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Geschichte

So hat außer ihm nur Francis Ponge das Konkrete im Wort erschlossen. Der Lyriker suchte die Getrenntheit von Wort und Ding zu tilgen, indem er in immer neuen, unabschließbaren Anläufen den materialen Körper der Gegenstände zum Sprechen brachte und die Wörter in förmlich greifbare Wortdinge verwandelte.

Simone Hamm |
    Dasselbe Verfahren des semantischen (beim Lyriker auch lautlichen und skripturalen) Durchkonjugierens heftet sich bei seinem Landsmann Claude Simon an Gegenstände der Erinnerung. Der 86Jährige, der wechselweise in Paris und in seinem Landhaus in der Nähe von Pau lebt, umrundet sie und hält sie in einer schier unendlichen Flucht von Ausschnittvergrößerungen fest, bis sie plastische Konturen gewinnen.

    Neben Ponges totalem "Schauspiel der Gegenstände" ist Claude Simons Erzähluniversum das andere Meisterwerk des Analytischen, das Ponges Traum von einem neuen literarischen Latein erfüllt. Doch ist Simons Schaubühne die Geschichte, die Auskünfte nur in dem Maße gibt, wie sie befragt wird. Das Vermittlungswerk ist bedingt, auf den flüchtigen Schreibaugenblick bezogen und einen Erzähler, der nicht mehr Herr der Geschichte ist.

    "Einer von ihnen berührte fast das Haus und wenn ich im Sommer noch spätnachts vor dem offenen Fenster saß und arbeitete konnte ich sie sehen oder zumindest ihre äußersten von der Lampe beleuchteten Zweige mit ihren Blättern wie Federn die vor dem Hintergrund der Finsternis sachte bebten, ihre vom elektrischen Lich unwirklich grellgrün getönten ovalen Foliolen die hin und her schwankten wie Federbüsche jäh wie aus eigenem Antrieb durchzuckt (und dahinter konnte man ein allmählich um sich greifendes geheimnisvolles und zartes Raunen vernehmen das sich unsichtbar im dunklen Gewirr der Äste ausbreitete), als ob der ganze Baum erwachte ..."

    Das Erzählen ist älter als die Geschichte. Der Erzählbeginn verliert sich in den Leerräumen vor dem Gedruckten. Kein Ursprung, kein Beginn der nächtlichen Szene am Fenster ist bestimmbar so wenig wie eine Ordnung oder Ausdehnung der Zeit. Mitten im Satz stößt der Leser des Buchs als verspäteter Gast zu der kontemplativen Figur, die vor dem geöffneten Bühnenvorhang des nächtlichen Fensters sitzt. Ihre Aufmerksamkeit gilt dem intimen Schauspiel der Natur, der Reizwirkung des Lichts auf die Akazie. Ein Energieaustauch und Stoffwechsel vollzieht sich in der Eigenzeit biologischer Entwicklungs- und Wachstumsprozesse, in denen Leben sich stets erneuert.

    Mit der Introversion des Blicks, seiner Umrichtung und Wanderung über die Schwelle ins Innere des Hauses wandelt sich das Sehen in Erinnern und wechselt der kontemplative Akt in die stationären Räume des Gedächtnisses, in Archive und Speicher, die hier ihren Platz haben, am Ort der eigenen Kindheit und Jugend, dem Wohnsitz der Familie, in den Bücherschränken der Bibliothek, den Fächern und Schubladen der Kommoden, Nachttische und Schreibtische.

    Die aufbewahrten Erinnerungsschätze werden ans Licht geholt, die Geheimnisse der säuberlich gebündelten Briefe, die märchenhaft bunte Bildersammlung der Postkarten und Briefmarken aus aller Herren Länder, vor aallem aber die Fotoalben, die vom Leben einer alten gascognischen, bis nach Spanien versippten Dynastie zeugen, vom Unternehmensgeist der Männer und dem häuslichen Leben der Frauen.

    Wie hinter einem Spinnwebschleier, in den fein abgestuften Grautönen des Spätherbstes und Hinsterbens steht die Welt des französischen Landadels auf, in seiner Zuständlichkeit, mit seinen Ritualen, Gepflogenheiten, Traditionen und Institutionen. Die leeren Räume des Hauses füllen sich mit dem Dekor, den Möbeln, Roben und Moden der Kinderzeit.

