Budapest, 4. November 1956, 5.20 Uhr morgens. Über den improvisierten Rundfunksender im ungarischen Parlamentsgebäude spricht Imre Nagy, der Ministerpräsident der ungarischen Revolution, ein letztes Mal zu seinen Landsleuten. Was Imre Nagy sagt, wird wenig später auch in englisch, russisch und deutsch verlesen.
"Heute früh morgen haben die sowjetischen Truppen die ungarische Hauptstadt angegriffen mit dem offensichtlichen Zwecke, die gesetzliche Regierung Ungarns zu stürzen. Unsere Truppen stehen im Kampfe."
Die sowjetische Führung lässt den ungarischen Volksaufstand brutal niederschlagen - Dreizehn Tage zuvor, am 23. Oktober, hatte er begonnen. Die Ungarn hatten ihre stalinistischen Machthaber in wenigen Tagen buchstäblich hinweggefegt - spontan, schlecht bewaffnet, ohne Führung, aber vereint.
Nach dem Einmarsch der Roten Armee kam die grausame Rache. Hunderte Menschen wurden hingerichtet, 20.000 kamen ins Gefängnis. Fast 200.000 Ungarn emigrierten in den Westen.
Pünktlich zum 50. Jahrestag der Revolution haben nun zwei prominente Ungarn - Zeitzeugen zumal - Neuerscheinungen zum Thema vorgelegt und damit einen langjährigen Mangel behoben.
Von dem ungarisch-österreichischen Historiker und Publizisten Paul Lendvai stammt das Buch "Der Ungarnaufstand 1956. Eine Revolution und ihre Folgen". Und der ungarische Schriftsteller György Dalos hat unter dem Titel "1956. Der Aufstand in Ungarn" eine kleine Geschichte der Ereignisse verfasst, die sich speziell an deutsche Leser richtet. Die beiden Bücher sind alles andere als nüchterne Monographien, die anlässlich eines runden Jahrestages pflichtgemäß oder konjunkturbewusst eine Marktlücke füllen sollen. Sie folgen vielmehr einem Trend in der Historiographie, wie ihn Orlando Figes mit seinem grandiosen, monumentalen Buch über die russische Revolution mitgeprägt hat.
Lendvai und mehr noch Dalos erzählen Geschichte in bester publizistischer, zum Teil literarischer Qualität. Sie verbinden die sachliche Darstellung des Revolutionsverlaufs mit aktuellen politischen Bewertungen, aber auch mit vielen persönlichen Bekenntnissen. Paul Lendvai erlebte den Aufstand als junger Mann von 27 Jahren. Noch kurz zuvor war er glühender Kommunist gewesen, dann im Zuge der stalinistischen Parteisäuberungen verhaftet und interniert worden. Erst kurz vor dem Aufstand durfte er überhaupt wieder als Journalist arbeiten, 1957 emigrierte er nach Österreich, wo er seitdem lebt. Heute sieht Lendvai den Aufstand als einen der entscheidenden Meilensteine eines jahrzehntelangen Weges, an dessen Ende 1989 die kommunistischen Diktaturen in Osteuropa zusammenbrachen. Lendvai spricht in seinem Buch rückblickend von einem "Sieg in der Niederlage":
"Die 56er Revolution, dieser Aufstand zeigt auch, wie schnell eine autoritäre Struktur, denken Sie nur an Hussein, eine andere Situation, aber immerhin, wie schnell alles zusammenbrechen kann, und was für eine unglaubliche Kraft der menschliche Geist, der Freiheitsdrang der Menschen, entfalten kann, und in dieser Hinsicht, wenn Sie denken an Weißrussland, wenn Sie denken an Nordkorea, ja, wenn Sie denken an Russland oder China, sehen Sie, dass noch sehr viel zu tun ist, und die Lehren dieser Revolution sollte man nicht vergessen."
Anders als Lendvai wuchs György Dalos, der 1956 ein dreizehnjähriger Junge war, im so genannten Kádárschen "Gulaschkommunismus" heran, einer Ordnung, in der geschwiegen und fröhlich konsumiert wurde, benannt nach Janos Kádár, dem ungarischen Liquidator der 56er Erhebung, dem politisch Mitverantwortlichen am Galgen-Tod von Imre Nagy und kommunistischer Parteichef in Ungarn bis kurz vor der Wende 1989. Seine Sicht auf die Ereignisse ein halbes Jahrhundert danach, fasst Dalos so zusammen:
"Die moderne ungarische Gesellschaft ist eigentlich 1956 geboren worden. Ich beschreibe diesen Prozess, wo die zwei großen Erfahrungen aufeinander treffen, die Erfahrung der Partei, dass sie ohne die Rote Armee in drei Tagen gestürzt werden kann, und die Erfahrung der Bevölkerung, dass man das Regime stürzen kann, aber dann kommt die Sowjetarmee. Aus dieser gemeinsamen Erfahrung entstand so etwas wie eine Zwangsehe zwischen dem Regime und der Gesellschaft. Wenn wir heute Schwierigkeiten haben in unserer Demokratie, das ist nicht einmal wegen der Illusionen in Bezug auf die Ära Kádár, sondern weil die Mentalität der ungarischen Gesellschaft von diesem ewigen grinsenden Kompromisslertum sehr stark beeinflusst wurde."
