wurde Heidegger mit etwa 38 Jahren, als 1927 sein Buch Sein und Zeit erscheint. Er gehörte zu jenen intellektuellen Generationen um den ersten Weltkrieg, die dem wissenschaftlichen Fortschritt sehr skeptisch gegenüberstanden. In einem Fernsehgespräch zitiert 1969 Heidegger noch seine programmatischen Worte aus dem Jahre 1929:
Ich zitiere Ihnen den Satz aus der Vorlesung Was ist Metaphysik?: 'Die Gebiete der Wissenschaften liegen weit auseinander. Die Behandlungsart ihrer Gegenstände ist grundverschieden. Diese zerfallene Vielfältigkeit von Disziplinen wird heute nur noch durch die technische Organisation von Universitäten und Fakultäten zusammen - und durch die praktische Zwecksetzung der Fächer in einer Bedeutung gehalten. Dagegen ist die Verwurzelung der Wissenschaften in ihrem Wesensgrund abge-storben.
Wissenschaft und Technik prägen dabei die Welt derart, dass die Menschen den Bezug zu ihrer Herkunft, zu ihrem eigentlichen Wesen verloren haben. Sie leben im entfremde-ten Zustand der Uneigentlichkeit. Auf der Suche nach einer möglichen Rückgewinnung der Eigentlichkeit, des menschlichen Wesens gelangt Heidegger zu Einsicht, dass die Uneigentlichkeit einem lange herkommenden Prozess entspringt: Seit der antiken griechi-schen Philosophie wird nämlich die Frage nach dem Sinn von Sein immer seltener und kaum wirklich gestellt, so dass sie heute in der technischen Welt völlig in Vergessenheit geraten ist mit der Frage nach dem Sinn von Sein klingt die Frage nach dem Sinn der Existenz oder dem Sinn der Welt an. Für Heidegger geht es allerdings mehr noch darum, was Sein überhaupt bedeutet: Was bedeutet es, wenn ich sage, dass dieser Stuhl hier isti Eine Frage, die sich kaum schlüssig beantworten lässt und sich dem Nachdenkenden trotzdem immer wieder stellt. Die technische Welt aber verdrängt solche Fragen.
Auch Heidegger muss seinerseits im Laufe der dreißiger Jahre erkennen, dass man das eigentliche Wesen des Menschen kaum noch feststellen oder erfahren kann. Permanent verändert sich die Welt. Doch die Voraussetzung der Weltveränderung sind immer be-stimmte Seinsverständnisse, Interpretationen, Weltbilder. Heidegger stellt fest:
Die Frage nach der Forderung der Weltveränderung führt auf einen vielzitierten Satz von Karl Marx aus den 'Thesen über Feuerbach' zurück. Ich will ihn genau zitieren und vorlesen: 'Die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpre-tiert', es kömmt darauf an, sie zu verändernd Bei der Zitation dieses Satzes und bei der Befolgung dieses Satzes übersieht man, dass eine Weltveränderung eine Ände-rung der Weltvorstellung voraussetzt und dass eine Weltvorstellung nur dadurch zu gewinnen ist, dass man die Welt zureichend interpretierte.
Letztlich bleibt ein solches Weltbild, eine solche Interpretation des Seins immer subjek-tiv und daher auch austauschbar bzw. beliebig. Es gibt nicht das richtige Weltbild. Wenn man dieser Beliebigkeit begegnen will, dann muß man - das betont Heidegger Ende der dreißiger Jahre in seinem zweiten Hauptwerk Beiträge zur Philosophie, das posthum 1989 erschien - zunächst zurück zu den griechischen Ursprüngen des Denkens gehen, als noch nicht technisch und wissenschaftlich verstellt gedacht wurde. Im Rückgriff darauf fragt er nach einem anderen Anfang des Denkens heute, das wieder in der Lage sein sollte, die richtigen Fragen zu stellen, bzw. dem menschlichen Leben und dessen Sinn auch wirklich nachzuspüren. Die Berichte über Heideggers Griechenlandreisen aus den sechziger Jahren spiegeln genau diese Bemühung aus Heideggers zweitem Hauptwerk, dem griechischen Denken noch an Ort und Stelle nachzusinnen - und zugleich sind sie doch auch ein touristisch biographisches Zeugnis.
