Freitag, 29. März 2024

Archiv


Geschichte der eigenen Welterfahrung

Der Autor Fritz J. Raddatz war zeit seines Lebens immer wieder Gegenstand von Kritik und Missachtung. Mit dem Erscheinen seiner Tagebücher im letzten Jahr änderte sich dies schlagartig: Er wurde euphorisch gefeiert. Jetzt ist - zu seinem 80. Geburtstag - der Band "Die Tagebücher in Bildern" erschienen.

Von Hans-Jürgen Heinrichs | 26.09.2011
    Fritz J. Raddatz ist Autor von Romanen und Erzählungen, Essayist und Biograf; er studierte Germanistik, Philosophie und Kunstgeschichte, war stellvertretender Cheflektor des Ostberliner Verlags "Volk und Welt", übersiedelte 1958 in die Bundesrepublik, war stellvertretender Leiter des Rowohlt Verlags und Feuilletonchef der "Zeit". Der 1931 in Berlin geborene und in Hamburg lebende Autor hat im letzten Jahr seine Tagebücher der Jahre 1982 - 2001 vorgelegt: das Dokument einer lebenslangen Überempfindlichkeit für Verletzungen und Kränkungen und des Gefühls, von fast allen, auch den meisten Freunden, in irgendeiner Weise missbraucht worden zu sein. Daher die ständige Bereitschaft, sich von den anderen zu distanzieren und sich selbst von Grund auf infrage zu stellen.

    Vor diesem Hintergrund scheint der neue Band "Die Tagebücher in Bildern" von den Bildern her wie aus einer anderen Welt zu kommen: Geradezu überwältigend ist eine Atmosphäre der Begegnungen in Freundschaft und herzlicher Verbundenheit. Die beigefügten Tagebuchaufzeichnungen verstärken oft noch diesen Eindruck:

    Maria Ledig-Rowohlt: Ich habe ihn geliebt ... so wunderbare Abende wie gestern der bei Grass oder vor drei Tagen bei Wunderlich, nach denen man durchaus das Gefühl hat, Freunde zu haben ... Den Abend sehr amüsant und berlinisch verlebt ...
    Die Tagebuch-Auszüge beschönigen nichts - die kritischen Distanzierungen werden nicht ausgespart -, aber die Tagebücher im Ganzen offenbaren doch eine andere Welt: voller existenzieller Bedrohungen und Todesahnungen, eine Welt, von Akteuren bevölkert, die uns im Kulturbetrieb als Helden vertraut sind und die hier großenteils monströs erscheinen, getrieben von Ruhmsucht, Neid und maßloser Selbstbezogenheit. In dem nun vorliegenden Band blitzt dies etwa in einer bissigen Notiz zu Wolf Wondratschek auf, kontrastiert von einem gemeinsamen Foto, beide wie Vater und Sohn. Überhaupt macht es den Reiz dieses Bandes aus, dass die Fotografien einen Fritz J. Raddatz zeigen, wie er überschwänglich Susan Sontag umarmt, während der Kommentar von einer "giftig-bösartigen" Frau spricht, oder wie er den Arm um Siegfried Lenz legt und ihn im Text als obrigkeitshörig karikiert.

    Ohne die Kenntnis der Tagebücher hätte man von den Porträts, die Raddatz zeigen, das Bild eines immer nur charmanten, sich in Gesellschaft federleicht und selbstsicher bewegenden Herren, einmal in der Haltung eines Yves Saint Laurent zwischen zwei Diven, in Dandy-Pose neben dem versteinert wirkenden Rolf Hochhuth, in vollendeter Eleganz Hildegard Knef die Hand küssend, dann wechselnd in die Rolle eines verlebt-jungenhaften Piraten und Abenteurers.

    Wüsste man nichts von Raddatz' Entlarvungen der ihn umgebenden Ego-Monster, würde man glauben, dass sich alle lieben und einander aufmerksam zuhören. Bei genauerem Hinsehen aber wird eines deutlich: Neugierig den anderen zugewandt ist nur Raddatz, selbst dem manieriert süffisanten Enzensberger oder dem nur ans eigene Werk denkenden Grass. "ICH-ICH-ICH-Gerede" nennt er es.

    Verletzungen, Verlogenheiten, Demütigungen ...

    So fasst der Kritiker Joachim Kaiser in seiner Einleitung den Tenor der Auseinandersetzungen zusammen.