Ungarn nach dem sowjetischen Einmarsch am 4. November 1956. Über Kurzwelle senden Aufständische verzweifelte Hilferufe in die Welt hinaus, an die USA, die UNO. Der Westen hört die Hilferufe - und: überhört sie. Für Paul Lendvai war es, wie er noch immer mit spürbarer Empörung sagt, eine "Bankrotterklärung der amerikanischen Befreiungskonzeption":
"Es geht nicht darum, dass die Amerikaner hätten mit der Atombombe drohen sollen, sondern es geht darum, dass sie sich wie uninteressierte, gleichgültige Zuschauer benommen haben, als ob sie einen Film gesehen haben. Sie haben auch während der Revolution nichts getan, im Gegenteil. Sie haben den Russen, den Sowjets, damals mitteilen lassen, dass sie nicht interessiert sind an der Unabhängigkeit dieser Staaten. Und mit dieser Versicherung hat eine zuerst gespaltene sowjetische Führung natürlich dann zugeschlagen."
Auch György Dalos konstatiert das moralische Versagen des Westens. Doch das hindert ihn nicht daran, die bis heute verbreitete Gefühlslage vieler Ungarn kritisch zu betrachten:
"Der Westen hat Ungarn sicher im Stich gelassen, und die USA haben jahrelang die Ideologie der Befreiung gepredigt. Aber direkte Versprechungen hat niemand gemacht, und ich komme zu dem Schluss, zu dem traurigen Schluss in meinem Buch, dass wir Ungarn als Traumtänzer von Europa, wir wollten eigentlich betrogen werden. Ich glaube, niemand konnte, der ein bisschen politisch dachte, ernst meinen, dass die USA unseretwegen eine Atomkatastrophe, einen nuklearen Krieg mit der damals sehr starken Sowjetunion riskiert. Die andere Sache ist natürlich, dass ein etwas massiverer Druck aus dem Westen vielleicht den Terror hätte etwas bremsen können."
In solchen Aussagen, die unbedingt aktuellen Wert haben, liegen die Stärken der Arbeiten von Lendvai und Dalos. Wie sie die Revolution, die dort handelnden Figuren und deren Nachgeschichte beschreiben, mit der Empathie von Zeitzeugen, zugleich jedoch mit großer Illusionslosigkeit - all dies macht die Bücher der Beiden überaus lesenswert. Lendvai entwirft das Bild einer Revolution voller widersprüchlicher, zaudernder Helden. György Dalos wiederum schreibt über 1956 und seine Folgen mit der ihm eigenen leisen, ironischen Melancholie. Und so gibt sich auch seine Diagnose angesichts der jetzt in Ungarn bevorstehenden großen Feiern zum 50. Jahrestag der Revolution:
"Viele Ungarn brauchen noch heute dieses Trostpflaster, die Bewunderung der Welt. Nur, ich bin der Meinung, dass wir inzwischen doch eine erwachsene Gesellschaft sind, und wir wissen, dass uns die Welt eigentlich nicht unbedingt bewundern muss, sondern vielleicht nur respektieren."
Keno Verseck besprach: György Dalos: "1956 - Der Aufstand in Ungarn." Erschienen im Verlag C.H. Beck, München, 247 Seiten - für 19 Euro 40 - sowie: Paul Lendvai: "Der Ungarnaufstand 1956. Eine Revolution und ihre Folgen." Verlag C. Bertelsmann, München, 320 Seiten - zum Preis von 22 Euro 95
Außerdem der Hinweis auf Imre Kertész und sein abgeklärt-skeptischer Blick auf sein Heimatland Ungarn. Ein nachdenkliches, ein scharfsinniges, das Verhalten seiner Landsleute dabei keineswegs mitleidlos sezierendes Buch - aber die der Psychologie geschuldeten Schwachstellen der ungarischen neuen Geschichte benennt Kertész unmissverständlich. Kurz: Sehr zu empfehlen. - "Dossier K. Eine Ermittlung", erschienen im Rowohlt Verlag, Reinbek - 240 Seiten für 19 Euro 90.
