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Geschichte des Atheismus. Von den Anfängen bis zur Gegenwart

»Jeder Glaube macht unverschämt; wenn er frisch erworben Ist, ermuntert er die schlechten Instinkte; alle, die ihn nicht teilen, figurieren als Besiegte oder Unfähige, denen nur Mitleid oder Verachtung gebührt. Man beobachte nur einmal die Neubekehrten ..., alle, denen es gelungen ist, Gott für ihre Schliche zu interessieren ... Man vergleiche ihre Impertinenz mit der Bescheidenheit und den guten Manieren derer, die Im Begriffe sind, Ihren Glauben und Ihre Überzeugungen zu verlieren."

Erika Deiss | 26.03.2001
    »Jeder Glaube macht unverschämt; wenn er frisch erworben Ist, ermuntert er die schlechten Instinkte; alle, die ihn nicht teilen, figurieren als Besiegte oder Unfähige, denen nur Mitleid oder Verachtung gebührt. Man beobachte nur einmal die Neubekehrten ..., alle, denen es gelungen ist, Gott für ihre Schliche zu interessieren ... Man vergleiche ihre Impertinenz mit der Bescheidenheit und den guten Manieren derer, die Im Begriffe sind, Ihren Glauben und Ihre Überzeugungen zu verlieren."

    So E. M. Cloran. Er zeiht die Gläubigen, die alle Wahrheit von Jeher für sich gepachtet haben, nicht zu Unrecht der massiven Arroganz - denn jeder fünfte Mensch Ist heute Atheist. Schon die Antike kennt den Atheismus Im Gewand des Denkens einiger Vorsokratiker, Sophisten, Epikurs, der Kyniker und Skeptiker. Tatsächlich drückt der Atheismus eine Grundbefindlichkeit des Men-schen aus. Nicht jeder Mensch sucht seinem Leben im Rekurs auf eine göttliche Weltordnung einen Sinn zu geben; auch die Selbstverständigung der Materialisten, der Agnostiker, Deisten, Pantheisten oder Freidenker ist legitim. Von dieser Welse, ohne einen Gott zurechtzukommen, handelt Minois'Kompendium. Georges Minois, Absolvent der Ecole Normale Supérieure, einer der führenden Experten für Religlons-, Sozial- und Mentalitätsgeschlchte Frankreichs, legt in seiner jüngsten Studie auf 820 Seiten ein präzises Bild all jener Denkansätze vor, die angetreten waren, wie Karl Marx emphatisch formulierte, »alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen Ist.«

    Die Frage freilich: was ist früher: Atheismus oder Religion? ist prinzipiell unlösbar. Daß ergaben Forschungen der Ethnologen, die Minois genauso einbezieht wie die der Soziologen, Psychologen, Philosophen und Historiker. Dabei ist anzumerken, dass die Bezeichnung »Atheist« kein Selbstbekenntnis, sondern allemal die Schmähung seiner Gegner Ist. So jedenfalls die Quellen, überwiegend Schriften, die die Gottesleugner vehement bekämpfen - Atheismus war für lange Zelt ein todeswürdtges Verbrechen. Dennoch ist es eine Mythe, dass das Mittelalter die Epoche reiner Religiosität gewesen sei. Erinnert sei an Ketzerei und Hexen-wahn, Astrologie und Aberglauben.

    War schon der mittelalterliche Volksglaube verworren, so spitzt sich die Situa-tion Im Zeltalter der Renaissance, des Humanismus und der Reformation erst recht bedrohlich zu. Die Entdeckungsreisen, die Religionskriege, die Wiedergeburt der Antike nähren einen Skeptizismus, der im Zeitalter der Aufklärung so vehement sich Bahn bricht, dass der Glaube vollends in die Defensive, schließlich Im 19. Jahrhundert nahezu In den Bankrott getrieben wird. Vom Siegeszug der Wissenschaften angespornt, lancieren neue Kommunikationsformen den Atheismus. In Salons und Lesestuben wird über Gott und die Welt gestritten; man ist sich einig, nichts mehr hinzunehmen, was den Gesetzen der Vernunft zuwiderläuft. Bereits 1686 hatte Jean Chardln geschrieben:

    »Der Zweifel Ist der Beginn der Wissenschaft, wer nichts anzweifelt, prüft nichts; wer nichts prüft, entdeckt nichts; wer nichts entdeckt. Ist blind und bleibt blind.«

    Diese Einsicht teilen alle wachen Geister von Lukrez bis Sartre und von Letbniz bis Lenin. Ob Wilhelm von Ockham oder WIttgenstein, Descartes, Spi-noza, Galllei oder Siegmund Freud - sie alle trugen dazu bei, die Religion In ihrer unumschränkten Geltung konsequent zurückzudrängen. In seiner geradezu einschüchternden Materialfülle nur mit Fritz Mauthners 4-bändiger Atheismus-Studie von 1920 bzw. Friedrich Albert Langes »Geschichte des Materialismus« von 1873-75 vergleichbar, ist Minois' brillanter Darstellung, obwohl sie vornehmlich den soziokulturellen Kontext der Romania referiert, ein repräsentativer Wurf ge-lungen. Der Atheismus als Motor einer geistes- und ideengeschtlichen Macht, die die Jahrhunderte zutiefst durchformte: so vielfältig und anregend, wie er dem Leser hier entgegentritt, wird klar, was unsre Gegenwart am Atheismus fasziniert. Ein Standardwerk, von Eva Moldenhauer ausgezeichnet Übersetzt und vorbildlich in Textnachweisen und Register, übrigens bezieht der Autor nirgends Stellung - er wägt ab, prüft, stellt zur Diskussion, statt mit wohlfeilen Antwor-ten der Problematik ihre spitze abzubrechen. Damit schärft Minois den Blick für die Verirrungen der allzu lange einzig unter dem Primat der Religion in Augenschein genommenen Gelstesgeschlchte, deren Richtigstellung überfällig war.