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Geschichte des Niedergangs von Großbritannien

Fast ein ganzes Jahrhundert liegt zwischen den ersten und den letzten Seiten von Alan Hollinghursts Roman "Des Fremden Kind". In fünf Kapiteln folgt er zwischen 1913 und 2008 den Spuren, die ein vielversprechender junger Lyriker (Cecil Valance) hinterlässt, schildert das Nachleben eines Poeten von zweifelhaftem Rang, als Sittengemälde und als Sozialgeschichte einer Oberschicht, die nach und nach ökonomisch und kulturell an Bedeutung einbüsst.

Von Michael Schmitt | 11.01.2013
    Er folgt den Vorstellungen von denen, die dem Dichter als Geliebte oder als Verehrer verbunden waren, ebenso den Nachlassverwaltern, den nachgeborenen Biographen oder akademischen Exegeten. Am Anfang steht ein geschmeidig, aber auch hemmungslos auftretender Spross aus einer adligen Familie, dessen Charisma und dessen Freizügigkeiten seine meist gehemmteren Mitmenschen beeindrucken. Nach seinem Tod - Cecil Valance fällt mit Mitte Zwanzig im Jahr 1916 - , folgen dann all die Spielarten des Gedenkens, die mehr der Pflege der Ambitionen und Eitelkeiten der Hinterbliebenen dienen als der Ehre des Verstorbenen. Das Bild des jungen Künstlers wird überformt, es verblasst, seine Bedeutung wird relativiert und schließlich ist er nur mehr eine entrückte historische Gestalt. So entrückt wie die Epoche, der er zugehört; so fragwürdig wie der nostalgische Reiz jener viktorianischen Landsitze, auf denen die Geschichte ihren Anfang genommen hat; soziologisch überlebt wie die alte Oberschicht, zu deren Salons eine Figur wie dieser Dichter gepasst hat - als Provokation für seine Zeitgenossen, aber auch als Spiegel ihrer Privilegien, ihrer Abschottung, ihrer Dominanz und ihrer Beschränkungen.

    In einem umfassenden Sinn ist "Des Fremden Kind" ein Gesellschaftsroman in der Nachfolge jener literarischen Großmeister, die Alan Hollinghurst selbst immer wieder als Vorbilder erwähnt hat: Evelyn Waugh oder Henry James. Es ist über die Geschichte zweier Familien hinaus die Geschichte des Niedergangs von Großbritannien im 20. Jahrhundert, und in fast jeder Szene geht es um zwei gegenläufige Bewegungen zugleich: um den unaufhaltsamen allmählichen Abstieg jener alten Eliten, die aus der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg stammen und sich zäh an ihre angestammten Positionen und an ihre streng gehüteten Selbstbilder klammern; und um den Aufstieg neuer Gruppen oder Schichten, wenn bürgerliche und kleinbürgerliche Protagonisten in die angestammten Reviere, seien es die Besitztümer, seien es die Positionen im kulturellen Leben eindringen, dabei neue Deutungsmuster mitbringen und alte Erzählungen in Frage stellen.

    Den Titel seines Romans habe er einem Gedicht von Alfred Lord Tennyson entlehnt - "In Memoriam A.H.H."-, weil der Klang von dessen Versen, tröstlich und bestechend traurig, perfekt zu seinen erzählerischen Absichten gepasst habe, hat Alan Hollinghurst erklärt. Wer seine früheren Romane kennt, etwa "Die Schönheitslinie" von 2004 (deutsche Übersetzung 2005) wird einmal mehr den Stilisten bewundern, der verhaltene Ironie, bissige Charakterisierungen, Exkurse zu Musik oder Architektur und knapp umrissene Zeitumstände zu "schöner Trauer" verschmelzen kann und dabei nicht ins Elegische abgleitet; der Verluste registriert, aber nicht beklagt, und die Neuerungen nicht bejubelt. Wandel regiert jede Seite des Romans, auch wenn die handelnden Figuren sich dessen oft nicht bewusst sind. Des Fremden Kind, erneut von Thomas Stegers in ein elegantes Deutsch übertragen, handelt von einer Nivellierung der Gesellschaft und im heutigen Verständnis durchaus auch von einer Liberalisierung, denn nicht nur die Emanzipation neuer Schichten ist eines seiner Themen, sondern so wie in den vorangegangenen vier Romanen auch die Außenseiterrolle der Homosexuellen und hier vor allem deren allmähliche Befreiung von Ächtung und Versteckspielen..

    Dennoch: Des Fremden Kind ist ein melancholisches Buch. Cecil Valance, der Dichter, hat zu Lebzeiten mit jedem geschlafen, mit Männern wie mit Frauen, wird einer seiner Geliebten Jahrzehnte später sagen wird - am College in Oxford etwa mit seinem Studienfreund George, später vielleicht auch mit dessen Schwester. Man fühlt sich als Leser zunächst an eine Gestalt wie Oscar Wilde erinnert, aber das wirkliche Vorbild aus der Literaturgeschichte ist der drittrangige Dichter Robert Brooke, den der britischen Premierminister in einer Durchhalterede gegen Ende des Ersten Weltkrieges zitiert - und er daraufhin zu einer Art von Staatsdichter und gewissermaßen unsterblich wird. Genauso ergeht es auch Cecil Valance, die patriotische Ehre ist die eigentliche Basis seines Nachruhms und überstrahlt seinen durchaus fragwürdigen Charakter.

    Diese Ambivalenz ist die Quelle für all die Projektionen, Verklärungen und Gerüchte, die das Bild von Cecil Valance umschwirren, für einen Nebel von Mutmaßungen, der niemals gelichtet werden wird, weil die, die Cecil Valance kannten, über bestimmte Dinge niemals offen sprechen, und weil die, die nachrücken, mit unbefriedigenden Antworten abgespeist werden und auch ihrerseits nur wieder Projektionen verbreiten oder auf Schlagzeilen aus sind. Des Fremden Kind schlägt unter den Büchern von Alan Hollinghurst den bislang weitesten Bogen und fasst alle seine Themen in einem großen Zusammenhang. Es ist nicht so bissig wie etwa "Die Schönheitslinie", in der er die Thatcher-Ära porträtiert hat, und dezenter im Umgang mit Sex - aber das ist Programm, denn schließlich sollen die Leser wie die Protagonisten nur mit Ahnungen oder Vermutungen zurückbleiben.

    Am Ende stöbert nur mehr ein Buchhändler in den leeren Räumen und in den Trümmern einer zum Abriss bereitstehenden Villa, um vielleicht doch noch ein ganz bestimmtes Dokument zu finden, das tatsächlich als Schlüssel zu Leben und Nachleben von Cecil Valance dienen könnte, aber er wird nicht fündig und wendet sich daraufhin seinem abendlichen Date zu.

    Alan Hollinghurst: Des Fremden Kind. Roman.
    Deutsch von Thomas Stegers,
    Blessing Verlag, München 2012, 690 Seiten