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Mit Volldampf in die Krise - die zweite Parteikonferenz der SED

Der Volksaufstand vom 17. Juni 1953 in der DDR hatte ein Vorspiel: Ein knappes Jahr zuvor verkündete SED-Generalsekretär Walter Ulbricht bei der „Zweiten Parteikonferenz” den „Aufbau des Sozialismus” und die Wiederaufrüstung - mit verheerenden Folgen.*

Von Marcus Heumann | 12.07.2002
    O-Ton aus DDR-Propagandafilm: "In der Geschichte unseres Volkes begann ein neues Kapitel, als am 9. Juli 1952 die zweite Parteikonferenz der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands zusammenkam. An diesem Tag berichtete der Generalsekretär der Partei, Walter Ulbricht, den Delegierten über das bisher Vollbrachte und zeichnete dem Volk den Weg ins Künftige vor.

    Walter Ulbricht: In Übereinstimmung mit den Vorschlägen aus der Arbeiterklasse, aus der werktätigen Bauernschaft, aus anderen Kreisen der Werktätigen hat das Zentralkomitee der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands beschlossen, der zweiten Parteikonferenz vorzuschlagen, dass in der Deutschen Demokratischen Republik der Sozialismus planmäßig aufgebaut wird.

    In dem Jubel der Parteikonferenz über diesen Beschluss kam das unerschütterliche Vertrauen des werktätigen Volkes zu seiner Partei zum Ausdruck, an deren Spitze so bewährte Genossen wie Wilhelm Pieck, Otto Grotewohl und Walter Ulbricht stehen."

    Ein Ausschnitt aus dem DEFA-Propagandafilm "Baumeister des Sozialismus", der eigentlich zu Ehren des 60. Geburtstages von SED-Generalsekretär Walter Ulbricht am 30. Juni 1953 in die Kinos kommen sollte. Der Jubelstreifen blieb jedoch bis zum Ende der DDR im Archiv - zwei Wochen nach dem Arbeiteraufstand des 17. Juni wäre es gefährlich gewesen, die Bevölkerung mit derartigem Personenkult noch weiter zu provozieren - ebenso wie mit Reminiszenzen an die 2. Parteikonferenz der SED, die vom 9.-12. Juli 1952 in der Werner-Seelenbinder-Halle über die Bühne gegangen war und auf der Ulbricht den planmäßigen "Aufbau des Sozialismus" in der DDR "vorgeschlagen", d.h. dekretiert hatte. Eine Entscheidung, die die DDR in ihre größte Krise bis zum Wendejahr 1989 reißen sollte. Das knappe Jahr zwischen dem Ende der Parteikonferenz und der Erhebung des 17.Juni wurde zum "annus horribilis" der DDR schlechthin.

    Schon im ersten Halbjahr 1952 hatte es beunruhigende Anzeichen für die bevorstehenden Entwicklungen gegeben: Offiziell als Reaktion auf die Unterzeichnung des Deutschlandvertrages durch die Bundesrepublik kappte die DDR-Regierung am 26. Mai 1952 alle Telefonverbindungen nach West-Berlin und richtete eine 5 km-Sperrzone mit einem 10 Meter breiten Kontrollstreifen entlang der Demarkationslinie zur Bundesrepublik ein. In Paragraph 4 der betreffenden Verordnung hieß es:

    Personen, die versuchen, den Kontrollstreifen in Richtung der Deutschen Demokratischen Republik oder Westdeutschland zu überschreiten, werden von den Grenzkontrollstellen festgenommen. Bei Nichtbefolgung der Anordnung der Grenzstreifen wird von der Waffe Gebrauch gemacht.