Aber wenn sich die Wissenschaft nur um das technisch Machbare kümmert, woran soll sich dann ein neues philosophisches Nachdenken heute orientieren? An der Dichtung, der einzigen und im 20. Jahrhundert durchaus beliebten Alternative zu Wissenschaft und Technik selbst beim Erzfeind Heideggers, bei Theodor Adorno. Und natürlich an einem Dichter, der sich selbst in seiner Dichtung ausdrücklich auf Griechenland bezieht, näm-lich Hölderlin - die beiden programmatischen Themen des neuen vorliegenden Bandes 75, die die Konzeption Heideggers in der mittleren Phase seines Schaffens umreißen: ein Neuanfang des Denkens im Rückgriff auf den griechischen Anfang und mit dem Blick auf die Dichtung.
Heidegger bringt das Denken mit Hölderlins Dichtung in die Nähe des Lebendigen und Schönen, das Hölderlin auch gerade im antiken Griechenland findet. Heidegger zitiert in einem Radio vortrag Was heißt Denken? aus dem Jahre 1952 Hölderlins Gedicht Sokrates und Alcibiades:
'Warum huldigest du, heiliger Sokrates, / Diesem Jünglinge stets? Kennest du Größeres nicht? / Warum sieht mit Liebe, / Wie auf die Götter, dein Äug' auf ihn?' Die Antwort gibt die zweite Strophe. 'Wer das Tiefste gedacht, liebt das Lebendigste, / Hohe Jugend versteht, wer in die Welt geblickt, / Und es neigen die Weisen / Oft am Ende dem Schönen sich.
Dann aber begegnet die Welt dem Menschen nicht mehr als umfassende Einheit, als die eine und einzige Welt, in der alles mit allem zusammenhängt, die die Wissenschaft er-klärt oder hinter der sich der eine allumfassende Gott verbirgt. Der Mensch begegnet der Welt dichterisch in einer Vielzahl von Ereignissen bzw. Erzählungen. D.h. die Welt be-steht heute aus einer Vielzahl von Ereignissen, eben von Welten und deren Interpretatio-nen. Das Wort Ereignis entfaltet sich in den dreißiger Jahren im Werk Heideggers und wird mit dem Thema Technik zusammen sein Spätwerk der fünfziger und sechziger Jahre beherrschen. In einem Vortrag Der Satz der Identität sagt Heidegger 1957:
Das Wort Ereignis soll jetzt, aus der gewiesenen Sache her gedacht, als Leitwort im Dienst des Denkens sprechen. (. . .)Was es nennt, ereignet sich nur in der Ein-zahl, nein, nicht einmal mehr in einer Zahl, sondern einzig.
In Hölderlins Dichtung erfährt man, dass der Mensch der Welt im Ereignis begegnet, das der Dichter in Worte fasst. Wie sagt Hölderlin: "Was bleibet, stiften die Dichter." Aber - das betont Heidegger in einem Texte des Bandes 75 aus dem Jahre 1939 - darin verkünden sich keine vaterländischen oder religiösen Sehnsüchte, wie Hölderlin ja gerne interpretiert wurde. Ja, Heidegger stellt bereits 1939 fest: Dann "wird der fragende Blick nicht mehr ausweichen vor dem, was 'ist' vor der Seinsverlassenheit des Seienden, die sich in der Verhüllung durch die Romantik von 'Blut', 'Boden', 'Volkstum' und 'Reich' mit einem entsetzenden Zeugnis bestätigt." Schade, dass nach den vielen Debatten um Heideggers Verstrickung in den Nationalsozialismus und sein beharrliches Schweigen dazu diese eindeutige Ablehnung erst heute veröffentlicht wird.