    Mit der Ausstattung stellen sich die Gestalten der Erinnerung ein:

    "konnte sie sehen, leichenhaft und geschminkt, mit jenem in Lourdes erworbenen malvenfarbenen Wollschal aus den Pyrenäen, der ihre skelettartigen Beine verhüllte, in der Mitte des Salons thronend inmitten der mißtönenden Dissonanzen, der hartnäckigen und schrillen Wiederholung des A auf dem Klavier und den Saiten der verstimmten Geigen, auf jenem Sessel, auf den man sie, als man sie noch hochheben konnte, an jenen Kammermusikabenden vor der Ankunft der Gäste setzte (..) das Gesicht (..) mit seinen in einer letzten Koketterie oder vielmehr einer letzten hochmütigen Herausforderung mit Rouge aufgefrischten vorstehenden Backenknochen bereits jene Konsistenz einer fühllosen oder vielmehr vor Schmerz fühllos gewordenen Materie anzunehmen begann: so etwas wie Leder oder auch jenes Pappmaché der Karnevalsmasken, ein Policinello ..." (S. 56 f.)

    Das ist, im Zentrum des häuslichen Lebens, die majestätische Großmutter, umgeben von ihren gepuderten, zerknitterten und verwitterten alten Freundinnen und Angehörigen, den Tanten, Kusinen und der unglücklichen Mutter. Es ist eine Gesellschaft wartender und vom Sitzen fett gewordener Frauen, die zwischen Bäderreisen, Rennbesuchen und Gesellschaften mit nichts als dem Vertreib der Zeit beschäftigt sind.

    Ihr mechanisches, wie auswendig gelerntes Leben, das sich in antiquarischen Haltungen des Andenken Sammelns und Erinnerns erschöpft, bindet der Autor an das erstarrte Bild des Knaben, der im Schlafzimmer seiner Mutter vor dem Priester kniet und sein Gebet auswendig herunterleiert (und inwendig travestiert):

    " ... Vater laß diesen Kelch an mir vorübergehen den karolingischen barbarischen goldenen mit Juwelen eingelegten Humpen zwischen dem kleinen Finger und dem Ringfinger jeder Hand haltend, die beiden Daumen und die beiden Zeigefinger die bald den Leib ihres Herrn brechen werden zu zwei einander gegenüberliegenden Zangen vereint und ich etwas von dem im Meßkännchen enthaltenen gelblichen Wein darüber gießend und In nomine latrine et pipii est-ce pire as tu senti et cetera et cetera et cetera Sagen Sie Bénissez-moi mon Père parce que j‘ai beaucoup péché aber nicht Pénis et moi compère garce que j‘ai beaucoup léchée . . und endlos so weiter ..."

    Von dem kindlichen Blasphemiker laufen die Fäden zurück zu der Nachtwachengestalt am Fenster und vorwärts in einen die Bilder bündelnden, zunehmend gerichteten Erzählfaden, der geradewegs in den Begriff "Klage" mündet. Das nun bestimmte mütterliche Klageuniversum treibt wie von selbst seinen Gegenpol aus sich hervor, die dynamische Welt der geschichtlich handelnden Männer, die in abwesender Form anwesend sind, mit den Grußkarten, die sie aus aller Welt schicken.

    Der über das ganze erste Kapitel angehaltene Augenblick des Denkens und Gedenkens zerbricht mit der ersten Bewegung des Erzählers. Die Weltzeit des Bewußtseins macht der physikalischen Zeit Platz, in der Leben stetig verfällt. Das Erzählen wechselt in die zerbrechlichste aller Formen des Erinnerns, in die Proustsche unwillkürliche Erinnerung, die ohne Stützen arbeitet, sprunghaft und unberechenbar in der Auswahl dessen, was erinnert wird oder vergessen bleibt. Den Selektionsprozeß nimmt der Roman als Form in sich auf, als Scherbenhaufen. Wie das Splitterzeug verwoben und in Bewegung gesetzt wird, schwerfällig zunächst, dann immer glatter, runder, flüssiger rollend, das ist das Wunderwerk dieses Romans.

    Das Erinnern, nun, ist an nichts als die Laune des Augenblicks gebunden und entspringt dem Tageslauf des Erzählers. Morgens bricht er zur Bank auf, um den Verkauf des Anwesens vorzubereiten. Unterwegs passiert er die Wahlkundgebung eines alten Schulfreundes, der im Kampf um die Macht seine Überzeugungen verrät. Die Verhandlungen in der Bank ziehen sich bis zum Mittagessen hin. Er betritt ein Restaurant und befindet sich unversehends in Gesellschaft zweier freßsüchtiger, geschwätziger Alter. Heimgekehrt beginnt er mit der Räumung des Hauses und liegt schließlich noch lange wach.