    Es zeichnet Raddatz aus, dass er sich an den befreundeten Autoren und ihren Werken abarbeitet, auf exemplarische Art und Weise an Grass, wie dies der 2009 erschienene Band "Günter Grass. Unerbittliche Freunde. Ein Kritiker. Ein Autor" beweist. Sie kritisieren sich gnadenlos und sie schätzen einander, sie streiten sich und bewahren immer den Respekt voreinander. Raddatz distanziert sich entschieden von dem Ton der Häme und des Hohns bei den Grass-Kritikern und Grass sagt von Raddatz:

    Unerschrocken, neugierig, kühl-analytisch, wissend und naiv zugleich, nur weniger Freunde gewiss, aber immer auf der Suche nach neuen Feinden. Er handelte am liebsten mit heißen Eisen.
    Allen Begegnungen, von denen Raddatz in seinen Tagebüchern so ausführlich erzählt hat, ist eine Gegen- und Unterströmung eigen: der Wunsch nach Rückzug bis hin zur völligen Selbstaufgabe als einer öffentlichen Person des kulturellen Lebens.

    Mich macht die Differenz zwischen öffentlicher Verdammung und privater Zustimmung ganz wirre.

    Sehr früh schon hat er das Gefühl, "am Ende des Lebens angelangt" zu sein, unaufhaltsam einem "regelrechten physischen Verfall" entgegenzugehen und einen hohen Preis für seine "Selbstüberschätzung" zu zahlen. Es sei, so notiert er einmal, "irgendeine 'Über'-Spannung in mir oder an mir".

    Seine Tagebücher erzählen die Geschichte der eigenen hoch dramatisierten Welterfahrung. Sein Drama ist auch, dass seine bedeutsame innovatorische Leistung als stets neugieriger und weltgewandter Verleger und als Feuilletonchef heute weitgehend vergessen sind und er als Romancier von der deutschen Kritik nicht wirklich anerkannt worden ist. Tag und Nacht schlägt er sich mit dem Vorwurf der "Ver-Intellektualisierung seiner Prosa" herum. Die Neuausgabe seiner Erzählung "Ich habe dich anders gedacht" gibt Gelegenheit, das meist sehr abschätzige Urteil seiner Kritiker und Raddatz' Selbsteinschätzung zu überprüfen.

    Diese Ich-Erzählung ist geradezu ein Feuerwerk der Sinne: Alles, was die Hauptfigur Achim Moesgaard im Berlin der 30er-Jahre erfährt, erfährt sie über die starken visuellen Eindrücke vom Gesicht der Mutter, von der angsteinflößenden Haltung des Vaters und, dazu im Gegensatz, von der Erscheinung des jüdischen Onkels Sami, eines "Fabelwesens mit Augen". Er hat das Leben seines Neffen "anders gedacht".

    Die Beziehung zur Außenwelt verläuft außerdem vor allem über den Geruch: So nähert sich der kleine Junge der Stadt Berlin und so erlebt er auch die erste Schiffsreise:

    Noch nie hatte ich ein Schiff gesehen, gerochen, angefasst, betreten. Der Geruch nach Salz, Rost, Fisch und Öl, die verkrusteten Seile, das unheimliche Schwingen dieser geriffelten Planke, über die man an Bord kletterte.
    Dem kleinen Jungen - zu Anfang der Erzählung kommt er gerade in die Schule - erscheint die Materialität überwältigend, wie jedem Kind, aber er verbindet sie von Anfang an aufs Innigste mit den Worten, die die Dinge benennen und die er in ihrer ganzen Fremdartigkeit und auch in ihrem Zauber erfährt: zum Beispiel das schöne Wort "Hiddensee" und die ängstigenden Wörter "Monstranz", "Jüdisch" und "Rassengemisch". Die Worte können auch erbarmungslos einen Makel benennen und zur Denunzierung benutzt werden:

    Die Kameraden bissen sich an mir fest, ich war 'Achim-Banane' oder 'Krumme Lanke', weil ich beim Pimmelvergleich auf dem Klo mein zu langes, dünnes, nach rechts gebogenes Ding gezeigt hatte. 'Dein Pimmel ist so krumm wie deine Nase, du schwarze Banane.'
    Der heranwachsende Junge zieht aus dem Feixen und dem Gelächter, den Erniedrigungen und Kränkungen die Konsequenz, ein Streber und dann ein Sieger zu werden, sich dem "Jagdfuchs" genannten Sportlehrer anzuschließen und sich das Nazi-Braunhemd mit Schulterklappen anzuziehen.

    Ich will dazugehören. Ich will einer von ihnen sein. Ich will der Beste sein. Ich will bewundert werden. Ich will siegen.

    An dieser Stelle fügt sich der individuelle Wille nahtlos ein in die nationalsozialistische Siegerideologie. In diesem Herrenmenschen-Kollektiv fühlt sich der Gekränkte geachtet, der Kleine ganz groß. Jeder kann Olympiasieger werden. Und dennoch fühlt der Einzelne auch weiterhin seine geheimen Sehnsüchte und Ängste:

    Jeder Körper ... stößt mich ab. Ein ziehender Ekel... Leib ist Instrument... Ich fasse mich selber nicht gerne an.
    Es ist die große Stärke dieses Buches, die beiden Parallelwelten - die anziehende, von der Bürgerwelt nicht verhinderte Wahnwelt des Nationalsozialismus und die Angst- und Sehnsuchtswelt des Heranwachsenden - darzustellen, wie sie nebeneinander her sich entwickeln und sich teilweise nahtlos ineinander verschränken.

