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Geschichte des Kapitalismus
Geld als soziale Technologie

Der britische Ökonom und Altphilologe Felix Martin vereint in seinem Buch "Geld. Die wahre Geschichte" den historischen Blick auf den heute bestehenden Kapitalismus mit einer Analyse der Wirtschaftskrise. Die geschichtliche Einordnung ist brillant, sein Fazit enttäuscht fast ein wenig.

Von Thomas Fromm | 07.07.2014
    Es war im November 2008, als die britische Königin die London School of Economics besuchte, um ein neues Gebäude einzuweihen. Alles war seit Monaten vorbereitet, nur eines nicht: eine Antwort auf die dringlichste Frage jener Tage. Nur wenige Wochen vor dem Besuch der Queen war die US-Investmentbank Lehman Brothers zusammengebrochen und hatte so ein Erdbeben, zuerst im internationalen Finanzsystem, dann in der Weltwirtschaft, ausgelöst. Die Königin wurde an jenem Tag also konkret und fragte die wichtigsten internationalen Ökonomen, die sich in London versammelt hatten: "Warum, sehr geehrte Herren Wirtschaftswissenschaftler, hat keiner von Euch diese Krise vorhergesehen?"
    An Erklärungen für die Finanzkrise hat es seitdem nicht gemangelt, keine aber ging so sehr in die Tiefe wie jetzt die Studie des britischen Ökonomen Felix Martin. Er meint nämlich, dass wir Geld seit einigen 100 Jahren nicht mehr verstehen. Und so sei es gerade unser modernes Bild von Geld, das Finanzkrisen wie die von 2008 erst möglich macht: Geld werde als Wert an sich behandelt. Ein Trugschluss mit fatalen Konsequenzen, meint er Autor. Denn in Wahrheit sei Geld immer nur eines gewesen: eine "soziale Technologie".
    "Eine Bank ist lediglich ein Bürogebäude, das sich kaum von anderen Bürogebäuden unterscheidet - und die Besichtigung dieses Gebäudes würde einem Besucher wenig über Geld verraten. Das Problem ist, dass Geld letztlich kein Ding, sondern eine soziale Technologie ist: Eine Gesamtheit von Ideen und Praktiken, die das, was wir produzieren und konsumieren und die Art unseres Zusammenlebens organisieren."
    Geld war ursprünglich ein soziales Instrument
    Um bei der letzten großen Finanzkrise und ihren heutigen Ausläufern anzukommen, nimmt Martin einen großen Anlauf. Die Reise des Geldes startet in einem subtropischen Paradies, einer Inselgruppe mitten im Pazifik, etwa 1300 Kilometer von Neuguinea entfernt. Yap, so heißt die Inselgruppe, liegt zwar abseits der großen Finanzmärkte, und dennoch ist sie für die Geschichte des Geldes ein durchaus interessanter Ort. Katholische Missionare, die 1731 versuchten, den Menschen auf Yap ihre frohe Botschaft zu verkünden, fanden hier zwar ein äußerst unglückliches Ende, aber - wie Martin erläutert - dennoch fand man hier Merkmale von Zivilisation vor. Die Menschen dort hatten schon damals ein eigenes, hoch entwickeltes, wenn auch aus heutiger Sicht sehr besonderes Währungssystem. Das Geld bestand aus den sogenannten "fei", großen massiven Scheiben aus Stein. Durchmesser bis zu 3,60 Meter, in der Mitte ein Loch. "Wie nicht anders zu erwarten, sind Diebstähle von 'fei' praktisch unbekannt", schrieb ein Beobachter damals. Warum die Geschichte der "fei" so wichtig ist? Sie zeigt nach Martins Ansicht, was Geld ursprünglich war: ein soziales Instrument eben. Ein Tauschmittel, das man schon aufgrund seiner Größe beim Tauschen zuhause ließ.
    "Das Geld auf Yap waren nicht die fei, sondern das zugrunde liegende System von Kredit- und Verrechnungskosten. Die fei halfen den Bewohnern lediglich dabei, den Überblick zu behalten. Die fei waren nur Zeichen, mit deren Hilfe diese Konten geführt wurden."
