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Geschichte einer Selbstbehauptung

Die pakistanische Regierung versuchte im Jahr 1971 die Unabhängigkeit Ostpakistans zu verhindern. Anhand der Hauptfigur, der Witwe Rehana und ihren Kindern, erzählt Tahmima Anam in "Zeit der Verheißungen" die Selbstbehauptung seiner Figuren in jener Zeit.

Von Hartmut Kasper | 11.08.2011
    Rehana heißt die Hauptfigur des Romans. Sie ist Witwe, hat aber den Kontakt zu ihrem verstorbenen Gatten noch nicht ganz abgebrochen. Regelmäßig besucht sie ihn auf dem Friedhof und hält dort Zwiesprache mit ihm. Das Gespräch mit dem Toten als Lebensbeichte ist ein bewährtes Motiv. Da eine Liebe, die den Tod überdauert, eine große Liebe sein muss und wir gerne geneigt sind, allen Liebenden unsere Sympathie zuzuwenden, sind wir unverzüglich mit Rehana im Bund.

    Lange, bevor wir merken, dass die Geschichte, die uns aus dem Blickwinkel dieser Frau erzählt wird, keine ganz private Geschichte ist, sondern eine gewichtige Portion Weltgeschichte in sich fasst, oder doch ein Kapitel davon, und zwar ein hierzulande beinahe vergessenes.

    Der Roman spielt nahezu vollständig im Jahr 1971, und zwar vom März bis zum Dezember. Rehana lebt mit ihren beiden Kindern in Dhaka, jenem Dhaka, das zu Beginn des Romans Hauptstadt von Ostpakistan ist, am Ende die Hauptstadt von Bangladesh. Dazwischen liegt der Bangladesh-Krieg, nicht weniger blutig und grausam als andere Unabhängigkeitskriege. Zur Erinnerung: Nach der Unabhängigkeit von Großbritannien hatte sich Indien in zwei Staatengebilde aufgetrennt: das weitgehend hinduistische Indien und das islamisch dominierte Pakistan. Pakistan wiederum bestand aus zwei separaten Landesteilen, eineinhalb Tausend Kilometer voneinander entfernt und durch Indien und Nepal voneinander geschieden: West-Pakistan und Ost-Ostpakistan. Rehanas Sohn Sohail und ihre Tochter Maya studieren; ihre engagierten Kinder zwingen auch die Mutter in die Turbulenzen der Realität:

    "Jede kleinste Verwerfung der politischen Landschaft landete bei ihnen vor der Tür oder kam, als ihr Sohn alt genug war, zur Tür herein und war da. Es gab nur diese Zeit, dieses Leben, diese Ära voller Schwierigkeiten, an die sie gefesselt waren."

    Gefesselt ja, aber den Ereignissen nicht tatenlos ausgeliefert. Als die Ereignisse eskalieren und der Krieg ausbricht, wird aus Maya eine journalistische Aktivistin. Sohail geht mit einigen Freunden in den Untergrund und wird Soldat im Widerstand. Rehana bleibt. Der Krieg dringt vor in jede Pore der Gesellschaft und verändert alles. Dabei wird der Leser den Barbareien des Krieges nicht schonungslos ausgesetzt. Der Roman protokolliert die historischen Ereignisse, zumal die Exzesse der Besatzungstruppen, soweit sie sich nicht vor Rehanas Augen abspielen, kühl und knapp:

    "Sie plünderten die Häuser und setzten die Dächer in Brand. Sie vergewaltigten. Sie mordeten. Sie stellten die Männer in einer Reihe am Teich auf und erschossen sie. Sie setzten alte und neue Arten der Folter ein. Sie waren Entdecker, Pioniere der Grausamkeit, übertrafen sich jeden Tag aufs Neue mit ihrer Brutalität und fühlten sich dabei dem Göttlichen beständig näher, weil man ihnen gesagt hatte, dass sie Pakistan und den Islam und vielleicht sogar den Allmächtigen persönlich vor der Verkommenheit der Bengalen retteten. Auf dieser fieberhaften, göttlichen Mission kannte ihre Entschlossenheit keine Grenze."