    Etwa 11.000 Menschen wurden quasi über Nacht aus dem Sperrgebiet zwangsumgesiedelt - und dabei von den Organen der eigenen Regierung oftmals wie Verbrecher behandelt. Reisegenehmigungen gen Westen wurden fortan so gut wie gar nicht mehr erteilt. In Wirklichkeit war die Entscheidung über das neue Grenzregime schon fast zwei Monate vor der Unterzeichnung des Deutschlandvertrages getroffen worden - in Moskau. Dort war am 31. März eine SED-Delegation, geführt von Wilhelm Pieck, Otto Grotewohl und Walter Ulbricht eingetroffen, die am 1. und 7. April mit Stalin und der Spitze der KPDSU-Führung konferierte. Die erst nach der Wende bekannt gewordenenen Notizen, die sich Staatspräsident Pieck bei diesen Unterredungen machte, belegen, wie sich die Sowjetführung die weitere Entwicklung in der DDR vorstellte:

    Volksarmee schaffen - ohne Geschrei Demarkationslinie gefährliche Grenze. 1. Linie deutsche Soldaten, dahinter Sowjetsoldaten FDJ muss Schießen lernen Jugenddienst - vormilitärische Erziehung Pazifistische Periode ist vorbei 9 - 10 Armeekorps - 30 Divisionen - 300 000 Mann

    Am 10. April 1952 reiste die SED-Delegation aus Moskau ab. Einen Tag zuvor hatte die Sowjetunion die zweite so genannte Stalin-Note zur Frage der deutschen Wiedervereinigung an die Westmächte gesandt. Bis heute streiten sich die Historiker darüber, wie ernst die diesbezüglichen sowjetischen Vorschläge zur deutschen Einheit zu nehmen gewesen seien. Wilhelm Piecks Notizen jedenfalls lassen darauf schließen, dass man sich im Kreml zu diesem Zeitpunkt in realiter längst davon verabschiedet hatte.

    Deutsche Jugend, bereit zur Arbeit und zur Verteidigung des Friedens.

    Drapiert mit einer geradezu faschistoiden Ästhetik offenbarte sich das Resultat der Moskauer Gespräche der DDR-Bevölkerung erstmals Ende Mai beim 4. Parlament der "Freien Deutschen Jugend". Längst war die 1946 als unabhängige Jugendorganisation gegründete FDJ unter der Leitung von Erich Honecker zu einem Transmissionsriemen der SED-Politik geworden.

    Stündlich gehen beim Präsidium des Parlaments neue Verpflichtungen ein, unsere Volkspolizei zu stärken und Ehrendienst zu tun zum Schutze unserer Heimat. Und ein Mädel tritt an Rednerpult und schildert, wie sie als Traktoristin dabei ist, eine gute Ernte vorzubereiten.

    Viele Traktoristinnen haben den Ernst unserer Lage erkannt und melden sich darum zum Schutz unserer Republik auf Friedenswacht zur Volkspolizei. Auf unserer Station sind es bisher sieben Jugendfreunde, die sich bereiterklärten, den Ehrendienst eines Volkspolizisten auszuüben und ihren blauen Arbeitsanzug mit dem Ehrenkleid der Volkspolizei, ihren Traktor mit dem Gewehr zum Schutze unserer Republik vertauschten.

    Musik: Fritz der Traktorist Seit Gefahr für Glück und Frieden ihn zum Schutz der Heimat rief hütet Gretel seinen Traktor und sie schreibt so manchen Brief Gretel pflügt und sät und erntet und es hilft ihr die Kombine sie will stets wie Fritz der erste Traktorist im Dorfe sein Wie der Fritz mit dem Traktor Der Fritz, der Traktorist

    Am 1. Juli wird die Hauptverwaltung Ausbildung der Volkspolizei in "Kasernierte Volkspolizei" umbenannt - damit ist der Vorläufer der "Nationalen Volksarmee" geschaffen. Ein Jahr später wird die KVP bereits 113.000 Mann stark sein. 2. Juli 1952: Das Politbüro der SED richtet einen Brief an Stalin, in dem es den angeblichen Stand der politischen und wirtschaftlichen Entwicklung der DDR in völliger Verkennung der tatsächlichen Stimmung bei einem Großteil der Bevölkerung resümiert:

    Wenn wir die Entwicklung der Deutschen Demokratischen Republik real einschätzen und erklären, dass die Staatsmacht den Charakter einer Volksdemokratie hat, dann werden breite Massen der Arbeiterklasse und der Werktätigen sagen, dass eine solche Volksmacht annehmbar ist. Auch die werktätigen Bauern und Kleinbürger werden zu dem Resultat kommen, dass man bei uns besser leben kann als in Westdeutschland.

