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Gesang der Unterwelt

Am Freitag hatte die letzte der vier Neuproduktionen beim Festival von Aix-en-provence Premiere - obwohl "Neuproduktion" gehört da in doppelte Anführungszeichen. Denn das Bühnenbild von Roland Aeschlimann und die Inszenierung von Choreographin Trisha Brown ist schon vor neun Jahren in Brüssel entstanden; und überhaupt ist das Wort "neu" im Zusammenhang mit dem Festival in Aix nicht so recht am Platze.

Von Frieder Reininghaus |
    In der Sommerfrische mag man sich nicht unbedingt mit den Problemen beschweren, die zuhause Kopfzerbrechen und latente Übelkeit verursachen. Also bitte kein deutsches Problemgrübeltheater im sonnigen Süden! Sondern: leichter Zephyr, wohlgelaunt präsentierte moderate Moderne. Und vor allem: ausreichend Distanz von allen aktuellen garstigen politischen Themen und gesellschaftlichen Problemen! Nach dem Motto: Das Leben ist schwer genug - nehmen wir wenigstens die Kunst (wie das Abend-Menü) möglichst leicht. Und guten Appetit auch weiterhin ...

    Ernsthafte Anmutungen oder gar Zumutungen von Regisseuren - diese Gefahr hat gerade bei den Festspielen in Aix-en-provence noch nie gedroht, wiewohl Herbert Wernicke hier 1999 eine "Schöne Helena" präsentierte - mit kritischen Einsprengseln gegen die Politik der Europäischen Union. Dergleichen ist ein einsamer Fehltritt geblieben. In Aix wird im Namen einer ständig beschworenen "Tradition" eine konventionelle Banalität gepflegt, die von den Betreibern euphemisch zum "Klassizismus" hochstilisiert wird. Der neue Direktor des Festivals, Bernard Foccroulle, hat sogar ein "Ideal": seine "Vision von heute - 2007" sucht, wie er sagt, "einen kurzen Weg" zu den Komponisten.
    Nun ist der Weg, den Trisha Brown und René Jacobs zu Monteverdi fanden, alles andere als kurz und gradlinig. Aber niemand möchte sich heute daran erinnern, dass die Monteverdi-Renaissance in den 20er und 30er Jahren sich zunächst handfest der Förderung durch die italienischen Faschisten verdankte, denen es um ein historisches Monument italienischer Größe zu tun war. Und dann realisiert das Concerto Vocale, eine klangfarbenfrohe Musikantenschar, keineswegs einen Urtext, sondern stützt die Auszierungen und Anreicherungen der kargen Noten auf eine lange und von Heroisierungsabsichten geprägte Aufführungspraxis.

    Trisha Brown hat nicht nur alle Insignien der Schäfer- und Nymphen-Welt wegkürzen lassen, die für die Frühgeschichte der Oper ja so bedeutsam war. Sie ließ auch dem Tod der Eurydike allen Schrecken nehmen. In Browns streng stilisierter Choreographie dominiert eine bei Robert Wilson abgeschaute Handarbeit über die Bemühung der Beine. Schlimme Nachrichten lösen vor allem Erstarrung aus. Bodenturnübungen von Lemuren erscheinen durchaus nicht unangebracht zur Darstellung jener schattigen "anderen Welt", in der sich die alten Griechen ein Leben nach dem Tod vorstellten. Das Schaukeln im Luftraum ergibt ebenso schöne Bilder wie das Paddeln des Charon, der die Seelen über den Acharon in das Reich des ewigen Dunkels befördert. Monteverdis Musik spricht allerdings von ganz anderem als schönem Design und gepflegten Bewegungen. Freilich eignet sich eine derart purifizierende, die Probleme neutralisierende und quietistische Produktion nicht als Appetithappen in einem Abonnement-Betrieb, sondern auch bestens als Platzhalter im Hochpreis-Segment eines Festivals, dessen Publikum sich kaum mit dem in der belgischen Hauptstadt überschneiden dürfte. Und hörenswert ist das, was die Crew um den Orfeo Stéphane Degout bietet, womöglich auch ein zweites Mal.

    Von ähnlicher Stilisierung und szenischer Dünnlichkeit wie die Ausflüge zu den Tonkünsten des frühen 17. Jahrhunderts erwies sich in Aix-en-provence dann auch die zunächst ins Wasser gefallene, inzwischen nachgeholte "Hochzeit des Figaro". An dem, was unter Leitung von Daniel Harding vom Mahler Chamber Orchestra und einer Sänger-Crew aus der dritten Reihe abgeliefert wurde, lies die französische Presse kaum ein gutes Haar. Vincent Boussards szenische Bemühungen befand sie für allzu leicht für ein Festival vom Niveau, das in Aix zu erwarten ist. Freilich ist Boussards szenische Leichtbauweise nicht als Betriebsunfall zu sehen, sondern als Schlüssel des Konzepts von Direktor Bernard Foccroulle. Kein Zweifel: die Internationale der konservativ gepflegten Neutralisierung aller gesellschaftlichen und ästhetischen Widersprüche auf der Opernbühne befindet sich mitten in ihrem großen Sprung nach vorn - Langweiler aller Länder, vereinigt euch!