    Natürlich ist Rehana nicht nur Perspektiventrägerin, sondern auch Partei. Der Krieg ist sauber in Gut und Böse sortiert. Immerhin gewinnen auch die feindlichen Figuren immer dann, wenn Rehana mit ihnen in Kontakt tritt, eine Statur, die wenigstens erahnen lässt, dass auch sie, die Soldaten, Kommandeure, Gefängniswärter und Folterknechte, einer humaneren Dimension entrückt sind, in die sie eigentlich gehören.

    Hunderttausende von Menschen, meist Hindus, fliehen aus dem vergewaltigten Land Richtung Indien. Rehana wird zu einer Heldin ohne jede heroische Geste. Sie holt den Ehemann der Nachbarstochter aus dem Foltergefängnis. Sie pflegt einen Major, der verletzt in ihrem Haus untergetaucht ist. Sie erlaubt die geheime Lagerung von Waffen auf ihrem Grundstück. Sie geht schließlich selbst nach Indien und hilft in einem Flüchtlingslager. Dabei bleibt der Text frei von jeder patriotischen Überhöhung. Alles Geschehen ist im Alltäglichen geerdet, was manchmal den Eindruck erweckt, eine sonderbare Mischung aus Familientragödie und Kochbuch zu lesen:

    "Rehana betrachtete das Aufgebot. Es gab ein fettiges Eelish-Fischcurry und ein noch fettigeres Rui. Es gab Hühnchen, auf zwei Arten zubereitet: Mussalam und Korma. Und bis zum Ende des Tisches waren Pola, eine dampfende Schüssel mit Dal, mehrere Bhortas, Salat und ein Schälchen mit Pickles aufgereiht."

    Alltag ist aber auch die seelische Veränderung der Kinder:

    "Doch Maya wollte partout nicht reden und trieb ziellos wie eine Staubwolke durchs Haus."

    All diesen Entstellungen zum Trotz trägt der Roman im Original den Titel "A Golden Age", ein goldenes Zeitalter. In Anbetracht dessen, was die Autorin erzählt, könnte man meinen, es sei ein ironisches Etikett für diese von Blut und Folter verdunkelte Epoche. Aber der Text steht jeder Ironie so fern, wie er dem politischen Pamphlet fernsteht oder auch dem Besserwisserischen der Nachgeborenen, die ja wissen, dass, natürlich, auch mit der Unabhängigkeit des neuen Staates unter Mujibur Rahman nichts zum Besten gewendet war, unter jenem Rahman, der rasch vom Premierminister zum Diktator mutierte.

    Anam gelingt mit ihrer feinfühligen, geradezu mikroskopisch genauen Prosa, die alle Erschütterungen der Psyche wahrnimmt, ein intensives Porträt einer Frau, die überlebt und ihren Kindern überleben hilft. Dazu musste sie lügen, sich verstellen, sich demütigen, erkennen, dass ihr verstorbener Mann doch nicht die einzige Liebe ihres Lebens war, und sie musste die neue Liebe gleich wieder opfern. Ihr Resümee:

    "Dieser Krieg, der so viele Söhne gefordert hat, hat meinen verschont. Dieser Krieg, der so viele Töchter geschändet hat, hat meine nicht geschändet. Ich habe es nicht zugelassen."

    Man wird am Ende das Gefühl haben, einer für europäische Lesegewohnheit fast befremdlich nahe gehenden, geradezu intimen Geschichte beigewohnt zu haben, die von allen Indiskretionen durchaus frei ist: der großartig erzählten Geschichte einer Selbstbehauptung in einem nicht vom Gold schweren Zeitalter.

    Tahmima Anam: "Zeit der Verheißungen"
    Roman. Aus dem Englischen von Anke Caroline Burger, Insel Verlag, 318 Seiten, 19,80 Euro