Donnerstag, 28. März 2024

Archiv


Geschichte erlaufen

Geschichte erlaufen – unter diesem Motto trafen sich am Wochenende, in terminlicher Nähe des 21. Jahrestages des Mauerfalls, in Berlin mehr als 50 Läufer und Läuferinnen aus Deutschland und der Schweiz. Sie umrundeten auf drei Etappen das einstige West-Berlin auf fast 170 Kilometer.

Von Ronny Blaschke | 07.11.2010
    Die Berliner Mauer in Kreuzberg, 1962
    Die Berliner Mauer in Kreuzberg, 1962 (Deutschlandradio)
    Freitagmorgen, kurz vor acht. 50 Läuferinnen und Läufer postieren sich auf dem Vorplatz des Axel-Springer-Verlages, sie tippeln aufgeregt hin und her. Vor ihnen spricht Michael Cramer in ein Megafon. Der Europa-Abgeordnete der Grünen ist Schirmherr der ersten Mauerweg-Tour. Geschichtsunterricht im Laufschritt.

    Am Start verdeutlicht eine Doppelreihe Kopfsteinpflaster, wo die Mauer stand. Die Läufer orientieren sich an dieser Linie, obwohl sie nicht sofort ins Auge fällt und zum Teil von parkenden Autos verdeckt wird. Die Teilnehmer laufen für eine gute Streckenzeit. Doch sie laufen auch gegen das Vergessen an, denn um das Gedenken der Mauer entzündet sich immer wieder Streit.
    Rückblende. Am Donnerstagabend hält Schirmherr Michael Cramer einen Vortrag zur Geschichte der Mauer. Unter den Teilnehmern, die aus ganz Deutschland und der Schweiz stammen, ist Benjamin Zollmann aus der Umgebung von Jena.

    Die Mauerweg-Tour ist für ihn Vergangenheitsbewältigung. Seine frühere Ehefrau war mit dem gemeinsamen Sohn 1986 nach West-Berlin ausgereist. Zollmann nahm seinen achtjährigen Sohn für Besuche am Grenzübergang an der Oberbaumbrücke in Empfang. Nur einmal sorgte er sich zutiefst, denn er wartete auf seinen Sohn fast vergeblich.

    "Hab ich's versucht, bin ich mal rübergegangen und dann haben die mich natürlich gleich weggeschickt. Ich hätte hier nichts zu suchen, ich wäre in der Nähe der Grenzanlagen, ich sollte weggehen. Ich habe vielleicht acht Stunden gewartet, dann kam mein Sohn, das ist eigentlich eine schlimme Geschichte, dem haben sie am Grenzübergang seinen Kinderausweis zerrissen."

    Mehr als 20 Jahre später läuft Benjamin Zollmann auf der Mauerweg-Tour wieder an der Oberbaumbrücke vorbei. Neben den Läufern bestaunen Dutzende Touristen die nahe gelegene East Side Gallery, jenen Mauerabschnitt, der von Künstlern aus aller Welt bemalt wurde. Für den 52-jährigen Zollmann und seinen ältesten Sohn hat sich so gut wie alles verändert – zum Positiven, das wird ihm beim Laufen wieder bewusst.

    "Ein emotionaler Lauf. Wie sich das jetzt entwickelt hat. Mein Ältester arbeitet jetzt in Bukarest, wohnt in Paris. Europa ist jetzt erlebbar. Das ist einfach völlig anders, als es damals in der eingemauerten DDR war."

    Entlang der Grenze wurde Geschichte geschrieben – welche der Episoden den Mauerweg-Läufern wohl durch den Kopf geht? Für Ricarda Bethke liegt der neuralgische Punkt ihrer Erinnerungen an der Bernauer Straße. 1986 hatten sie und ihr Mann einen Ausreiseantrag gestellt, daraufhin wurden sie beruflich zwangsversetzt. Als Totengräber auf einen Friedhof, gemeinsam mit oppositionellen Künstlern, Schauspielern, Lehrern. Jeden Tag sah sie von einem Hügel Soldaten, Sperrzäune, Schussanlagen.

    "Wenn man auf diesem Hügel stand, sah man über die ganzen Sperranlagen hinweg bis auf die Bernauer Straße im Westen. Im Herbst, wenn weniger Laub auf den Bäumen war, sogar die Menschen da laufen. Und irgendwie war es für mich immer unvorstellbar, wie es sein kann, dass ein Land, eine Stadt so geteilt ist."

    Wie viel Geschichtsbewusstsein ist nötig? Von den ursprünglich 303 Wachtürmen sind nur noch fünf erhalten. Ricarda Bethke hat eine klare Antwort, sie hätte sich nicht träumen lassen, dass sie einmal den Rand des einstigen West-Berlins erlaufen würde. Die 47-Jährige hatte sich für einen der letzen Startplätze beworben, sie wollte unbedingt mitmachen. So pflegt sie ihre Erinnerungen.

    "Und ich finde es eben sehr wichtig, dass es eben erhalten bleibt. Dass nicht einfach bloß: 'Die Mauer muss weg', sondern dass man durch solche Sachen wie den Mauerradweg und so weiter immer wieder daran erinnert, was hier für Geschichte passiert ist."

    128 Maueropfer sind namentlich bekannt, während des dreitägigen Laufes wird auch ihnen gedacht. Es war der Grüne Michael Cramer, der den Ausbau des Mauerweges ins Rollen gebracht hatte. Cramer wirbt auch dafür, dass das sogenannte "Parlament der Bäume" unter Denkmalschutz gestellt wird, gemeint sind die einzigen Mauersegmente im Regierungsviertel. Cramer erhält an diesem Wochenende Unterstützung von 50 Läufern. Sie bescheren ihm wichtige Öffentlichkeit – fast 50 Jahre nach dem Bau der Mauer.