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Geschichte eines tragischen Weltverbesserers

Der Literaturnobelpreisträger Mario Vargas Llosa erzählt die Geschichte eines Heldensturzes: 1911 als Kämpfer für die Menschenrechte in den Adelsstand erhoben, wurde der Ire Sir Roger Casement nur wenige Jahre später hingerichtet. "Der Traum des Kelten" ist spannender Lebensbericht und zugleich eindringliche Anklageschrift fast vergessener Kolonialverbrechen.

Von Gisa Funck | 02.10.2011
    Auch Helden haben ihre menschlichen Schwächen. Allerdings entdeckt die heldensüchtige Öffentlichkeit derartige Schwächen in der Regel nur ungern. Und macht dann aus dem eben noch bejubelten Idol schnell ein allseits verachtetes Hassobjekt. Ein besonders krasses Beispiel für einen solchen Heldensturz ist der irische Humanist und Freiheitskämpfer Sir Roger Casement Anfang des vorigen Jahrhunderts. Zunächst als Kämpfer für die Menschenrechte 1911 sogar in den britischen Adelsstand erhoben, wurde er – nur ein paar Jahre später – 1916 wegen Landesverrats hingerichtet.

    Heute ist Roger Casement weitgehend vergessen. Lediglich in Irland erinnern ein paar Statuen an ihn und ist der Militärflughafen von Dublin nach ihm benannt. Auch in der Literatur haben Casement und sein höchst abenteuerliches Leben bislang merkwürdig wenige Spuren hinterlassen. Sein Freund, der irische Dichter William Butler Yeats, hat einige Gedichtzeilen über ihn verfasst. Der deutsche Schriftsteller W.G. Sebald widmete dem in Ungnade gefallenen Menschrechtler 2001 ein Kapitel in "Die Ringe des Saturn". Und Roger Casement taucht als Nebenfigur in Sachbüchern über die Kolonialgeschichte Afrikas auf, deren Verbrechen lange verschwiegen worden sind.

    Doch erst in diesem Herbst, fast hundert Jahre nach seinem Tod, erscheint unter dem Titel "Der Traum des Kelten" nun erstmals ein Roman über den tragischen Weltverbesserer. Geschrieben hat ihn der Literaturnobelpreisträger Mario Vargas Llosa, der im Nachwort meint:

    Die dunkle Aura von Homosexualität und Pädophilie umgab Roger Casement das Ganze 20. Jahrhundert hindurch. Seine Person erregt Missfallen in einem Land wie Irland, das bis vor wenigen Jahren von einer rigiden Moral beherrscht war und wo allein der Verdacht einer "sexuellen Perversion" dem Betreffenden Schimpf und Schande einbrachte. (...) Erst langsam sahen seine Landsleute ein, dass ein Held und Märtyrer kein abstrakter Prototyp und kein Muster an Perfektion ist, sondern ein Mensch voller Widersprüche (....) Was heißen will, dass Engel und Dämonen sich in seinem Wesen unentwirrbar durchdringen.

    Vargas Llosa, so erzählt er in Interviews, ist durch die Lektüre von Joseph Conrad auf Roger Casement gestoßen. Beide Männer hatten sich Ende des 19. Jahrhunderts in der belgischen Kolonie Kongo angefreundet. Und Conrad machte später keinen Hehl daraus, dass es nicht zuletzt Casement war, der ihn zu seinem weltberühmten Roman "Herz der Finsternis" inspirierte. Ähnlich wie der polnische Schriftsteller fühlte sich auch der irische Menschenrechtler durch seinen Aufenthalt in Afrika – fast zwanzig Jahre verbrachte Casement am Kongo - schmerzhaft desillusioniert. Anders als Conrad aber machte Casement nicht die Wildnis für die Verrohung vieler Kolonialisten verantwortlich, sondern erkannte hellsichtig, dass die Europäer oft schon von vornherein als Barbaren nach Afrika kamen.

    Ein junger Idealist, der bitter erfahren muss, dass seine humanistischen Ideale in einer brutalen Wirklichkeit nicht taugen: Diese Lektion hat Casement auch mit seinem Schöpfer Vargas Llosa gemeinsam. Als junger Mann begeisterte sich der peruanische Schriftsteller für die kommunistische Revolution Castros, bis die "Padilla-Affäre" ihm 1971 zeigte, wie grausam Castro gegen vermeintlich Abtrünnige vorging. Seitdem wird Vargas Llosa nicht müde, öffentlich vor jeder Form von Utopie zu warnen. In seinen Romanen wie etwa in "Maytas Geschichte" oder "Der Krieg am Ende der Welt" enden politische Heilsversprechen blutig, in der Katastrophe.

