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Geschichte Europas im 20. Jahrhundert. Fall und Aufstieg 1914-2001

Harold James ist ein renommierter Historiker, lehrt seit Jahren an der Universität von Princeton. Bislang hat er sich vor allem durch zahlreiche Bücher zur internationalen Wirtschaftsgeschichte einen Namen gemacht. Jetzt hat er eine "Geschichte Europas im 20. Jahrhundert" geschrieben. Eine Geschichte von "Fall und Aufstieg", wie es im Untertitel heißt, vom Fall Europas in der ersten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts mit Beginn des Ersten Weltkriegs 1914 und von seinem Wiederaufstieg 1945, nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs. Das Buch wird vorgestellt von Ulrich Rose.

Von Harold James |
    Mit dem Jahr 1989, mit dem Verschwinden des Eisernen Vorhangs, brach in Europa keineswegs das goldene Zeitalter an. Im Gegenteil, heute ist bei vielen Europäern Desinteresse, Resignation oder Missmut eingekehrt. Dabei wird schnell vergessen, wie es vor nicht einmal sechs Jahrzehnten aussah auf dem Kontinent:

    1945 erschien dem vom Krieg verwüsteten Europa die Zukunft überaus düster. Weite Teile lagen in Trümmern. Die Institution des Nationalstaats war diskreditiert. Der ganze Kontinent, außer der Sowjetunion, trug die Narben der Niederlage, des Verrats und der Kompromisse. Die am Krieg beteiligten kontinentaleuropäischen Länder waren besiegt und gedemütigt worden. Von der Hinterlassenschaft der Kollaboration in Wirtschaft und Politik waren selbst die neutralen Länder gekennzeichnet. England lag zwar nicht militärisch am Boden, war aber finanziell ruiniert.

    So charakterisiert Harold James die Lage am Ende des Zweiten Weltkriegs. James, renommierter Historiker an der Princeton-University, hat eine "Geschichte Europas im 20. Jahrhundert" geschrieben, eine Geschichte von "Fall und Aufstieg", wie es im Untertitel heißt. Harold James spannt einen weiten Bogen, vom Trauma des Ersten Weltkriegs bis zum, wie er schreibt, "Sieg von Demokratie und Kapitalismus" am Ende des Jahrhunderts. Europäische Geschichte im 20. Jahrhundert, im "amerikanischen Jahrhundert", wie es genannt wird, ist eingebettet in einen globalen Kontext. Dabei sieht James vor allem zwei bestimmende Faktoren. Zum einen die Globalisierung, ein – nicht ausschließlich – ökonomischer Prozess, der immer weniger von nationaler Politik zu steuern ist. Der zweite Faktor ist aus der Sicht des ausgewiesenen Wirtschaftshistorikers die Wiederkehr der Moral: Die Entwicklung des Völkerrechts, die Beachtung der Menschenrechte und moralische Ansprüche an die Politik drängten am Ende des Jahrhunderts kaltes realpolitisches Denken zurück.

    James stellt Europas Geschichte auf zwei Weisen dar. Zunächst beschreibt er den Prozess der Modernisierung und Rationalisierung, den die europäischen Gesellschaften im Verlauf des Jahrhunderts erlebt haben. Da geht es etwa um den Zuwachs an Wohlstand oder darum, wie sich Sterblichkeit und Geburtenraten entwickelt haben. Neben diesem eher knappen Längsschnitt durch die europäische Sozialgeschichte steht die für einen Historiker naheliegende Weise der Darstellung, die chronologische. So beginnt Harold James mit 1914, mit dem Ersten Weltkrieg, dann folgen die unsicheren zwanziger Jahre, und so geht es, Schritt für Schritt, durch das Jahrhundert. Und auf jeder dieser Etappen fächert James seine Darstellung noch einmal auf, erzählt knapp und klar gegliedert, wie die Entwicklung in einzelnen europäischen Ländern verlief.