"Heute früh morgen haben die sowjetischen Truppen die ungarische Hauptstadt angegriffen mit dem offensichtlichen Zwecke, die gesetzliche Regierung Ungarns zu stürzen. Unsere Truppen stehen im Kampfe."
Die sowjetische Führung lässt den ungarischen Volksaufstand brutal niederschlagen - Dreizehn Tage zuvor, am 23. Oktober, hatte er begonnen. Die Ungarn hatten ihre stalinistischen Machthaber in wenigen Tagen buchstäblich hinweggefegt - spontan, schlecht bewaffnet, ohne Führung, aber vereint.
Nach dem Einmarsch der Roten Armee kam die grausame Rache. Hunderte Menschen wurden hingerichtet, 20.000 kamen ins Gefängnis. Fast 200.000 Ungarn emigrierten in den Westen.
Pünktlich zum 50. Jahrestag der Revolution haben nun zwei prominente Ungarn - Zeitzeugen zumal - Neuerscheinungen zum Thema vorgelegt und damit einen langjährigen Mangel behoben.
Von dem ungarisch-österreichischen Historiker und Publizisten Paul Lendvai stammt das Buch "Der Ungarnaufstand 1956. Eine Revolution und ihre Folgen". Und der ungarische Schriftsteller György Dalos hat unter dem Titel "1956. Der Aufstand in Ungarn" eine kleine Geschichte der Ereignisse verfasst, die sich speziell an deutsche Leser richtet. Die beiden Bücher sind alles andere als nüchterne Monographien, die anlässlich eines runden Jahrestages pflichtgemäß oder konjunkturbewusst eine Marktlücke füllen sollen. Sie folgen vielmehr einem Trend in der Historiographie, wie ihn Orlando Figes mit seinem grandiosen, monumentalen Buch über die russische Revolution mitgeprägt hat.
Lendvai und mehr noch Dalos erzählen Geschichte in bester publizistischer, zum Teil literarischer Qualität. Sie verbinden die sachliche Darstellung des Revolutionsverlaufs mit aktuellen politischen Bewertungen, aber auch mit vielen persönlichen Bekenntnissen. Paul Lendvai erlebte den Aufstand als junger Mann von 27 Jahren. Noch kurz zuvor war er glühender Kommunist gewesen, dann im Zuge der stalinistischen Parteisäuberungen verhaftet und interniert worden. Erst kurz vor dem Aufstand durfte er überhaupt wieder als Journalist arbeiten, 1957 emigrierte er nach Österreich, wo er seitdem lebt. Heute sieht Lendvai den Aufstand als einen der entscheidenden Meilensteine eines jahrzehntelangen Weges, an dessen Ende 1989 die kommunistischen Diktaturen in Osteuropa zusammenbrachen. Lendvai spricht in seinem Buch rückblickend von einem "Sieg in der Niederlage":
"Die 56er Revolution, dieser Aufstand zeigt auch, wie schnell eine autoritäre Struktur, denken Sie nur an Hussein, eine andere Situation, aber immerhin, wie schnell alles zusammenbrechen kann, und was für eine unglaubliche Kraft der menschliche Geist, der Freiheitsdrang der Menschen, entfalten kann, und in dieser Hinsicht, wenn Sie denken an Weißrussland, wenn Sie denken an Nordkorea, ja, wenn Sie denken an Russland oder China, sehen Sie, dass noch sehr viel zu tun ist, und die Lehren dieser Revolution sollte man nicht vergessen."
Anders als Lendvai wuchs György Dalos, der 1956 ein dreizehnjähriger Junge war, im so genannten Kádárschen "Gulaschkommunismus" heran, einer Ordnung, in der geschwiegen und fröhlich konsumiert wurde, benannt nach Janos Kádár, dem ungarischen Liquidator der 56er Erhebung, dem politisch Mitverantwortlichen am Galgen-Tod von Imre Nagy und kommunistischer Parteichef in Ungarn bis kurz vor der Wende 1989. Seine Sicht auf die Ereignisse ein halbes Jahrhundert danach, fasst Dalos so zusammen:
"Die moderne ungarische Gesellschaft ist eigentlich 1956 geboren worden. Ich beschreibe diesen Prozess, wo die zwei großen Erfahrungen aufeinander treffen, die Erfahrung der Partei, dass sie ohne die Rote Armee in drei Tagen gestürzt werden kann, und die Erfahrung der Bevölkerung, dass man das Regime stürzen kann, aber dann kommt die Sowjetarmee. Aus dieser gemeinsamen Erfahrung entstand so etwas wie eine Zwangsehe zwischen dem Regime und der Gesellschaft. Wenn wir heute Schwierigkeiten haben in unserer Demokratie, das ist nicht einmal wegen der Illusionen in Bezug auf die Ära Kádár, sondern weil die Mentalität der ungarischen Gesellschaft von diesem ewigen grinsenden Kompromisslertum sehr stark beeinflusst wurde."