    Schlussfolgerung:

    Es sind damit die entscheidenden Voraussetzungen für den Übergang zum Aufbau des Sozialismus gegeben.

    Erst am 8. Juli, einen Tag vor dem terminierten Beginn der 2. Parteikonferenz, billigt das Politbüro der KPdSU die von der SED vorgeschlagene ideologische Marschrichtung. Der Umbau in einen Satellitenstaat der Sowjetunion, in vielen osteuropäischen Ländern zu diesem Zeitpunkt schon abgeschlossen, kann nun auch in der DDR gleichsam auf offener Bühne beginnen. Die zweite Parteikonferenz ist ein gespenstisches Spektakel. Der Publizist Fritz Schenk, 1957 in den Westen geflüchtet und vielen sicher noch als Co-Moderator des ZDF-Magazins bekannt, erlebte sie damals als Sekretär der staatlichen Plankomission:

    Es ist einfach für mich fast schon erschreckend gewesen, wie allein dieses Wort "Aufbau des Sozialismus", als Ulbricht das aussprach, in der Seelenbinder-Halle eine Stimmung entstand, die mich persönlich an die Wochenschau-Aufnamen der berühmten Göbbels-Rede "Wollt ihr den totalen Krieg" erinnerte. Also hier hatte die Partei den Nerv, vor allem der älteren Mitglieder getroffen, dass also ihr Lebenstraum, wofür sie gekämpft hatten, wofür viele ja auch in Konzentrationslager gegangen waren und Repressalien durch die Nazis in Kauf genommen hatten, - nun endlich wird dieser Wunschtraum erfüllt.

    Genossen, schon heute sehen wir in West-Berlin einen schnell fortschreitenden Verfall. 300.000 Menschen sind ständig arbeitslos, die Jugend verwahrlost, dafür liegt das Geld auf der Straße, für Spione, Brandstifter, Kursschwindler und Bardamen. Aber so wenig man einen Sterbenden durch Kampferspritzen zurückhalten kann, so wenig kann man einen folgerichtig krepierenden amerikanischen Brückenkopf durch finanzielle Zuschüsse oder durch Schießanweisungen durch die Polizei am Leben halten.

    Rudolf Herrnstadt, ein Jahr später von Ulbricht geschaßtes ZK-Mitglied und Chefredakteur des "Neuen Deutschland" auf der 2. Parteikonferenz. Glaubt man den auf der 2. Parteikonferenz gehaltenen Reden, so müssen Westdeutschland und Westberlin damals kurz vor der Revolution gestanden haben. Der "Sturz der Bonner Regierung" wird denn auch auf der Parteikonferenz als Voraussetzung für die Einheit Deutschlands festgeschrieben. Pech für Ulbricht, dass ausgerechnet in der zweiten Jahreshälfte 1952 in Westdeutschland ein beständiger Aufschwung einsetzt, der die Propagandafloskeln vom ständig zunehmenden Elend im Westen Lügen straft. Folgenreicher als das gewohnte ohrenbetäubende Getöse gegen Adenauer wird ein Passus aus den Beschlüssen der 2. Parteikonferenz werden, den aufmerksame Beobachter mit - berechtigter - Sorge registrieren:

    Auf ideologischem Gebiet ist die wichtigste Aufgabe, die Arbeiterklasse und die Masse der Werktätigen mit sozialistischem Bewusstsein zu erfüllen und zugleich den täglichen konsequenten Kampf gegen die bürgerlichen Ideologien zu führen.

    Nun, das ging auf den Grundsatz zurück, dass nach den Thesen von Stalin der Aufbau des Sozialismus grundsätzlich mit einer Verschärfung des Klassenkampfes verbunden sei. Und nun musste man natürlich überall Klassenfeinde suchen. Und alle Schwierigkeiten, die es gab, grundsätzlich auf westliche Agententätigkeit zurückzuführen, denen es gelungen sei, in die DDR, in die eigene Partei einzubrechen und diese Feinde zu entlarven.

