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Gescheiterte Mission aus dem Warschauer Ghetto

Er ist eine der zentralen Figuren in Hitlers Krieg gegen Polen und dennoch in Deutschland bisher nur wenig bekannt: Jan Karski, der legendäre Kurier des polnischen Untergrunds. "Mein Bericht an die Welt. Geschichte eines Staates im Untergrund" ist ein Zeitdokument ersten Ranges und ein erschütterndes Zeugnis von Mut, Patriotismus und Menschlichkeit.

Von Marta Kijowska | 04.04.2011
    Eigentlich wollte Jan Karski Diplomat werden. Doch als der Krieg ausbrach, wurde er stattdessen zu einem Kurier der polnischen Untergrundbewegung. Allerdings hatte er dabei nicht immer Erfolg. Schon während seiner zweiten Mission wurde er auf dem Weg nach Frankreich verhaftet und von der Gestapo brutal gefoltert. Sein Mut wurde dadurch aber nicht gebrochen: Nur zwei Jahre später, im Sommer 1942, ging er erneut in den Westen. Diesmal hatte er nicht nur den Auftrag, der polnischen Exilregierung über die Situation im Land zu berichten. Er sollte auch die Alliierten über das Schicksal der polnischen Juden informieren.

    "Natürlich war dazu Mut nötig. Doch in meinem Fall war es noch etwas anderes: Ich hatte keinen Zweifel, dass ich für diese Rolle geeignet war. Ich glaubte immer noch an mich selbst, weil mir doch meistens alles gelang. Ich beherrschte Fremdsprachen, ich kannte Europa, ich war gesund und sportlich. Es gab damals nicht viele junge Polen, die das von sich sagen konnten. Und die meisten von denen, die es konnten, befanden sich bereits im Westen. Es ist also ganz einfach: Ich wollte mich nützlich machen."

    Um einen möglichst authentischen Bericht zu liefern, hatte sich Karski ins Warschauer Ghetto und in ein Konzentrationslager einschleusen lassen. Die dort gesehenen Schreckensbilder vor Augen, konnte er kaum erwarten, den Westen zu alarmieren. Doch so unbegreiflich es heute erscheinen mag: Das gelang ihm nicht. Er wurde zwar in London von wichtigen Politikern und in Washington sogar von Präsident Roosevelt empfangen, doch entweder schenkte man seinem Bericht keinen Glauben oder man blieb gleichgültig.

    Das Gespräch im Weißen Haus ist auch die Schlussszene von Jan Karskis Buch Mein Bericht an die Welt. Seine Begegnung mit dem US-Präsidenten fand im Juli 1943 statt. Anschließend machte er einen Spaziergang, bei dem er seine Kriegserlebnisse reflektierte:

    "In meinem Kopf schwirrten zusammenhanglose Gedanken und Bilder herum: der exquisite Salon des portugiesischen Botschafters in Warschau und dann abrupt und übergangslos Hitze, Staub und Dunst des Kampfes und die Bitterkeit der Niederlage. Der endlose Marsch gen Osten und die vergebliche Suche nach nicht vorhandenen Einheiten. Der Stacheldraht des Gefangenenlagers. Der Zug. Das deutsche Konzentrationslager in Radom und meine erste Begegnung mit einer unvorstellbaren Brutalität. Dreck, Hunger, Erniedrigung. Dann der Untergrund, das Geheimnisvolle und Rätselhafte, die ständige nervliche Anspannung."

    Die Aufzählung geht noch über eine weitere halbe Seite. Als der Krieg ausbrach, war Karski einfach nur ein junger Mann, der sich auf seine berufliche Karriere vorbereitete und in vollen Zügen das Leben genoss. Als sein Bericht fertig war, hatte er Mühe, die ursprünglichen 1000 Seiten auf einige Hundert zu kürzen – so viel Wichtiges und Aufregendes war ihm in den letzten fünf Jahren widerfahren. Manches stand ihm noch Jahrzehnte später vor Augen, als wäre es gestern gewesen. Auch der Ausgang jener letzten Mission, die das Schicksal der europäischen Juden ändern sollte.

    "Als ich am 25. November 1942 nach London kam, wurde ich ins Haus des Innenministers Mikolajczyk gebracht. Er war auch Stellvertreter von Premierminister Sikorski, der noch am selben Abend selbst kam. Ich kann mich zwar nicht mehr daran erinnern, doch angeblich fing ich an zu schreien, dass man mich sofort zu Churchill führen solle. Daraufhin wurde mir gesagt, dass ich mich erst mal beruhigen solle. Sie hielten mich für halb verrückt und ließen mich die ersten paar Tage nicht aus dem Haus. Ich verhielt mich auch wirklich nicht normal. Ich erwartete, dass man mir ungeteilte Aufmerksamkeit schenken und dass Churchill sofort etwas unternehmen würde. Stattdessen vergingen Tage, Wochen und Monate, in denen sich immer deutlicher zeigte, dass die Juden für die Alliierten kaum eine Bedeutung hatten. Und dann kam das Jahr '43, und es stellte sich heraus, dass Polen mit seiner lächerlichen Exilregierung nicht als Verbündeter, sondern als Ballast angesehen wurde."