    Das ist ungemein informativ. Souverän und klar präsentiert Harold James auf knapp 500 Seiten eine erstaunliche Fülle von Material. Dabei berücksichtigt er auch Aspekte der Sozial-, der Kultur- und der Mentalitätsgeschichte. Die Klarheit und der Faktenreichtum werden ergänzt durch einen umfangreichen Anhang sowie durch Erläuterungen wichtiger Begriffe wie Appeasement oder Bretton-Woods-System. So ist das Werk ein beeindruckendes, höchst informatives Handbuch zur Geschichte der europäischen Staaten im vorigen Jahrhundert.

    Und bei aller Strenge, die von dieser Art, Geschichte zu schreiben, ausgeht – hier und da besticht Harold James mit treffenden Beobachtungen. So, wenn er zur Ära Adenauer anmerkt:

    Die nach dem Krieg wieder aufgebauten Städte waren eine Widerspiegelung der Bundesrepublik: Hier und da war das Frühere restauriert, es gab kaum irgendeine Gesamtplanung, geschweige denn ein ästhetisches Konzept, all das zugunsten des kommerziellen Denkens.

    Immer wieder versteht es James, mit kleinen Anekdoten Staatsmännern wie zum Beispiel Charles de Gaulle zusätzlich Konturen zu verleihen. Und da und dort führt er zusammen, was sonst vereinzelt bleibt. Über die 68er und ihren Marsch durch die Institutionen etwa schreibt Harold James:

    (Joschka Fischer) zog die Jeans und die Turnschuhe, die sein Markenzeichen als erster grüner Umweltminister Hessens gewesen waren, aus und schlüpfte in weiße Hemden, gedeckte Krawatten und dunkle Dreiteiler. Auch Gerhard Schröder legte die Jeans ab und elegante Maßanzüge an. Lionel Jospin, in den sechziger Jahren ein Trotzkist, wurde in den neunziger Jahren ein angesehener französischer Ministerpräsident, der sich durch Pragmatismus und hohen moralischen Anspruch auszeichnete. In Großbritannien wurde der Vorsitzende der Nationalen Studentenvereinigung nach 1968, Jack Straw, zu einem unbestreitbar geachteten Außenminister.

    Das ist scharf beobachtet – doch Harold James belässt es bei der Beobachtung. Dabei wäre es erhellend, weiter zu fragen: Sind da erste Umrisse einer politischen Elite zu sehen, die wirklich europäische Züge trägt? Wenn ja – was zeichnet diese Elite aus? Oder ist das Zusammentreffen von Fischer, Jospin und Straw doch eher zufällig?

    Dass der Autor es weitestgehend bei den Fakten belässt, das ist bezeichnend. So kommt Europa selbst fast ausschließlich vor als institutioneller Rahmen, der sich vor allem unter dem Druck der Globalisierung entwickelt: als Montanunion, als Europäische Wirtschaftsgemeinschaft, als EU. Europa aber kommt nicht vor als das Besondere, als das Eigentümliche, das die europäischen Staaten verbindet oder vielleicht auch trennt. Um es zugespitzt zu sagen: Aus der bloßen Addition der europäischen Nationalgeschichten entsteht noch keine Geschichte Europas.

    Zumindest keine, wie sie am Beginn des neuen Jahrhunderts zu erwarten ist. Harold James geht überhaupt nicht ein auf Kontroversen und Debatten, die sich diesseits und jenseits des Atlantiks an Europa entzünden. Wie ist es bestellt um seine politische Zögerlichkeit? Oder: Ist Europas politische Union gerade dabei, die globale Landschaft zu verändern? Wie steht es um Europas Sozialstaatlichkeit? Haben die Europäer überhaupt eine Idee von sich selbst? Was wird aus der Vielfalt Europas, eine der europäischen Stärken: Verschwindet sie in der Brüsseler Marktgemeinschaft?

    Auf solche Fragen aber geht der Autor nicht ein. Das ist bedauerlich. Bedauerlich vor allem deshalb, weil Harold James über eine derart bestechende Kenntnis der europäischen Geschichte verfügt.

    So weit Ulrich Rose. Er rezensierte die "Geschichte Europas im 20. Jahrhundert" von Harold James. Erschienen ist das Buch bei C.H. Beck in München. Es umfasst 576 Seiten und kostet 29 Euro 60.