Ungarn nach dem sowjetischen Einmarsch am 4. November 1956. Über Kurzwelle senden Aufständische verzweifelte Hilferufe in die Welt hinaus, an die USA, die UNO. Der Westen hört die Hilferufe - und: überhört sie. Für Paul Lendvai war es, wie er noch immer mit spürbarer Empörung sagt, eine "Bankrotterklärung der amerikanischen Befreiungskonzeption":
"Es geht nicht darum, dass die Amerikaner hätten mit der Atombombe drohen sollen, sondern es geht darum, dass sie sich wie uninteressierte, gleichgültige Zuschauer benommen haben, als ob sie einen Film gesehen haben. Sie haben auch während der Revolution nichts getan, im Gegenteil. Sie haben den Russen, den Sowjets, damals mitteilen lassen, dass sie nicht interessiert sind an der Unabhängigkeit dieser Staaten. Und mit dieser Versicherung hat eine zuerst gespaltene sowjetische Führung natürlich dann zugeschlagen."
Auch György Dalos konstatiert das moralische Versagen des Westens. Doch das hindert ihn nicht daran, die bis heute verbreitete Gefühlslage vieler Ungarn kritisch zu betrachten:
"Der Westen hat Ungarn sicher im Stich gelassen, und die USA haben jahrelang die Ideologie der Befreiung gepredigt. Aber direkte Versprechungen hat niemand gemacht, und ich komme zu dem Schluss, zu dem traurigen Schluss in meinem Buch, dass wir Ungarn als Traumtänzer von Europa, wir wollten eigentlich betrogen werden. Ich glaube, niemand konnte, der ein bisschen politisch dachte, ernst meinen, dass die USA unseretwegen eine Atomkatastrophe, einen nuklearen Krieg mit der damals sehr starken Sowjetunion riskiert. Die andere Sache ist natürlich, dass ein etwas massiverer Druck aus dem Westen vielleicht den Terror hätte etwas bremsen können."
In solchen Aussagen, die unbedingt aktuellen Wert haben, liegen die Stärken der Arbeiten von Lendvai und Dalos. Wie sie die Revolution, die dort handelnden Figuren und deren Nachgeschichte beschreiben, mit der Empathie von Zeitzeugen, zugleich jedoch mit großer Illusionslosigkeit - all dies macht die Bücher der Beiden überaus lesenswert. Lendvai entwirft das Bild einer Revolution voller widersprüchlicher, zaudernder Helden. György Dalos wiederum schreibt über 1956 und seine Folgen mit der ihm eigenen leisen, ironischen Melancholie. Und so gibt sich auch seine Diagnose angesichts der jetzt in Ungarn bevorstehenden großen Feiern zum 50. Jahrestag der Revolution:
"Viele Ungarn brauchen noch heute dieses Trostpflaster, die Bewunderung der Welt. Nur, ich bin der Meinung, dass wir inzwischen doch eine erwachsene Gesellschaft sind, und wir wissen, dass uns die Welt eigentlich nicht unbedingt bewundern muss, sondern vielleicht nur respektieren."
Keno Verseck besprach: György Dalos: "1956 - Der Aufstand in Ungarn." Erschienen im Verlag C.H. Beck, München, 247 Seiten - für 19 Euro 40 - sowie: Paul Lendvai: "Der Ungarnaufstand 1956. Eine Revolution und ihre Folgen." Verlag C. Bertelsmann, München, 320 Seiten - zum Preis von 22 Euro 95
Außerdem der Hinweis auf Imre Kertész und sein abgeklärt-skeptischer Blick auf sein Heimatland Ungarn. Ein nachdenkliches, ein scharfsinniges, das Verhalten seiner Landsleute dabei keineswegs mitleidlos sezierendes Buch - aber die der Psychologie geschuldeten Schwachstellen der ungarischen neuen Geschichte benennt Kertész unmissverständlich. Kurz: Sehr zu empfehlen. - "Dossier K. Eine Ermittlung", erschienen im Rowohlt Verlag, Reinbek - 240 Seiten für 19 Euro 90.