    Was mag den Literaturnobelpreisträger, der gern für die Selbstheilungskräfte des freien Marktes plädiert, an Roger Casement so gereizt haben? Vielleicht ja, dass dieser Anti-Kolonialist trotz aller Enttäuschung in Afrika weiterhin am Traum von einer gerechteren Welt festhielt. Der Ire stellt somit eine idealistische Gegenfigur zu seinem pragmatisch denkenden Schöpfer dar. Gleichzeitig aber schreckte der überzeugte Humanist Casement als Patriot später keineswegs vor Gewalt zurück – und verriet die Briten im Ersten Weltkrieg schließlich sogar an die Deutschen: in der irrigen Hoffnung, dadurch Irlands Befreiungskampf zu unterstützen. Es sind solche Widersprüchlichkeiten, die diesen vergessenen Helden bis heute ebenso rätselhaft wie faszinierend machen.

    1864 in Dublin geboren und früh Vollwaise, heuerte der junge Roger zunächst auf dem Schiff einer Handelskompanie an. Wie seine Kindheitsidole David Livingstone und Henry Morton Stanley wollte auch er Afrika entdecken und den Eingeborenen, wie er naiv glaubte, die Segnungen des Christentums und der Zivilisation näherbringen. 1884 durfte der knapp Zwanzigjährige dann tatsächlich sein Idol Stanley auf einer Kongo-Expedition begleiten, die die Privatkolonie des belgischen Königs Leopold III. für den Handel erschließen sollte. Noch war Casement überzeugt davon, im Dienst einer ehrenvollen Sache zu stehen. Doch schon auf dieser Reise beschlichen ihn erste Zweifel, ob die Mission Leopolds für die Eingeborenen wirklich so "human" war, wie der Monarch ständig beteuerte:

    "Verursacht Ihnen das, was Sie hier tun, nicht manchmal Gewissensbisse?" Die Frage war dem jungen Roger herausgerutscht. (...)
    "Gewissensbisse"? Henry Morton Stanley runzelte die Stirn. "Weshalb?"
    "Wegen der Verträge, die wir sie unterzeichnen lassen", überwand der junge Roger seine Befangenheit. "Sie legen ihr Leben, ihre Dörfer, alles, was sie haben, in die Hände der Internationalen Kongo-Gesellschaft. Nicht einer weiß, was er da unterschreibt, weil sie kein Französisch verstehen. (...) Und sie bekommen von der Gesellschaft nichts im Gegenzug. Weder Lohn noch Entschädigung. Ich dachte, Sie seien zum Wohl der Afrikaner hier, Mister Stanley."
    Ein langes Schweigen setzte ein. (...) "Afrika ist kein Ort für Schwächlinge", sagte Stanley schließlich. "Sich über so etwas Gedanken zu machen, ist ein Zeichen der Schwäche. (...) Und natürlich ist das alles zum Wohl der Eingeborenen. Es werden Missionare kommen, die Christen aus ihnen machen und ihnen beibringen werden, dass man seinen Nächsten nicht auffressen darf. (...) Aber ihr geistiger Entwicklungsstand ist eher vergleichbar mit dem eines Krokodils oder Nilpferds als mit ihrem oder meinem. Deshalb müssen wir für sie entscheiden, ob es für sie von Vorteil ist, diese Verträge zu unterschreiben."


