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Geschichte einer Flucht und Rückkehr

Dass Juden, die den deutschen Massenmord am jüdischen Volk im Exil überlebt hatten, nach Deutschland zurückkehrten, ist auf den ersten Blick kaum zu verstehen. Besonders in Israel tat man sich mit denen schwer, die nicht bereit waren, in die sichere Heimstatt der Juden im Nahen Osten einzuwandern.

Von Wolfram Wette |
    Jüdische Gemeinden in Deutschland wurden von offiziellen israelischen Besuchern in der Nachkriegszeit demonstrativ ignoriert. Dass es trotz allem nachvollziehbare Gründe geben konnte, doch wieder in das Land der Kindheit und Jugend zurückzukehren, auch wenn es das Land der Täter war, kann man nun in einem Buch von Moritz Neumann über seinen Vater Hans nachlesen. Hans Neumann, in Breslau geboren, floh vor den Nazis nach Prag, kämpfte in den Internationalen Brigaden und später in der Fremdenlegion gegen den Faschismus und kehrte doch nach dem Krieg in sein Heimatland zurück.

    "Im Zweifel nach Deutschland" heißt deshalb die Biografie, die Moritz Neumann, Vorsitzender des Landesverbandes der jüdischen Gemeinden in Hessen, in Form eines dokumentarischen Romans über seinen Vater geschrieben hat. Wolfram Wette hat den Band für uns gelesen:
    Der Verlag übertreibt nur geringfügig, wenn er für diese Publikation mit der Behauptung wirbt, sie schlage…

    "…ein bisher völlig unbekanntes Kapitel der deutsch-jüdischen Emigrationsgeschichte auf."
    Tatsächlich wird der Leser in ein historisches Terrain geführt, das bislang nur selten besichtigt werden konnte: Es geht um eine Facette in der Geschichte des bewaffneten jüdischen Widerstandes von außen gegen das nationalsozialistische Deutschland.

    Den zentralen Sachverhalt signalisiert schon ein Foto auf dem Schutzumschlag des Buches. Es zeigt einen Mann in amerikanischer Uniform, auf dem Kopf ein "Schiffchen", der sich, eine Zigarette rauchend, lässig an einen Armee-Lastkraftwagen lehnt. Es handelt sich um Hans Neumann, Jahrgang 1902, der auf dem Foto von 1944 42 Jahre alt war. Auf der linken Brusttasche der amerikanischen Uniform trug er übrigens das Lothringer Doppelkreuz. General de Gaulle hatte dieses Wappen für die Truppen des Freien Frankreich als Symbol des Widerstandes gewählt. Diese Truppen unterstanden damals dem alliierten Oberbefehlshaber auf dem europäischen Kriegsschauplatz, General Dwight D. Eisenhower.

    Beschrieben wird die Biographie eines deutschen Juden, eines überzeugten Sozialdemokraten und kämpferischen Antifaschisten, der 1936 aus seiner Heimatstadt Breslau vertrieben wurde und der als Emigrant bis zum Kriegsende 1945 eine neunjährige Odyssee durch Westeuropa und Nordafrika durchlebte. Er kämpfte in Spanien in den Internationalen Brigaden gegen die Truppen des Faschistenführers Franco und meldete sich 1940 freiwillig zur französischen Fremdenlegion, in der Erwartung, mit dieser gegen Nazi-Deutschland kämpfen zu können.

    Aber es sollte ganz anders kommen. Die Fremdenlegion, in welcher damals besonders viele deutsche Juden dienten, die zum bewaffneten Widerstand bereit waren, folgte den Befehlen des Marschalls Philippe Henri Pétain, der nach der Niederlage Frankreichs im Juli 1940 in Vichy zum französischen Staatschef gewählt worden war. Pétain kollaborierte mit Hitler-Deutschland, betrieb selbst eine antisemitische Politik und verzichtete auf die Organisation eines Widerstandes gegen Hitler-Deutschland. Hans Neumann wurde nun gegen seinen Willen entlassen und zusammen mit anderen deutschen Juden, die nach 1939 als Freiwillige in die Fremdenlegion gegangen waren, in ein Zwangsarbeitslager in Französisch-Marokko verbracht, das die Legion dort unterhielt. Neumann musste zwei Jahre lang beim Bau der Trans-Sahara-Eisenbahn, einem Prestigeprojekt der Vichy-Regierung, Sklavenarbeit leisten. Einer seiner Kameraden konnte der neuen Lage auch etwas Positives abgewinnen:

    "Als Juden stehen wir wenigstens unter dem Schutz der Legion. Niemand wird uns ausliefern. Das ist immer noch besser, als irgendwo in Europa auf den Einmarsch der Wehrmacht zu warten und von der Gestapo eingefangen zu werden. Dann nämlich wäre uns das KZ sicher. Und wenn das so weitergeht, steht Hitler bald in jedem europäischen Land. Dann schon lieber Wüstensand, Gluthitze und den alten Pétain."
    Erst als ihn Offiziere der Truppen General de Gaulles aus der Zwangsarbeit befreiten, konnte Hans Neumann als regulärer Soldat der Armee des "Freien Frankreich" gegen das nationalsozialistische Deutschland kämpfen. Als Corporal wurde er in Sizilien, Süditalien und Frankreich eingesetzt, aber nicht an vorderster Front, weil die Franzosen ihr Misstrauen gegen deutsche Juden nie völlig überwanden. So wurde er erst dann nach Paris entsandt, als die Hauptstadt schon befreit war. Dort konnte er auch das Kriegsende feiern. Bei einem Zusammentreffen mit fünf deutschen Sozialdemokraten, die sich bei der Résistance versteckt hatten, wurde er gefragt:

    "Du bist Jude. Willst du denn nach allem, was geschehen ist, wirklich zurück nach Deutschland ?"

    Für die meisten der jüdischen Freunde von Hans Neumann, die wie er als Antifaschisten gegen den Hitler-Staat gekämpft hatten, war wegen der Massenverbrechen des Nazi-Regimes ein zukünftiges Leben in ihrem früheren Heimatland unvorstellbar. Sie blieben in Frankreich oder wanderten in die USA, nach Kanada, Australien oder Israel aus. Hans Neumann war unentschlossen.

    "Natürlich könnte ich in Frankreich bleiben. Aber wir alle tragen doch unsere Vergangenheit mit uns herum... Deutschland wird jetzt ein anderes Land sein, und es wird noch einmal ein anderes Deutschland werden... Deutschland ist mehr als ein Haufen von Verbrechern. Es gibt die anständigen Deutschen, die besseren."
    Es zog Hans Neumann nach Deutschland zurück. Bei seinem ersten Besuch nach dem Kriege erfuhr er, dass von seiner Familie nahezu niemand überlebt hatte. Beinahe wäre er 1945 auf Vorschlag sozialdemokratischer Politiker Polizeipräsident von Potsdam geworden. In Fulda, wo er sich als Sekretär der Jüdischen Gemeinde um die Betreuung Überlebender des Holocaust kümmerte, lernte er die aus der polnischen Stadt Bendzin stammmende Jüdin Frania Broner kennen, die Auschwitz überlebt hatte. Die beiden heirateten. Aus ihrer Ehe ging der 1948 geborene Moritz Neumann hervor, der Autor des hier vorgestellten Buches.

    Moritz Neumann lebt als Journalist in Darmstadt und ist seit 1994 Vorsitzender des Landesverbandes der Jüdischen Gemeinden in Hessen sowie Mitglied des Zentralrats der Juden in Deutschland. Er schildert das Leben seines Vaters in der Form eines biographischen Romans. Das Buch ist spannend, anschaulich und nicht ohne Humor geschrieben, mit Sinn für Situationskomik ebenso wie die zum Teil komplizierten politischen Dimensionen des Themas. In einer Vielzahl fiktiver Dialoge vermittelt der Autor seinem Lesepublikum neue Facetten der Geschichte des Zweiten Weltkrieges. Leider fehlt in dem Buch jeder Hinweis auf die verwendeten Quellen. So kann man nur vermuten, dass Neumann in erster Linie die mündlich überlieferten Erinnerungen seines Vaters verwendet und sie durch eigene Archivforschungen ergänzt hat.

    Wie ist diese komplizierte Emigrantengeschichte in unser Geschichtsbild einzuordnen? Erstens gehört sie zum Komplex des jüdischen Widerstandes, über den uns Arno Lustiger in seinen Büchern informiert hat. Zweitens gehört sie in den Kontext des Kriegsendes 1945, also der Befreiung Deutschlands vom nationalsozialistischen Unrechtsregime.

    Machen wir uns eigentlich hinreichend klar, wer die Befreier waren? Wir denken an die US-amerikanischen, sowjetischen, britischen und französischen Soldaten, die Deutschland 1945 besetzten. Dagegen ist noch kaum im öffentlichen Bewusstsein verankert, dass in den Reihen der alliierten Truppen auch viele Deutsche dienten, die nach dem Machtantritt Hitlers ihre Heimat aus politischen Gründen hatten verlassen müssen und die sich hernach in ihren Gastländern im Widerstand gegen Nazi-Deutschland und für ein anderes, besseres Deutschland engagierten. Zu ihnen gehörte Hans Neumann, der jüdische Deutsche aus Breslau. Seine Biographie ist insoweit von exemplarischer Bedeutung, als sie uns die Möglichkeit gibt, von der Ebene der abstrakten Deutung des Kriegsendes herunterzusteigen auf die konkrete Ebene der Biographie eines Befreiers, der von seiner politischen Mission überzeugt war und für diese Überzeugung große Entbehrungen und Gefahren auf sich nahm.

    Wolfram Wette besprach 'Im Zweifel nach Deutschland - Geschichte einer Flucht und Rückkehr’ von Moritz Neumann. Das Buch hat 373 Seiten, kostet 24 Euro und ist im Verlag zu Klampen erschienen.