    Es ist, wie in Joyce‘ Ulysses, ein Weltalltag der Epoche. Der Erzähler schreitet die Sphären von Politik, Wirtschaft und Gesellschaft ab und wird zum Medium der Stromstöße, mit denen die vorüberziehende Passantenwelt auf seine Binnengeschäfte einwirkt, das rasch wechselnde Schauspiel gesellschaftlichen Lebens auf seine rastlos produzierende automatisierte Bewußtseinsbühne.

    Es kommt zu herrlichen Überblendungen, Tranparentbildern und Spiegelungseffekten, die zwischen außen und innen vermitteln, zwischen einer dynamischen, mit gesteigerter Intensität wahrgenommenen großstädtischen Erscheinungswelt und den Erinnerungsfetzen, Namensscherben, halben Sätzen, unidentifizierbaren Trümmern aus seinem Kinder- und Erwachsenenleben:

    "Die Schatten auf der Milchglasscheibe bewegten sich diesmal anders, während gleichzeitig die Lautstärke der Stimmen im Innern des Büros zunahm, sich jetzt aber (obwohl es immer noch unmöglich war, die Worte zu verstehen) sozusagen entspannte, sicher wechselten die beiden Gesprächspartner jetzt jene banalen Formeln, die ein Gespräch beenden, und die Stimmen nutzten die Gelegenheit, sich gleichsam ein wenig zu lockern, zu verschnaufen, herumzutollen, wobei der monumentale Kopf nach vorn kippte im gummiartigen Scharren eines zurückgeschobenen Stuhls, sich dann jäh aufrichtete, über der oberen Kante der Milchglasscheibe verschwand, ersetzt durch einen massiven Schatten zwischen zwei leicht gewellten nahezu parallelen senkrechten Linien (der Rumpf der Person), zwischen denen der kleine Oberkörper noch einen Augenblick verharrte, sich dann vorbeugte und sich seinerseits aufrichtete, anzuschwellen begann (zweifellos in dem Maße, wie die Person sich der ersten Lichtquelle näherte), dann ebenfalls ein einfacher sehkrechter Streifen wurde, der sich über den anderen schob, so daß sich für einen kurzen Moment, wo das Ganze von neuem nahezu regungslos war und die Stimmen sich jetzt zu wellen, sozusagen lässig zu kreisen schienen, auf dem Milchglas nur noch drei parallele Streifen befanden..."

    Die Milchglasscheiben der Bank, die er sogleich betreten wird, verwandeln das dritte Romankapitel in eine weißlich monochrome Hinterglasmalerei aus Worten. Zusammengehalten nur von dem Scheinwerfer, der die Szene ausschneidet, gleichzeitig und in wilden Durcheinander huschen sie vorüber, Eukalyptusbäume, ein Antikenmuseum, gefälschte Proust-Zitate, das aufgeschlagene Wörter- und Geschichtsbuch des seine Lektion lernenden Kindes, der selbstmörderische Onkel de Reixach, Lenin, ein Kirschbaum im Kindheitsgarten, eine Eidechse auf einer Steinplatte, Kosakenpferde, seine Frau Hélène auf einer gemeinsamen Griechenlandreise, Onkel Charles, der Verwalter des Guts, ein Datum, der 16. August 1914, Kampfszenen aus dem Spanischen Bürgerkrieg.

    Der Instantbetrieb fragmentiert das Erinnern, zugleich aber werden mit dem Vorrücken der Kapitel immer deutlicher Schweißnähte sichtbar. Die Bilder kehren wieder, umso obsessiver, je bruchstückhafter sie sind. Mit den Wiederholungen, Ergänzungen und Komplettierungen pflanzt der Autor seinen Großstadttableaus übergreifende Zusammenhänge, Kontinuität und ein Drehmoment ein. Sie beginnen zu rollen. Im Bindegewebe der Anspielungen, Assoziationen und Metaphern wird die anschwellende Erzähllawine an die Drehung der Weltkugel angekoppelt:

    "Begann sie zu hören lange bevor ich die Augen öffnete einen ersten der sich in einigen schwachen zunächst zaghaften Schreien versuchte dann einen zweiten dann einander antwortend dann kühner werdend dann bald das mißtönende kreischende betäubende Konzert gleich dem Quietschen eines ins Rollen kommenden alten Karrens, als ob die protestierende und ächzende alte Welt sich erneut in Gang setzte in einem Konzert verrosteter Achsen, ..." Das Motiv verschwindet und kehrt immer wieder zurück:

    "Vom Flugzeug aus kann man sie wie Sternenhaufen sehen mit doppelt gezogenen Strahlen von Laternen punktiert leuchtende Skelette von Seeigeln die langsam über die Oberfläche der dunklen Erde gleiten schreckenerregend tausend Leben die sich unmerklich drehen wie die Speichen eines Rads dann seltener werdend verschwindend und von neuem nichts anderes als das uranfängliche Dunkel ..." (S. 306)

    Mit der Weltkugel dreht sich die Geschichte des Jahrhunderts um ihre eigene Achse. Wie ein zweites All breitet sie sich aus, als strebe sie im Fortschreiten ihrem Ganzen zu und öffne noch einmal die Pforten jenes Theaters, auf dem ihr Geist zu besichtigen wäre. Doch nicht der mit reinen letzten Zwecken hantierende Weltgeist ist Simons Orientierungsgröße, nicht ein höherer, dem handelnden Geschichtssubjekt verborgener Vernunftplan wird sichtbar. Vielmehr bezieht der Autor Geschichte zurück auf das geschichtlich handelnde Subjekt, namentlich auf die Opfer der Kriegsmaschinerie, die sich mahlend vorwärtsbewegt durch die Kolonialkriege, die beiden Weltkriege, den Spanischen Bürgerkrieg, die Russische und Chinesische Revolution.

    Der Krieg wird erzählt, aber die Geschichte des Krieges fehlt, eine Ordnung der Bilder zur Totale, die Geschichte lesbar machen würde. Alles wird ihr verweigert, was der Geschichtsroman sonst an spekulativer Kraft aufbietet. Die historische Imagination hält sich stattdessen an ihr Rohmaterial.

    Das Geschehen wird segmentiert und ins Raumbild überführt, das Geschichte individualisiert, psychisch dynamisiert und psychologisch entziffert. Zu besichtigen ist ein Naturschauspiel der Macht, das den Krieg radikal entheroisiert und als rückwärtslaufende Zivilisationsgeschichte erkennbar macht.

    Vor allem aber: mächtiger als die Geschichte ist der Autor. Er rollt das Geschichtsgefährt durch die unendlichen Weiten des Nichterzählten, die einbezogen werden, indem die Kapitelgrenzen verschwimmen, durch Kleinschreibung, Konjunktionen sowie unvollständige Kopf- und Schlußsätze, und er lenkt es ins Ziel, bevor der Roman endet. So schrumpft die Geschichtserzählung zum Zwischenfall zwischen unendlich sich dehnenden Zeiträumen des Erzählens und Wissens. In Wahrheit ist seine Geschichtserzählung eine Widerstandshandlung - und ein Selbstschöpfungsbericht: die Geburt des Erzählers aus der Erinnerung: "Meine liebe Mama, wir sind in Mahu unter Wasserfluten. Ich schreibe dir aus dem Hinterladen eines Händlers. Schade daß wir so ein Wetter haben, denn der Ausflug wäre hübsch. Diese herrliche tropische Vegetation entzückt mich. Ich gebe hier keinen Brief auf man sagt mir er würde erst später aus Diego abgehen. Henri geht es gut und er läßt dich umarmen ... wie schade das wolkenbruchartige Geräusch die dicken Tropfen auf den Blättern in den Laden irgendeines Händlers geflüchtet vermutlich desjenigen der ihr die Postkarte verkauft hatte ein gelbhäutiger Herr S.S. Ohashi ihr beim Schreiben zusehend auf einer Ecke des Tisches oder der Theke jener Frau die ihren geheimnisvollen von Spitzen umhüllten Oberkörper aus weißem Fleisch vornüber beugt jenen Schoß der vielleicht mich schon trug in seinem finsteren Tabernakel eine Art gallertartige zusammengerollte Kaulquappe mit ihren riesigen Augen ihrem Kopf einer Seidenraupe ihrem zahnlosen Mund der knorpeligen Stirn eines Insekts, ich?..."

    Der letzte Satz des Romans kündigt so vage wie unmißverständlich die Geburt des Erzählers an. Seine Lebenserinnerungen enden mit der eigenen Geburt. So hebt Claude Simon in der Figur des Erzählers das Ende des Erzählens, die Zeit auf und schlägt den Bogen zurück zum Beginn.

    Die Wiederbegegnungen mit dem Autor, hier mit einem Werk aus dem Jahre 1967, seinem Hauptwerk aus der Zeit vor den großen Erzählmontagen, sind Wiederbegegnungen mit der Sprache seiner Übersetzerin. Das langsame, aber stetig wachsende Ansehen Simons hierzulande, die Bewunderung, die ihm namentlich junge Erzähler entgegenbringen, wäre nicht denkbar ohne die Lesekunst und Sprachkraft Eva Moldenhauers.