    Gleichzeitig verwandelt sich die eigene Familie in ein Horrorkabinett: Die Mutter erstarrt in "fratzenhafter Abwesenheit", der Vater ignoriert ihre "abgesunkene Wirrnis", der Bruder ist gefallen. Und der Ich-Erzähler? Er liebt den klaren, metallenen Klang der Sirenen; sie bedeuten für ihn Leben und er wünscht sich, die "Sirene" wäre männlich. In sich stetig steigernden Wort-Kaskaden von einer Wucht, wie wir sie aus Hans Henny Jahnns Prosa kennen, wird das eigene Haus als eine "Taifun-Wolke aus Schrei" beschrieben. Irrungen, Wirrungen, Täuschungen und Enthüllungen - alles wird von Raddatz so expressiv erzählt, dass er sich selbst und den Kritikern den Vorwurf einer "verintellektualisierten" Prosa widerlegt.

    Überblickt man heute das Werk von Raddatz, dann lernen wir ihn in diesem Fall als den literarischen Autor eines besonders ausdrucksstarken "Lehrstücks deutscher Geschichte" kennen; in seinen Essay-Sammlungen "Das Rot der Freiheitssonne wurde Blut" und "Schreiben heißt, sein Herz waschen" als engagierten Verteidiger einer Literatur, die inmitten der Welt und der Geschichte und einer moralischen Verantwortung ihren Ort hat; in den "Tagebüchern" als den in Kränkungen sich verzehrenden, vom Gefühl des großen Scheiterns beherrschten Autor. In seinem Buch "Nizza mon amour" erleben wir einen Autor, der sich zur Ergriffenheit und Übertreibung, zur Freude am Rausch der Farben und der Speisen bekennt. Ein Weltbürger ist in diesem Buch unterwegs, ein Kosmopolit, der seine Impressionen vor Ort mit Gedanken an Paris oder New York verknüpft. Man sieht einen Kunstliebhaber und reisenden Dichter vor sich, der gerne wie ein Schmetterling durch die Gegend flöge und der Hölderlins Ausruf "Komm ins Offene, Freund" im Ohr zu haben scheint.

    Fritz J. Raddatz schreibt immer aus dem Gefühl der Nähe zu einem Gegenstand, einem Ort, einer Landschaft, einem geschichtlichen Geschehen oder einer Person und wie er sich in ihr wiederfinden kann. Er lässt sich erst einmal berühren, bevor er in Distanz geht. Daher der Schwung und die Emphase des Anfangs seiner Texte.

    So beginnt seine Biografie über Gottfried Benn:

    Paukenschlag, Magnesiumblitz und Donnerpolter: Da sprang einer auf die Bretter, die die Welt bedeuten.
    Oder seine meisterliche Autobiografie Unruhestifter mit kurz einsetzenden biografischen Verortungen: "Da saß ich", "Da lebte ich", "Da war ich", hinführend zu ersten Selbstbestimmungen:

    Ein Irrläufer in verzagendem Hochmut, der seine Traurigkeit in Trotz
    ummünzte. Auf mich hat sich nie etwas gereimt.

    Es ist seine tiefe Verbundenheit mit geschichtlichen Prozessen, und es ist die spielerische Freude an Formulierungen, Analogien und Bildern, die den Leser seiner Bücher von Anfang an zum Mitreisenden machen. Fritz J. Raddatz zeigt sich in seinen Reisetexten wie auch in seinen Biografien, seiner Autobiografie und seinen "Tagebüchern" als ein gleichermaßen von der Beobachtung des Gegenwärtigen wie von der Erinnerung an die Geschichte, bis in kleinste Details hinein, geprägter Autor. Ein Autor, der Rechenschaft ablegen möchte von dem, wozu Kunst und Literatur - allein kraft der Worte und Zeichen, der Striche und Farben - in der Lage sind und wie sie entstehen.

    Versuche, das Individuum gegen seine Zeit zu spiegeln - und umgekehrt den Prägungen und Versehrungen des Subjekts durch Geschichte nachzugehen.

    Fritz J. Raddatz: "Die Tagebücher in Bildern."
    Rowohlt Verlag Reinbek 2011, 120 S., 100 Abb., 19,95 Euro

    Fritz J. Raddatz: "Ich habe dich anders gedacht."
    Erzählung. Arche Verlag Zürich-Hamburg, Neuausgabe 2011, 110 S., 18,00 Euro

    Mit einem Hinweis auf die im zu Klampen Verlag erschienenen Essay-Bände "Schreiben heißt, sein Herz waschen" und "Das Rot der Freiheitssonne wurde Blut". Die Bände "Nizza mon amour", "Günter Grass. Unerbittliche Freunde" und die Biografie über Rilke sind bei Arche, andere erwähnte Bände bei Rowohlt und Propyläen erschienen.