    Es ist nicht allein die Brisanz des Stoffes, die Karskis Bericht so spannend macht. Dafür sorgen auch seine stilistischen Qualitäten: der präzise Aufbau, die plastische Erzählweise, die lebendigen Dialoge. Als 1944 die amerikanische Ausgabe erschien, waren die 400.000 Exemplare sofort ausverkauft. Doch schon wenige Monate später geriet das Buch in Vergessenheit. Und bald darauf zog sich auch Karski aus der Öffentlichkeit zurück. Er beschloss, über seine Mission nie wieder zu sprechen. Und er hielt sich daran selbst dann, als die einst von ihm so gewünschten Reaktionen einsetzten.

    "Einer der schlimmsten Schocks, die ich erlebte, war ein Zeitungsbericht darüber, wie Präsident Eisenhower und mit ihm etliche Generäle, Staatsmänner, Bischöfe und Wissenschaftler nach Deutschland fuhren, um zu sehen, was dort geschehen war. Alle, aber wirklich alle sagten, sie hätten es nicht gewusst. Es sei für sie eine Überraschung gewesen. Sie hätten nicht gedacht, dass solche Dinge möglich seien. Sie waren alle Heuchler, alle! Man erzählte mir, dass es Eisenhower, als er ein Konzentrationslager betrat, für einige Augenblicke die Sprache verschlagen hätte. Das war doch nur Heuchelei! Er hatte genau Bescheid gewusst."

    Eines darf man aber nicht vergessen: Karskis letzte Mission galt nicht allein der Judenvernichtung. Und sie ist auch nicht das wichtigste Thema seines Buches. Und zu dieser Annahme verleitet der Haupttitel der deutschen Ausgabe. Man soll in Karski vor allem den gescheiterten "Botschafter des Holocaust" sehen, was falsch ist: Er war ein Kurier der polnischen Widerstandsbewegung, der in diesem einen Fall auch im Auftrag der jüdischen Organisationen agierte. In seinem Buch hingegen berichtet er über seine gesamten Kriegserlebnisse und erzählt zugleich das, was der Untertitel verspricht: die Geschichte eines Staates im Untergrund. Beides tut er mit derselben Präzision und Lebendigkeit, zumal er oft das eine mit dem anderen verbindet:

    "Ein Grundprinzip galt für mich ebenso wie für andere im Untergrund: Die Orte, an denen wir wohnten, hielten wir möglichst frei von unserer konspirativen Tätigkeit. Niemand außer engen Familienmitgliedern und meiner Verbindungsagentin durfte meine private Adresse wissen. An dem Ort, wo ich schlief, wurde keine politische Aktion vorbereitet, wurden keine Gespräche geführt und keine kompromittierenden Papiere aufbewahrt. Das vermittelte uns ein unbedingt nötiges minimales Gefühl von Sicherheit."

    Kaum jemand war besser als Jan Karski geeignet, über den polnischen Untergrund Auskunft zu geben – er war eines seiner aktivsten Mitglieder. Nach dem Krieg sprach er darüber in seinem Buch, in unzähligen Vorträgen und wohl auch in seinen Vorlesungen, die er als Professor für Politikwissenschaften an der Universität von Washington hielt. Es stimmt allerdings auch, dass die meisten Beweise der Anerkennung, die er im Laufe der Jahre bekam, dem jüdischen Teil seiner letzten Mission galten. Und dass er sich über dessen Scheitern am längsten Gedanken machte.

    "Dieser jüdische Teil war wohl deshalb misslungen, weil das, was mit den Juden geschah, so unbeschreiblich grausam, so furchtbar, so beispiellos war, dass ich es kaum richtig ausdrücken konnte. Dafür hätte man einen großen Dichter benötigt. Oder einen Philosophen. Oder einen politischen Anführer. Ich werde heute weit überschätzt. Und ich sage das nicht nur, um bescheiden zu wirken. Mit der Zeit ist um mich eine Legende entstanden, dabei habe ich im Endeffekt gar keine politische Rolle gespielt. Meine Mission war natürlich wichtig. Doch ich selbst war es nicht."

    Buchinfos:
    Jan Karski: "Mein Bericht an die Welt. Geschichte eines Staates im Untergrund", Antje Kunstmann Verlag, 28 Euro