Berühmt wurde Heidegger mit etwa 38 Jahren, als 1927 sein Buch Sein und Zeit erscheint. Er gehörte zu jenen intellektuellen Generationen um den ersten Weltkrieg, die dem wissenschaftlichen Fortschritt sehr skeptisch gegenüberstanden. In einem Fernsehgespräch zitiert 1969 Heidegger noch seine programmatischen Worte aus dem Jahre 1929:
Ich zitiere Ihnen den Satz aus der Vorlesung Was ist Metaphysik?: 'Die Gebiete der Wissenschaften liegen weit auseinander. Die Behandlungsart ihrer Gegenstände ist grundverschieden. Diese zerfallene Vielfältigkeit von Disziplinen wird heute nur noch durch die technische Organisation von Universitäten und Fakultäten zusammen - und durch die praktische Zwecksetzung der Fächer in einer Bedeutung gehalten. Dagegen ist die Verwurzelung der Wissenschaften in ihrem Wesensgrund abge-storben.
Wissenschaft und Technik prägen dabei die Welt derart, dass die Menschen den Bezug zu ihrer Herkunft, zu ihrem eigentlichen Wesen verloren haben. Sie leben im entfremde-ten Zustand der Uneigentlichkeit. Auf der Suche nach einer möglichen Rückgewinnung der Eigentlichkeit, des menschlichen Wesens gelangt Heidegger zu Einsicht, dass die Uneigentlichkeit einem lange herkommenden Prozess entspringt: Seit der antiken griechi-schen Philosophie wird nämlich die Frage nach dem Sinn von Sein immer seltener und kaum wirklich gestellt, so dass sie heute in der technischen Welt völlig in Vergessenheit geraten ist mit der Frage nach dem Sinn von Sein klingt die Frage nach dem Sinn der Existenz oder dem Sinn der Welt an. Für Heidegger geht es allerdings mehr noch darum, was Sein überhaupt bedeutet: Was bedeutet es, wenn ich sage, dass dieser Stuhl hier isti Eine Frage, die sich kaum schlüssig beantworten lässt und sich dem Nachdenkenden trotzdem immer wieder stellt. Die technische Welt aber verdrängt solche Fragen.
Auch Heidegger muss seinerseits im Laufe der dreißiger Jahre erkennen, dass man das eigentliche Wesen des Menschen kaum noch feststellen oder erfahren kann. Permanent verändert sich die Welt. Doch die Voraussetzung der Weltveränderung sind immer be-stimmte Seinsverständnisse, Interpretationen, Weltbilder. Heidegger stellt fest:
Die Frage nach der Forderung der Weltveränderung führt auf einen vielzitierten Satz von Karl Marx aus den 'Thesen über Feuerbach' zurück. Ich will ihn genau zitieren und vorlesen: 'Die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpre-tiert', es kömmt darauf an, sie zu verändernd Bei der Zitation dieses Satzes und bei der Befolgung dieses Satzes übersieht man, dass eine Weltveränderung eine Ände-rung der Weltvorstellung voraussetzt und dass eine Weltvorstellung nur dadurch zu gewinnen ist, dass man die Welt zureichend interpretierte.
Letztlich bleibt ein solches Weltbild, eine solche Interpretation des Seins immer subjek-tiv und daher auch austauschbar bzw. beliebig. Es gibt nicht das richtige Weltbild. Wenn man dieser Beliebigkeit begegnen will, dann muß man - das betont Heidegger Ende der dreißiger Jahre in seinem zweiten Hauptwerk Beiträge zur Philosophie, das posthum 1989 erschien - zunächst zurück zu den griechischen Ursprüngen des Denkens gehen, als noch nicht technisch und wissenschaftlich verstellt gedacht wurde. Im Rückgriff darauf fragt er nach einem anderen Anfang des Denkens heute, das wieder in der Lage sein sollte, die richtigen Fragen zu stellen, bzw. dem menschlichen Leben und dessen Sinn auch wirklich nachzuspüren. Die Berichte über Heideggers Griechenlandreisen aus den sechziger Jahren spiegeln genau diese Bemühung aus Heideggers zweitem Hauptwerk, dem griechischen Denken noch an Ort und Stelle nachzusinnen - und zugleich sind sie doch auch ein touristisch biographisches Zeugnis.