    Fortan werden planmäßig Verräter entlarvt. So forciert die SED ab dem 2. Halbjahr 1952 den Kirchenkampf, insbesondere gegen Angehörige der evangelischen "Jungen Gemeinde", die als "illegale Agenten- und Spionageorganisation" diffamiert wird. Evangelische Geistliche und Laienhelfer werden unter völlig abstrusen Vorwürfen zu mehrjährigen Zuchthausstrafen verurteilt, christliche Jugendliche von den Oberschulen verwiesen, an denen inzwischen auch der Lehrkörper von "unzuverlässigen Elementen" gesäubert worden ist. Der Terror von oben erfasst im Sommer und Herbst 1952 faktisch alle Gesellschaftsschichten der DDR: Auf dem Land werden die ersten Bauern in Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften kollektiviert, wobei die angebliche "Freiwilligkeit" des Eintritts in die LPG nur auf dem Papier steht: Bis zum Januar 1953 werden gegen 1200 Bauern, die ihr Ablieferungssoll nicht erfüllt haben, Strafverfahren wegen Schieberei und Spekulantentum eingeleitet, zugleich private Händler und Gewerbetreibende durch Sondersteuern und andere Einschränkungen, die 1953 im Entzug der Lebensmittelkarten gipfeln, vorsätzlich ruiniert. Das neugeschaffene "Gesetz zum Schutz des Volkseigentums" dient als Gummiparagraph gegen alle, die sich der Verstaatlichung widersetzen. An den Hochschulen avanciert das "gesellschaftswissenschaftliche Grundstudium", auch "Rotlichtbestrahlung" genannt, zum Pflichtfach. Im kulturellen Bereich blüht der "sozialistische Realismus" sowjetischer Prägung und öffnet jedem Dilettantismus Tür und Tor, solange er nur auf Parteilinie liegt.

    Selbst der "innere Fluchtweg" gegen derartigen akustischen Terror ist nun blockiert: 1952 beginnen die ersten DDR-Störsender, westliche Rundfunkprogramme zu überlagern - allen voran den RIAS.

    Die stalinistische Zentralisierungswut gipfelt einige Wochen nach der Parteikonferenz in der Umwandlung der fünf Länder der DDR in 14 Bezirke, die auch den letzten Rest von gewachsenen Landestraditionen und Selbstverwaltung beseitigt. Überhaupt werden viele Strukturen und Organisationen, die auch in der späten DDR noch existieren, im zweiten Halbjahr 1952 ge- oder begründet. So z.B. die paramilitärische "Gesellschaft für Sport und Technik", GST. Kurzlebig ist hingegen der am 24. Juli 1952 gegründete Jugendarbeitsdienst "Dienst für Deutschland", der kaum ein Jahr existiert und über den die spätere DDR-Geschichtsschreibung schamvoll den Mantel des Schweigens breiten wird. Von der FDJ rekrutierte Jungen und Mädchen im Alter ab 17 Jahren werden für ein halbes Jahr zur Arbeit an "Großprojekten des Aufbaus" geworben. Eine Mark Tagegeld, Qualifikationsmöglichkeiten an moderner Technik und ein abenteuervolles, lustiges Lagerleben werden den "Kameraden und Kameradinnen" versprochen. Die Realität sieht anders aus: Die auf Lastwagen herangekarrten Jugendlichen finden sich mitten in ungerodeten Waldgebieten wieder, es fehlt an Unterkünften, sanitären Einrichtungen, Verpflegung. Die vorgeblichen "Großprojekte des Aufbaus" entpuppen sich vor Ort als zu bauende Kasernen und Unterkünfte für die neu geschaffene "Kasernierte Volkspolizei". Die Zustände in den Lagern sind katastrophal bis anarchistisch. Staatspräsident Wilhelm Pieck notiert im Oktober 1952:

    Dienst für Deutschland - Lage sehr ernst. Zelte. Erkrankungen. Disziplin. Wasser. Schuhe. Arbeitskleidung. Läuse. Typhus. Geschlechtskrank: 378, 127 krank. Keine Trennung. Prostitution.

    Ende 1952 ist die DDR nicht mehr dieselbe wie noch sechs Monate zuvor: Ein halbes Jahr Klassenkampf von oben hat die Gesellschaft tiefgreifend verändert. Allein 1952 kehren 182.000 Menschen der DDR den Rücken - darunter viele hochqualifizierte Fachkräfte. Im Jahr darauf werden es schon 331.000 sein.