    "Der Traum des Kelten" ist schon allein deshalb eine empfehlenswerte Lektüre, weil dieser Roman nicht nur an einen fast vergessenen Menschenrechtler erinnert, sondern auch an ein fast vergessenes Menschheitsverbrechen Europas, insbesondere Belgiens. Ausgerechnet das so auf seine humanistische Tradition pochende Westeuropa hielt 1884 unter Vorsitz von Bismarck in Berlin eine Afrika-Konferenz ab ohne einen einzigen Afrikaner. Dafür teilten die Kolonialmächte den schwarzen Kontinent kurzerhand unter sich auf – und sprachen dem belgischen König den Kongo als Privatbesitz zu. Die Habgier Leopolds war nun keiner Kontrolle mehr unterworfen. Und die zeitgleiche Erfindung des Gummireifens beförderte die Ausbeutung der Kolonie zusätzlich, wo das begehrte Kautschuk zu finden war. Anfang des 20. Jahrhunderts zog der Kongo jede Menge Abenteurer an, die in einen wahren Kautschuk-Goldrausch verfielen. Allen voran: der selbst ernannte Landesvater Leopold III., der mit Hilfe von Henry Morton Stanley und eigener Soldaten der Force Publique gnadenlos Land und Leute ausbeutete. Millionen von Eingeborenen wurden unter seiner Herrschaft als Sklaven verschleppt, gefoltert, vergewaltigt und ermordet.

    Schätzungsweise zehn der ursprünglich zwanzig Millionen Ureinwohner kamen bis 1908 ums Leben. Das hat der US-Journalist Adam Hochschild recherchiert, der 2006 mit einem Buch über Leopolds Terrorregime für Furore sorgte, das in Belgien immer noch totgeschwiegen wird. Übrigens nicht nur dort. Auch in Deutschland weigert man sich bis heute hartnäckig, der eigenen Kolonialverbrechen zu gedenken, denen etwa allein in Namibia 80.000 Hereros zum Opfer fielen.
    Bei Vargas Llosa hingegen ist der Kongo-Reisende Roger Casement zunehmend beunruhigt darüber, dass so viele Eingeborene Narben tragen und ihnen oft Hände, Füße und Penisse fehlen. Er kündigt bei Stanleys Handelskompanie und wird britischer Konsul in Boma. In dieser Funktion begibt sich der Ire 1903 selbst noch einmal auf Untersuchungsreise den Fluss hinauf. Befragt Kautschukfarmer, Soldaten, Missionare und Ärzte – und dokumentiert seine Ergebnisse mit Fotos. Was Casement in diesen drei Monaten herausfindet, übersteigt seine schlimmsten Befürchtungen. An seine Cousine Gee schreibt er:

    Liebe Gee, (...) ein normaler Mensch kann sich nicht so viele Monate in die Hölle begeben, ohne verrückt zu werden. (....) Wenn ich weiter aus nächster Nähe verfolge, was hier geschieht, werde ich selbst irgendwann Schläge austeilen, Hände abschneiden und zwischen Mittag- und Abendessen Kongolesen ermorden, ohne dass es mein Gewissen im Geringsten belasten würde. (...) Diese Reise in die Tiefen des Kongos hat mir aber auch geholfen, mein eigenes Land zu entdecken. In diesem Urwald habe ich nicht nur das wahre Gesicht von Leopold III. erblickt. Ich habe auch mein wahres Ich gefunden: den unverbesserlichen Iren.

    Angesichts des Grauens im Kongo sieht Casement auch seine eigene Heimat plötzlich mit anderen Augen. Er beginnt die Iren mit den geschundenen Kongolesen zu vergleichen, die von den Briten ebenfalls in Ketten gelegt würden. Eigentlich protestantisch und England treu erzogen, wandelt er sich mehr und mehr zum glühenden Patrioten. Und tritt kurz vor seinem Tod sogar zum Katholizismus über. Diesen erstaunlichen Sinneswandel seines Helden gibt Vargas Llosa zwar historisch korrekt wieder, ohne allerdings dessen Motive genauer auszuleuchten. Vor allem die Frage, wie ausgerechnet ein Gewaltverächter wie Casement im Ersten Weltkrieg zum militanten Nationalisten werden konnte, bleibt letztlich ungeklärt.

    Überhaupt gleicht "Der Traum des Kelten" eher einem chronologisch nacherzählten, stellenweise arg detaillierten Lebensprotokoll als einem Roman. Vargas Llosa fährt hier zwar jede Menge Fakten auf, entzieht sich jedoch merkwürdig einer eigenen Deutung Casements, als wäre ihm dieser Weltverbesserer selbst irgendwie unheimlich geblieben.