Aber wenn sich die Wissenschaft nur um das technisch Machbare kümmert, woran soll sich dann ein neues philosophisches Nachdenken heute orientieren? An der Dichtung, der einzigen und im 20. Jahrhundert durchaus beliebten Alternative zu Wissenschaft und Technik selbst beim Erzfeind Heideggers, bei Theodor Adorno. Und natürlich an einem Dichter, der sich selbst in seiner Dichtung ausdrücklich auf Griechenland bezieht, näm-lich Hölderlin - die beiden programmatischen Themen des neuen vorliegenden Bandes 75, die die Konzeption Heideggers in der mittleren Phase seines Schaffens umreißen: ein Neuanfang des Denkens im Rückgriff auf den griechischen Anfang und mit dem Blick auf die Dichtung.
Heidegger bringt das Denken mit Hölderlins Dichtung in die Nähe des Lebendigen und Schönen, das Hölderlin auch gerade im antiken Griechenland findet. Heidegger zitiert in einem Radio vortrag Was heißt Denken? aus dem Jahre 1952 Hölderlins Gedicht Sokrates und Alcibiades:
'Warum huldigest du, heiliger Sokrates, / Diesem Jünglinge stets? Kennest du Größeres nicht? / Warum sieht mit Liebe, / Wie auf die Götter, dein Äug' auf ihn?' Die Antwort gibt die zweite Strophe. 'Wer das Tiefste gedacht, liebt das Lebendigste, / Hohe Jugend versteht, wer in die Welt geblickt, / Und es neigen die Weisen / Oft am Ende dem Schönen sich.
Dann aber begegnet die Welt dem Menschen nicht mehr als umfassende Einheit, als die eine und einzige Welt, in der alles mit allem zusammenhängt, die die Wissenschaft er-klärt oder hinter der sich der eine allumfassende Gott verbirgt. Der Mensch begegnet der Welt dichterisch in einer Vielzahl von Ereignissen bzw. Erzählungen. D.h. die Welt be-steht heute aus einer Vielzahl von Ereignissen, eben von Welten und deren Interpretatio-nen. Das Wort Ereignis entfaltet sich in den dreißiger Jahren im Werk Heideggers und wird mit dem Thema Technik zusammen sein Spätwerk der fünfziger und sechziger Jahre beherrschen. In einem Vortrag Der Satz der Identität sagt Heidegger 1957:
Das Wort Ereignis soll jetzt, aus der gewiesenen Sache her gedacht, als Leitwort im Dienst des Denkens sprechen. (. . .)Was es nennt, ereignet sich nur in der Ein-zahl, nein, nicht einmal mehr in einer Zahl, sondern einzig.
In Hölderlins Dichtung erfährt man, dass der Mensch der Welt im Ereignis begegnet, das der Dichter in Worte fasst. Wie sagt Hölderlin: "Was bleibet, stiften die Dichter." Aber - das betont Heidegger in einem Texte des Bandes 75 aus dem Jahre 1939 - darin verkünden sich keine vaterländischen oder religiösen Sehnsüchte, wie Hölderlin ja gerne interpretiert wurde. Ja, Heidegger stellt bereits 1939 fest: Dann "wird der fragende Blick nicht mehr ausweichen vor dem, was 'ist' vor der Seinsverlassenheit des Seienden, die sich in der Verhüllung durch die Romantik von 'Blut', 'Boden', 'Volkstum' und 'Reich' mit einem entsetzenden Zeugnis bestätigt." Schade, dass nach den vielen Debatten um Heideggers Verstrickung in den Nationalsozialismus und sein beharrliches Schweigen dazu diese eindeutige Ablehnung erst heute veröffentlicht wird.