    Es war ja damals so, dass in den volkseigenen Betrieben, wo ehemalige Privatbetriebe angegliedert wurden, überhaupt nicht mit Mitleid zur Kenntnis genommen wurde, dass diese Unternehmer auch mit ihren besten technischen Leuten dann in die Bundesrepublik geflüchtet waren. Die sollten weg, man wollte sie auch nicht in die volkseigenen Betriebe als Fachkräfte integrieren. Das waren Stänker, das waren Kapitalisten: Wir können das selber besser, wir machen jetzt den Sozialismus aus eigener Kraft.

    Der einseitige Ausbau der Schwerindustrie, insbesondere zur Steigerung der Rüstungsproduktion und das Kollektivierungschaos auf dem Lande führen ab Herbst 1952 zu schweren Versorgungskrisen, besonders im Lebensmittelbereich. Am 9.12.1952 verliest ein Sprecher im DDR-Rundfunk eine zwanzigminütige Erklärung des DDR-Ministerpräsidenten Otto Grotewohl zu Versorgungsengpässen bei Fett, Fleisch, Gemüse, Margarine:

    Kritik und Selbstkritik schaffen bei uns eine Atmosphäre der Offenheit, der Zuverlässigkeit und der Wahrheit. Auf diesem unerschütterlichen Fundament können wir immer vollkommen offen mit unserem Volke sprechen. Die Bevölkerung will eine klare Antwort: Wie steht es mit der Versorgung mit Butter, Fetten, Kartoffeln, Gemüse und Fleisch? Darüber diskutiert man, weil durch Ungleichmäßigkeiten in der Verteilung, Witterungseinflüsse, Sabotage in der Verwaltung undsoweiter, Mängel entstanden sind, die es schnell zu beseitigen gilt.

    Nach der SED-Logik "Die Partei hat immer recht" konnte die Politik, die zu der Versorgungskatastrophe geführt hatte, nicht falsch sein. So wird die Misere auf das Wetter und die Unfähigkeit oder gar Sabotage durch einzelne Funktionäre abgewälzt. Im Dezember 1952 wird der liberaldemokratische Minister für Handel und Versorgung, Karl Hamann verhaftet. Die Gefängnisse der DDR sind überfüllt; zwischen Juli 1952 und Mai 1953 erhöht sich die Zahl der Inhaftierten von 31.000 auf über 66.000 : Groß- und Mittelbauern, Privatunternehmer, Pfarrer wie Funktionäre sitzen hinter Gittern. Darunter die ersten Genossen, die Ulbricht für einen Schauprozess gegen jüdische Spitzenfunktionäre in der eigenen Partei nach dem Muster des Prager Slansky-Prozesses ausersehen hat, in dem erstmals deutlich antisemitische Untertöne angeschlagen worden waren. Nur der Tod Stalins am 5. März 1953 verhindert, dass es in der DDR zu mit dem Deckmantel "antizionistisch" getarnten antisemitischen Exzessen kommt. Mitte April 1953 fordert das neue Politbüro der KPDSU von Ulbricht, den harten Kurs beim "Aufbau des Sozialismus" zu mildern. Erfolglos: Im Mai beschließt das ZK der SED, nachdem man zuvor schon die Preise für bewirtschaftete Lebensmittel erhöht hatte, auch noch eine zehnprozentige Erhöhung der Arbeitsnormen. Es kommt zu ersten regionalen Arbeitsniederlegungen und z.T. handgreiflichen Konfrontationen zwischen Arbeitern und Funktionären. Erst am 9. Juni, nach einer zweiten Ermahnung aus Moskau, beschließt das SED-Politbüro den "Neuen Kurs" mitsamt der Rücknahme zahlreicher "Überspitzungen", wie die Parteipropaganda den Massenterror gegen die eigene Bevölkerung herunterzuspielen versucht. Zu spät, um das Ruder noch herumzureißen. Eine Woche später explodiert der allgemeine Unmut im Aufstand des 17. Juni.

    *) Redaktioneller Hinweis: Der Originalton zu Beginn dieses Beitrags wurde versehentlich als Einleitungstext dargestellt. Wir haben dies korrigiert.