    Sein Roman wechselt zwischen zwei Zeitebenen hin und her. Auf einer Gegenwartsebene sitzt Roger Casement wegen Landesverrats in der Todeszelle und wartet auf sein Urteil, während zwischendurch immer wieder Rückblicke auf seine erstaunliche Karriere montiert sind. Sein Kongo-Bericht, den er trotz Malaria, Arthritis, Schreibkrämpfen und Depressionen 1904 veröffentlichte, machte den Iren auf einen Schlag weltberühmt. Und führte zu einem internationalen Sturm der Entrüstung, der Leopold III. schließlich zwang, seine Macht über die Kolonie an den belgischen Staat abzutreten.

    Casement galt nun als "Heiliger", wie ihn sein prominenter Mitstreiter Edmund Morel nannte. Was ihn der britischen Regierung allerdings offenbar auch suspekt machte. Man versetzte den Konsul nach Brasilien. Und gab ihm 1910 den Auftrag, die Ausbeutung der Indios im peruanischen Amazonas-Gebiet genauer zu untersuchen: eine Region, die ebenfalls wegen ihrer Kautschuk-Vorräte begehrt war.

    Tatsächlich wurde diese Amazonas-Expedition für Casement fast zu einer getreuen Wiederholung seiner Kongo-Erlebnisse. Und die Wahrheit, die er diesmal zutage förderte, war kaum weniger grauenvoll. Ähnlich wie die Kongolesen wurden auch die Amazonas-Indianer systematisch als Arbeitssklaven verschleppt und zu Tode gequält: diesmal allerdings nicht von einem skrupellosen Monarchen, sondern im Auftrag des Kautschukunternehmers Julio Arana, der die Schlüsselpositionen seiner mörderischen Kompanie wie ein Mafia-Boss mit Verwandten besetzt hatte.

    Mehrmals erhält Casement im Dschungel Morddrohungen. Er leidet noch schlimmer unter Arthritis, Fieber, Fisteln und Nervenzusammenbrüchen. Am Ende eines langwierigen Gerichtsprozesses in London aber triumphiert er 1911 abermals über seinen Gegner: Arana muss seine verbrecherische Kompanie dichtmachen. Und Roger Casement wird diesmal für seine Verdienste sogar zum Ritter geschlagen - was ihm allerdings inzwischen gar nicht mehr so recht ist:

    Ende Juni 1911 (...) erreichte Roger ein persönlicher Brief von Sir Edward Grey, in dem es hieß, seine Majestät George V. habe entschieden, ihn für seine Verdienste um den Kongo und das Amazonasgebiet zu adeln. Während seine Verwandten und Freunde ihn lebhaft beglückwünschten, überkamen Roger (...) ernste Zweifel. Wie konnte er diesen Titel annehmen, von einem Staat verliehen, der sein Land kolonisiert hatte und den er als Feind empfinden musste? Doch arbeitete er nicht andererseits als Diplomat für ebendiesen König? Nie zuvor war ihm dieses Dilemma so schmerzlich bewusst geworden.

    Nicht nur dieser innere Monolog liest sich in Vargas Llosas 450-Seiten-Roman ein bisschen papieren. Es ist dennoch ein spannendes Buch. Was weniger an der Beredtheit seines Autors als an der höchst fesselnden Biografie seiner Hauptfigur liegt. Nicht weniger als siebenundfünfzig Helfern und vier Mitarbeiterteams großer Bibliotheken dankt Vargas Llosa im Nachwort. Die Faktenfülle, die er anhäuft, ist enorm. Sie mündet jedoch gelegentlich in Wiederholungen und wirkt stellenweise akribisch. Umso mehr, als der Autor trotz der vielen Informationen seinem Helden gegenüber seltsam distanziert bleibt. Während er vom Menschenrechtler Casement noch mitreißend und plausibel erzählen kann, deuten die vielen Fragezeichen in den Monologen des späteren Nationalisten bereits an, dass ihm der irische Befreiungskämpfer offenbar weniger behagte. Vor allem aber mit der Homosexualität seines Helden tut sich der lateinamerikanische Autor merklich schwer, obwohl er selbst im Nachwort betont, dass vor allem die Veröffentlichung der "black diaries" Casement geschadet hätte. Aus diesen berüchtigten Tagebüchern, in denen der Ire ungewöhnlich drastisch seine Liebesabenteuer festhielt, zitiert Vargas Llosa dann zwar mehrmals. Doch werden die Eintragungen in keinen gesellschaftlichen Kontext gestellt. Der Autor lässt Casement lediglich traurig darüber nachsinnen, dass er wohl nie eine eigene Familie haben werde – und behauptet schließlich sogar, dass die homosexuellen Episoden teilweise nur herbei fantasiert seien:

    Eines Nachmittags, während er gegen schwere Ohnmachtsanfälle ankämpfte, schrieb Roger in sein Tagebuch: "Drei Liebhaber in einer Nacht, darunter zwei Matrosen. Sechsmal haben sie es mir besorgt! Breitbeinig wie eine Gebärende bin ich ins Hotel zurückgewankt." Das war so ungeheuerlich, dass er lachen musste. Er der formvollendete, eloquente Roger Casement, wurde bei seinen Tagebucheintragungen immer wieder von dem Drang überwältigt, die derbsten Obszönitäten zu Papier zu bringen. Aus irgendeinem ihm nicht ganz ersichtlichen Grund tat ihm das gut.

    Man kann vermuten – wie es Rezensenten getan haben -, dass Vargas Llosa die sexuelle Neigung seines Helden als Verfechter des patriarchalen Familienmodells nicht besonders sympathisch war. Doch genau dadurch, dass die Homosexualität als gesellschaftliches Tabu in seinem Roman kaum eine Rolle spielt, wird auch ausgerechnet jener Aspekt nicht erörtert, der doch eigentlich erst die Tragik von Roger Casement ausmacht. Denn dieser eigentümliche Einzelgänger war eben nicht nur Humanist unter Sadisten, nicht nur Ire unter Briten. Casement war auch und vor allem: schwul in einer Zeit, in der die Männerliebe noch als strafwürdiges Verbrechen galt. Und das bedeutet: Er war nicht nur ein erfolgreicher Anwalt der Verfolgten, sondern auch selbst ein Verfolgter, der nur allzu gut wusste, wofür man seinen Landsmann Oscar Wilde noch ein paar Jahre früher ins Zuchthaus gesperrt hatte. Der Schriftsteller W.G. Sebald zog in "Die Ringe des Saturn" 2001 daraus folgenden Schluss:

    Dass es möglicherweise gerade die Homosexualität Casements war, die ihn befähigte, über Grenzen der gesellschaftlichen Klassen und der Rassen hinweg, die andauernde Unterdrückung, Ausbeutung, Versklavung und Verschrottung derjenigen zu erkennen, die am weitesten entfernt waren von den Zentren der Macht.

    Erst der selbst diskriminierte Homosexuelle entwickelt nach Sebald das nötige Gespür für andere Diskriminierte: Das mag eine steile These sein, über die man streiten kann. Es ist aber mehr als nur wahrscheinlich, dass die eigene, allgemein verpönte Neigung den religiösen, hochmoralischen Casement in schwerste Gewissensnöte gestürzt hat. Was psychologisch vielleicht seine Radikalität erklärt. Und womöglich auch: warum er seine skandalösen Tagebücher so nachlässig herumliegen ließ. Fast so, als habe er gewollt, dass man sie findet und ihn bestraft. Faktum zumindest bleibt: Es war nicht in erster Linie der begangene Landesverrat, der Casement 1916 an den Galgen brachte. Es war vor allem der Fund der "black diaries", der sich für ihn fatal auswirkte. Nicht umsonst hielten seine Freunde diese Tagebücher lange für Fälschungen Scotland Yards. Denn erst durch sie konnte der ehemalige "Heilige" überhaupt zum "Perversen" absinken - und verlor damit jede Chance auf eine Begnadigung, für die sich viele prominente Zeitgenossen etwa Arthur Conan Doyle einsetzten. Es ist darum ein großes Manko des Romans von Vargas Llosa, dass er nicht näher auf die soziale Ächtung eingeht, die es zu Casements Zeit bedeutete, homosexuell zu sein.

    Nichtsdestotrotz ist "Der Traum des Kelten" als eindringliche Anklageschrift fast vergessener Kolonialverbrechen und als spannender Lebensbericht überaus lesenswert. Zudem gebührt Vargas Llosa Dank dafür, dass er mit diesem Buch den anrührend tragischen Helden Roger Casement zurück ins kollektive Gedächtnis ruft.

    Mario Vargas Llosa: Der Traum des Kelten
    Suhrkamp Verlag, Berlin 2011
    447 Seiten, 24.90 Euro

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