    Es folgen nun auf mehreren hundert Seiten tausende Jahre Geldgeschichte. Über Athen, Rom, das China des vierten Jahrhunderts und Großbritannien führt "Die wahre Geschichte" des Geldes, und das klingt zwar trocken, ist aber äußerst lesenswert. Denn Martin ist nicht nur Ökonom, er ist auch Altphilologe - er kennt die griechische und römische Geschichte genauso wie die internationalen Devisenmärkte, und er ist ein guter Episoden-Erzähler. Das alles macht das Buch auch für Leser interessant, die Wirtschaftstheorien sonst nur wenig abgewinnen können. Da ist die Geschichte jenes mysteriösen italienischen Kaufmanns, der sich im Jahre 1555 in Lyon niedergelassen hatte, damals ein wichtiges Handels-Drehkreuz. Was seine Mitmenschen irritierte: Der Mann brachte keine Waren mit auf die dortige Messe, sondern nur einen Tisch und ein Tintenfass mit einer Feder. Er unterzeichnete von morgens bis abends Zettel, am Ende der Messe war er reich. Sehr reich sogar. Was aber hatte das zu bedeuten?
    "Der Kaufmann befasste sich fortan vornehmlich mit den rechtlichen und finanziellen Aspekten des internationalen Handels: Dem Wechsel des Eigentümers der Güter und des Geldes, das dafür in Empfang genommen wurde, und der finanzmathematischen Aufgabe, die in einer bestimmten Währung erhaltenen Einnahmen mit den Ausgaben in einer anderen Währung auszugleichen. Die lästige Arbeit, die Waren von einem Ort zum anderen zu schaffen, wurde an eine unbedeutendere Gruppe von Unternehmern ausgelagert."
    Plädoyer für "narrow banking"
    Wenn man so will, war der Messestand des Italieners in Lyon so etwas wie eine Frühform des modernen Finanzkapitalismus, in der Finanzierung und Kredit von der eigentlichen Ware getrennt wurden. Oder, wie es Martin schreibt: "Der Handel war zu einem Zweig der Mathematik geworden." Gleichzeitig weist der Autor daraufhin, dass man schon im alten Rom wusste, wie Finanzkrisen in einer Gesellschaft entstehen können: Nämlich, indem man die Mathematik unterschätzt - und die Schulden so exorbitant in die Höhe schießen.
    "Im Jahr 33 n. Chr. gelangten die Finanzbeamten von Kaiser Tiberius zu dem Schluss, der jüngste Boom bei der privaten Kreditvergabe sei zu weit gegangen. Man beschloss, die Regulierung zu verstärken, um den irrationalen Überschwang zu beseitigen. Nach einer kurzen Prüfung der Rechtslage stellten sie fest, dass vor mehreren Jahrzehnten kein Geringerer als der Ahnherr des Herrscherhauses, Julius Cäsar, in seiner Weisheit ein Gesetz geschaffen hatte, das genau festlegte, wie viel von ihrem väterlichen Erbe wohlhabende Adlige als Kredite vergeben durften."
    In der modernen Finanzsprache unserer Zeit würde man wohl sagen: Cäsar unterzog seine Adelshäuser einem Stresstest. Und kam zu dem Ergebnis, dass es strenge Eigenkapitalanforderungen braucht, damit das System nicht kollabiert. Am Ende plädiert der Autor nach langer, teils brillanter Vorarbeit für das Konzept des "narrow banking", also die Umwandlung des Finanzsektors in ein sichereres, solideres Bankensystem. Das ist per se keine schlechte Idee, aber irgendwie auch nicht sehr viel nach dem langen Anlauf, den Felix Martin genommen hat. Allerdings weiß auch der Autor, dass man weder die moderne Geld-Rezeption noch die internationalen Finanzmärkte so ganz abschaffen kann. Wir werden wohl keinen Immobilienfinanzierer finden, dem allein das Wissen um zwei drei Meter hohe Stein-Münzen in unserem Vorgarten als Garantie für einen Vertrag genügt.
    Felix Martin: Geld, die wahre Geschichte. Über den blinden Fleck des Kapitalismus, Deutsche Verlags-Anstalt. Übersetzt von Thorsten Schmidt, 427 Seiten, 22,99 Euro.